Was in den Abendstunden dieses Samstags in der Innenstadt geschieht, wird nie vollständig aufgeklärt werden. Es ist der 8. März 2008. Ein Handyvideo zeigt, wie eine Gruppe junger Männer – die meisten mit Migrationshintergrund – versucht, in die Diskothek „Schauhaus“ einzudringen. Der Tanzschuppen befindet sich im Parterre des Schauspielhauses, direkt am Dittrichring. Die Angreifer werfen mit Pflastersteinen auf die Glasfront. Unter ihnen ein junger Mann, von dem noch die Rede sein wird: Sooren O.
Die Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes sind in dieser Nacht mit der kritischen Situation überfordert. Es kommt vor und im Schauhaus zu handfesten Rangeleien. Türsteher Marko Z. wird durch einen Messerstich ins Herz lebensbedrohlich verletzt. Die Ärzte retten ihm in einer Notoperation das Leben.
Erst Jahre später wird das Landgericht feststellen, dass sich die Wachleute nicht strafbar gemacht haben, als sie das Schauhaus verteidigten. Die Polizei ist zwar mit einer Streife vor Ort, doch die Beamten schauen nur zu, greifen aber nicht ein. Sie sind in der Unterzahl und technisch schlecht ausgerüstet.
Schließlich lassen die Randalierer vom „Schauhaus“ ab, wechseln die Straßenseite und ziehen weiter in Richtung Barfußgässchen. In dem Kneipenviertel westlich des Marktplatzes wiederholt sich das Spiel. 120 Angreifer versuchen, in Bars und Diskotheken einzudringen. Mit Straßenschildern zertrümmern sie Fensterscheiben. Gäste fürchten um ihr Leben. Schüsse fallen. Andreas K. (28), ein unbeteiligter Partygänger, stirbt.
Der Schütze ist bis heute nicht gefasst. Später stellt sich heraus, dass in jener Nacht gerade einmal 60 Polizisten verfügbar waren. Viele davon waren für einen Krawalleinsatz schlecht ausgerüstet. Bereitschaftspolizisten waren nicht verfügbar. Was heute unvorstellbar erscheint, war damals bittere Realität.
Es war nicht der erste Vorfall dieser Art. In den Wochen und Monaten zuvor lieferten sich junge Männer mit Migrationshintergrund an den Wochenenden mit Türstehern Scharmützel an den Diskotüren. Die Migranten, so erzählt man sich, machten im lukrativen Drogenbusiness zunehmend Ansprüche geltend. Wer die Tür kontrolliert, entscheidet, wer drinnen mit verbotenen Substanzen dealt.
In den Medien ist schnell von einem „Diskokrieg“ die Rede: migrantische Gewalttäter um ihren armenischen Anführer Artur T. (damals 24) auf der einen, deutschtümelnde Türsteher mit besten Verbindungen ins Neonazimilieu und zu Berliner Hells Angels auf der anderen Seite.
Ursache für die Konflikte, die an jenem 8. März ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, sollen Gebietsstreitigkeiten gewesen sein. Statt nach den tödlich endenden Randalen entschlossen durchzugreifen, zaudert der Staat und setzt damit eine unheilvolle Kette von Ereignissen in Gang, die acht Jahre später in den tödlichen Schüssen auf der Eisenbahnstraße enden wird.
Die Hells Angels waren zu dieser Zeit noch nicht in Leipzig mit einem eigenen Charter – so heißen ihre eigenständigen „Ortsvereine“ – vertreten. Bekannt ist, dass einer der Türsteher, die das Schauhaus verteidigten, ein „Prospect“ – also ein Anwärter – des berüchtigten Berliner „Nomads“-Charter um den prominenten Rockerboss André Sommer gewesen sein soll. Außerdem existierte in der Messestadt ein Ableger der Red Devils, ein Unterstützerclub der Hells Angels. Präsenz zeigten die „Engel“ zudem bei jährlichen Tattoomessen.
Auf dem Weg zum richtigen Club
Im Sommer 2008 machen die Rocker Nägel mit Köpfen. In Leipzig entsteht ein eigenständiges Charter. Dazu bedarf es nach den clubinternen Regeln mindestens sieben Mitglieder. Präsident wird Bordellbesitzer Maik R.. Weitere Gründungsmitglieder sind Ferenc B., Lars R. und Christian K.. Marcus M. stößt zeitnah hinzu und wird Vizepräsident.
Unterstützung kommt einerseits von den Red Devils, andererseits von befreundeten Chartern aus der Hauptstadt, aus Cottbus und aus Offenbach. Laut einem Szenekundigen Beamten war einer der späteren Mörder, Frank M., vor seinem Wechsel nach Leipzig schon Mitglied der Berliner „Nomads“.
Seit ihrer Gründung hatten die Leipziger Verbindungen ins Rotlichtmilieu. Maik R. brachte die Tabledancebar „Angels“ und das „Laufhaus“, ein Bordell, in den Club ein. Letzteres wurde 2011 in die Wasserturm GmbH übergeleitet, deren Geschäftsführer Marcus M. im Juni 2016 gewesen ist. Maik R. hatte den Club zu diesem Zeitpunkt längst verlassen.
Für jedermann sichtbar wird die Macht der Rocker in Leipzig zum ersten Mal im September 2008. Über Stunden besetzten über 100 Hells Angels die Gottschedstraße – ein Kneipenviertel nahe der Innenstadt – und regelten den Verkehr. Die Polizei hielt sich zurück. Schon wieder.
Kurz zuvor hatten die Bandidos in Leipzig ein Chapter gegründet, zu dessen Sympathisanten besagter Sooren O. gehörte. Die Machtdemonstration galt offensichtlich der rivalisierenden Bikergang. „Mir ist ganz schlecht geworden“, sagte eine verängstigte Besucherin des Centraltheaters damals dem MDR.
Der blutige Rockerkrieg, den viele Beobachter befürchtet hatten, blieb jedoch aus. Die Hells Angels erhielten nach einjähriger Probezeit das volle Colour. Die Bandidos lösten sich nach einigen Scharmützeln mit ihren Rivalen 2010 wieder auf. Als wahrscheinlich gilt, dass Sachsen hinter den Kulissen in den Angels-Farben „rot-weiß“ eingefärbt wurde.
Motorrad fahren, Sport treiben, Partys feiern
So charakterisierte Ex-Rocker Jens K. bei Gericht die Aktivitäten der Leipziger Hells Angels. Die Entscheidung zur Clubgründung fiel 2008, weil man gern zusammen Motorrad gefahren sei. Zweifelsohne eine fragwürdige Selbsteinschätzung.
Die Hells Angels gründeten sich 1947 in den USA. In Westdeutschland entstand das erste Charter 1973 in Hamburg. Derzeit zählen die deutschen Gruppen rund 1.500 Mitglieder. Staatliche Institutionen und Normen werden nicht anerkannt. Es gilt der interne Ehrenkodex. Keine Kooperation mit der Polizei, kein Ausplaudern von Clubinterna.
Zur Koordination von Veranstaltungen beriefen die „Höllenengel“ einen Runden Tisch ein, an dessen langem Ende sie selbst saßen. Alle Absprachen hatten fortan über die Hells Angels zu laufen. Die übrigen Leipziger Clubs fügten sich den Neuen. Aus Respekt. Oder – vielmehr – aus Angst?
Die „White Lions“, eine Streetgang aus dem migrantischem Milieu, wagte gar nicht erst, zu den Bikern in Konkurrenz zu treten. Der „Deadhead“, ein geflügelter Totenschädel, bewirkt in dieser Hinsicht wahre Wunder. Aus abgehörten Telefonaten erfuhren die Ermittler sogar, dass White-Lions-Anführer Afif M. mit Rockerboss Marcus M. freundschaftlich verbandelt war.
Ein Hells Angel weiß eine Armada gewaltaffiner Gangster hinter sich, mit denen sich niemand gerne anlegt. Wird ein „Bruder“ angegriffen, kann er sich auf die Solidarität der Gruppe verlassen. Es sind diese sozialen Mechanismen, die die Mitgliedschaft in einer der großen Rockerbanden für Männer attraktiv macht, die ihr Geld in der Halb- und Unterwelt verdienen möchten und es dabei mit dem deutschen Strafrecht nicht so genau nehmen.
Das Label „Hells Angels“ kann in diesen stürmischen Gefilden für ruhige Fahrwasser sorgen. Gleiches gilt für das Branding „Bandidos“. In diesem Lichte erklärt sich, warum die beiden gefährlichsten Rockerclubs in Deutschland ihre Dependancen in der Messestadt inmitten des „Discokriegs“ eröffneten.
Nach außen hin versuchten die Rocker, das Bild eines friedliebenden, sozial engagierten Freizeitvereins zu vermitteln. Dass ausgerechnet die Hells Angels Spenden für ein Kinderhospiz sammelten, mutet auf dem ersten Blick skurril an. Durch soziale Aktionen wie diese versuchen die Rocker gezielt, das durch Medien und Behörden vermittelte Bild einer kriminellen Organisation zu konterkarieren und Akzeptanz in breiteren Bevölkerungsschichten zu gewinnen.
Die Gruppe orientierte sich an traditionellen Rockerwerten. Mitglied konnten nur weiße Männer ohne Migrationshintergrund werden. Der Monatsbeitrag lag laut Jens K. bei etwa 100 Euro. Wie es sich für einen Platzhirsch gehört, gönnten sich die Hells Angels ein repräsentatives Clubhaus.
Der „Angels Place“ in der Dessauer Straße umfasste einen Freisitz, Carports, Unterkünfte und Räumlichkeiten zur Bewirtung einer Vielzahl von Gästen. Blickfang im langgezogenen Hauptraum war ein wuchtiger, gemauerter Kamin in Gestalt eines Totenkopfes.
Die Polizei arrangierte sich schnell mit den Gegebenheiten. Szenekundige Beamte führten Strukturermittlungen durch und suchten vor geplanten Rocker-Events das kooperative Gespräch. Die Hells Angels wiederum hielten sich tunlichst an die getroffenen Absprachen mit den Ordnungshütern.
Jährlich stattfindende Partys zur Saisoneröffnung, die Beachparty und die Nikolausfeier verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Die Situation in der Szene sei „ein Geben und Nehmen“ gewesen, berichtete ein langjähriger Kriminalist dem Landgericht. Die Polizei ordnete die Rockerclubs der Organisierten Kriminalität zu.
Dass die Leipziger Hells Angels von 2008 bis zum 24. Juni 2016 in schwere Straftaten verwickelt waren, ist nicht erwiesen. Jedoch besaßen ihre Mitglieder am 25. Juni 2016 zwei scharfe Pistolen. Wozu beschafft sich ein Motorradclub Schusswaffen samt Munition, der bloß harmlosen Freizeitaktivitäten nachgeht?
Erstmals Konkurrenz
Probleme bahnten sich an, als zwei Männer die Hegemonie der „Höllenengel“ infrage stellten. Spätestens ab April 2016 bekamen die Hells Angels überraschend Konkurrenz. Sooren O. und Ramazan A. bereiteten in Leipzig die Gründung eines Chapters der United Tribuns vor.
Bei den Tribuns handelt es sich um eine rockerähnliche Streetgang. Ihre Wurzeln liegen im süddeutschen Raum. Im Jahr 2004 gründete der ehemalige bosnische Boxer Almir Ć., genannt „Boki“, in Villingen-Schwenningen das erste Chapter (hier mehr zur Entstehung der UT auf L-IZ.de). Weltweit soll die stark migrantisch geprägte Organisation laut bayerischem Landesamt für Verfassungsschutz um die 1.700 Mitglieder zählen.
In Leipzig machten die Tribuns den Hells Angels vom ersten Tag ihres Bestehens an direkte Konkurrenz. Sie gaben sich provokant den Namenszusatz „MC“. Die Abkürzung steht für „Motorcycle Club“. Sie posierten – wie einst die Hells Angels – in Kutten vor dem Völkerschlachtdenkmal.
Sooren O. und Ramazan A. nahmen demonstrativ auf schweren Maschinen Platz. Die Motorräder waren Leihgaben. Beide Männer besaßen weder Bikes noch einen Motorrad-Führerschein. Ein Affront gegenüber den rot-weißen Rockern. Ohne Lizenz und eigene Harley ist eine Mitgliedschaft bei den Hells Angels ausgeschlossen.
Auch das Clubhaus in der Konstantinstraße war bei weitem nicht so prätentiös wie der „Angels Place“. „Eine Absteige“, erinnerte sich ein Kriminalbeamter.
In den Monaten nach der Clubgründung entwickelten die Tribuns ein reges Vereinsleben. Die interne Kommunikation erfolgte – sehr zur Freude der späteren Ermittler – über eine WhatsApp-Gruppe. Es fanden regelmäßige Treffen statt, gemeinsame Grillfeste und Veranstaltungen, mit denen die Unterstützer („Supporter“) bei der Stange gehalten werden sollten.
Bei einem Treffen mit einem Szenekundigen Beamten formulierten Sooren O. und Ramazan A. das Ziel ihres Clubs folgendermaßen: „Wir wollen Kinder von der Straße holen.“ Auf die Frage, ob die Gründung mit den Hells Angels abgestimmt sei, erwiderten die Tribuns, man müsse sich mit niemandem abstimmen.
„Ich muss niemanden um Erlaubnis fragen, wenn ich einen Rockerclub in Leipzig gründen möchte“, wütete Sooren O. vor den verdutzten Polizisten. Diese suchten daraufhin Marcus M. im „Angels Place“ auf, um ihm die Neuigkeit zu verkünden. Der Hells-Angels-Präsident reagierte verärgert und verwies die Beamten des Hauses.
Die Ordnungshüter wussten spätestens jetzt um die Brisanz der Situation.
„Tödliche Schüsse: Aufstieg und Fall der Leipziger Hells Angels“ erschien erstmals am 29. Januar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 87 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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