Die Leipziger Stadtverwaltung erlebte ja im Dezember eine regelrechte Kehrtwende, als sie auf Druck des Stadtrates ihre Haltung zum Falschparken in Leipzig revidieren musste und der Beschluss des Stadtrates zum Abschleppen StVO-widrig geparkter Fahrzeuge nicht aufgehoben wurde, sondern der OBM aufgefordert wurde, Widerspruch gegen den Bescheid der Landesdirektion einzulegen. Denn so eindeutig wie vom Ordnungsbürgermeister dargestellt, ist die Sachlage nicht.

Auch wenn das in der Stellungnahme des Ordnungsdezernates im Mai so klang. Denn dort wurde die Rechtsposition formuliert, aus der das Leipziger Ordnungsamt seinen Handlungsrahmen definiert.

„Die mit dem Antrag begehrte ,Regelentscheidung‘ stellt einen Eingriff in den Aufgabenbereich der Verwaltung dar. Denn der Antrag: ,Für eine Freihaltung der genannten Stellen ist bevorzugt das Abschleppen der Fahrzeuge, als angemessene Maßnahme, zu wählen.‘ ist nicht zulässig“, hieß es dort.

Und das Ordnungsamt verwies dazu auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Hamburg vom 8. Juni 2011 (Az: 5 Bf 124/08), aus dem es zitiert: „Ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls sicher, dass der Fahrer eines verkehrsordnungswidrig abgestellten Fahrzeugs in Kürze die Störung/Behinderung selbst beseitigen wird, so ist eine Abschleppanordnung in der Regel nicht verhältnismäßig, da durch das Abschleppen des Fahrzeugs die Störung/Behinderung erkennbar, allenfalls um einige Minuten verkürzt werden könnte. Dies gilt selbst dann, wenn sich der Störer vorsätzlich über eine ihm gegenüber mündlich ergangene Anordnung hinwegsetzt. Eine Abschleppanordnung darf nicht aus Gründen der General- oder Spezialprävention getroffen werden.“

Was natürlich, wenn man es so auslegt wie das Leipziger Ordnungsamt, dazu führt, dass nur in den seltensten Fällen abgeschleppt wird, auch dann, wenn das Auto tatsächlich verkehrsbehindernd geparkt ist. Und das unter der Annahme, dass der Fahrer doch gleich auftauchen müsste, um sein falschgeparktes Auto zu entfernen.

Man merkt schon, wie das in reines Rätselraten abdriftet, denn die kontrollierenden Polizisten oder Politessen sind eigentlich dafür verantwortlich, die verkehrsbehindernd geparkten Fahrzeuge zu entfernen und damit auch eine Verkehrsgefährdung zu beseitigen. Das ist ihre Pflicht. Natürlich ist es möglich, dass der Fahrer des Autos schnell gefunden werden kann. Aber wie soll das funktionieren? Wo und wie lange sollen die Politessen eigentlich nach ihm suchen und damit die Verkehrsstörung dulden?

Eine Frage, die auch Bürgermeister Heiko Rosenthal nicht beantworten kann. Darüber ging auch die Stellungnahme aus dem Ordnungsamt hinweg. Dort hieß es nur: „Kann ein verantwortlicher Fahrzeugführer vor Ort nicht festgestellt und zum Wegfahren veranlasst werden, erfolgt durch das Ordnungsamt der Auftrag zur Durchführung einer Abschleppmaßnahme an ein vertraglich gebundenes Abschleppunternehmen.“

In dieser Aussage versteckt sich die ganze Einzelfallentscheidung, auf der das Ordnungsamt so beharrt. Und zum Beispiel bei zugeparkten Radwegen lange Zeit beharrt hat, bis es dort dem Druck nachgab und abschleppen ließ. Was sich sehr schnell unter den Nur-mal-so-Parkern herumsprach. Das Problem der zugeparkten Radwege ist deutlich kleiner geworden.

Das heißt: In den Maßnahmen des Ordnungsamtes steckt auch so eine „General- oder Spezialprävention“ – oder eben das Gegenteil, wenn Autofahrer merken, dass das Abstellen im Halteverbot eben nicht geahndet wird. Jedenfalls nicht mit dem wirklich wirksamen Mittel des Abschleppens.

Worauf schon ein juristischer Kommentar zu einem Urteil aus Berlin im Jahr 2002 eingeht, veröffentlicht in „Neue Justiz“ 11/2002 auf Seite 612.

Da hatte ein Handwerker sein Servicefahrzeug einfach – weil der Auftrag eilig war – im Halteverbot abgestellt, aber seine Handynummer hinterlassen. Die Polizei ließ aber trotzdem abschleppen. Denn: „Die Erforderlichkeit der Abschleppmaßnahme war aus polizeilicher Sicht ebenfalls anzunehmen und auch ex post gegeben. Es bestand kein milderes Mittel zur effektiven Störungsbeseitigung, da, was das Gericht in seiner Begründung leider unbeachtet ließ, mit dem Parkverstoß bereits konkrete Behinderungen des fließenden Fahrzeugverkehrs einhergingen. Damit lag aber eine doppelte Störung vor, die zum einen aus dem abstrakten Ordnungsverstoß und zum anderen aus mehrfachen konkreten Behinderungen anderer Verkehrsteilnehmer gem. § 1Abs. 2 StVO bestand.“

Das Halteverbot ist ja dort nicht ohne Grund angewiesen: Jedes Fahrzeug, das dort parkt, gefährdet den Verkehr.

Und in diesem Fall waren die kontrollierenden Polizisten auch nicht verpflichtet, die angegebene Handynummer anzurufen, um eventuell zu erfahren, warum das Auto dort stand. Der Kommentar dazu lautet: „Das BVerwG hält nämlich aus Sicht des anordnenden Beamten nur diejenigen Nachforschungsversuche für nicht notwendig, deren Erfolgsaussichten ungewiss sind. Im zulässigen Umkehrschluss darf also aus Gründen der Verhältnismäßigkeit dann keine zeitige Abschleppanordnung erfolgen, wenn konkrete Erfolgsaussichten für eine erfolgreiche Nachforschung nach dem Aufenthaltsort des Fahrers des verbotswidrig geparkten Fahrzeugs bestehen.“

Heißt: Der Fahrer des falsch abgestellten Fahrzeuges muss letztlich in direkter Nähe zum Abstellort schnell gefunden werden. Ohne große Telefonate – wozu in diesem Fall noch kam, dass der Handwerksbetrieb außerhalb Berlins lag.

Und da ist man bei der Frage: Wie können die kontrollierenden Beamten eigentlich den Halter des Fahrzeugs schnell finden?

Die Praxis macht so eine Suche eigentlich fast unmöglich. Es sei denn, die Politessen stellen sich mit Lautsprecher auf die Straße. Was dann schon eine sehr seltsame Art der Umsetzung der StVO wäre.

Auch das Bundesverwaltungsgericht ging in einer Entscheidung von 2002 davon aus, dass die Ordnungsbehörden nicht verpflichtet sein können, bei derartigen Parkverstößen immer erst auf die Suche nach dem Fahrzeughalter zu gehen.

„Im Übrigen kann – wie gesagt – nicht zweifelhaft sein und bedarf nicht erst eines in einem Revisionsverfahren gewonnenen Erkenntnisses, dass eine rechtmäßige Abschlepppraxis in zulässiger Weise auch spezial- und generalpräventive Zwecke verfolgen darf; soweit zuständige Behörden die Erfahrung gemacht haben sollten oder zukünftig machen, dass Verkehrsteilnehmer zunehmend dazu übergehen, mit Hilfe von entsprechenden Angaben unter Inkaufnahme von Bußgeldern, aber in Erwartung eines hieraus folgenden ,Abschlepp-Schutzes‘ Verkehrsverstöße zu begehen, die andere Verkehrsteilnehmer behindern (hierbei ist das vermehrt zu beobachtende ,Parken in zweiter Reihe‘ hervorzuheben, welches nicht nur – für gewöhnlich – andere Verkehrsteilnehmer ,zuparkt‘, sondern regelmäßig auch durch Fahrbahnverengungen zu zumindest lästigen und oft gefährlichen Behinderungen des fließenden Verkehrs führt), stünde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Abschlepppraxis, die solche Missstände zurückzudrängen sucht, nicht entgegen.“

Das heißt: Wenn ein Ordnungsamt die Parkverstöße systematisch ahndet und auch ebenso systematisch abschleppen lässt, wo sich Fehlverhalten als Gewohnheitsrecht durchzusetzen beginnt, geht die Zahl solcher Parkverstöße ziemlich sicher zurück. Die Fahrzeughalter rechnen dann nicht mehr mit Duldung ihres Fehlverhaltens, sondern eher damit, dass sie ihr geliebtes Schoßtierchen vom Abschleppplatz am Stadtrand abholen müssen.

Genau das, worauf der Freibeuter-Antrag ursprünglich auch abzielte.

Und irgendwie geht der Paragraphenstreit intern immer weiter, wie eine neue Anfrage der Freibeuter-Fraktion vom 8. Januar jetzt zeigt. Darin heißt es: „Am 16. September 2020 trug Bürgermeister Rosenthal in der Diskussion zum Antrag ,Abschleppen von verkehrsbehindernd parkenden Kraftfahrzeugen‘ (VII-A-00898) vor: ,Sie wissen, dass wir ein Gutachten beauftragt haben, wo wir das genau analysiert haben. Wir haben einen Rechtsexperten, Professor Müller, gebeten, einmal mitzuteilen, was wir rechtlich denn dürfen. Das Gutachten ist fertig.‘

Dieses Gutachten wurde ausschließlich im Fachausschuss Umwelt, Klima und Ordnung behandelt, einem nichtöffentlichen Gremium.

Unsere Frage dazu lautet:

Wann wird das Gutachten öffentlich zugänglich gemacht?

Sollte die Öffentlichkeit nicht beabsichtigt sein, warum wird es nicht veröffentlicht?“

Vielleicht ja, weil es die eigenwillige Sicht des Leipziger Ordnungsamtes nicht bestätigt. Was man natürlich nur vermuten kann, solange es nicht veröffentlicht wird.

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