Was war das für eine stille Hoffnung 2007, als in Leipzig die erste „Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt“ unterzeichnet wurde und sich auch OBM Burkhard Jung euphorisch gab, was für eine schöne Arbeitsgrundlage das nun werden könnte für wirklich zukunftsfähige Städte in Europa. Am Montag, 30. November, haben nun die EU-Minister für Stadtentwicklung und Raumordnung auf einem informellen Treffen im Zuge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die „Neue Leipzig Charta“ unterzeichnet.

Sie formuliert – so formuliert es die Kommunikationsabteilung der Stadt Leipzig – „ambitionierte Leitlinien für integrierte Stadtentwicklungspolitik europäischer Städte – und schreibt das im Jahr 2007 in Leipzig unterzeichnete Papier ,Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt‘ unmittelbar fort.“

Oberbürgermeister Burkhard Jung war zu dem Treffen digital zugeschaltet und begrüßte die Weiterentwicklung: „Als namengebende Stadt hat die ‚Leipzig Charta‘ von 2007, aber auch die ‚Neue Leipzig Charta‘ eine besondere Bedeutung für uns. Die Charta von 2007 diente nicht nur als Handlungsleitfaden für die Städte Europas, sondern verankerte die Prinzipien einer integrierten, kooperativen und nachhaltigen Stadtentwicklung auch auf europäischer und den nationalen Ebenen der Mitgliedsstaaten.“

Die Leipzig Charta wurde 2017 evaluiert und unter Federführung des Bundesministeriums für Inneres, Bau und Heimat überarbeitet – in einem Dialog mit deutschen und europäischen Partnern. Ausgerechnet das Heimatministerium?

Ja, leider.

„Auch die Stadt Leipzig brachte sich in den Prozess mit ihren Erfahrungen integrierter Stadtentwicklung ein“, betont Leipzigs Kommunikationsabteilung: „Als Kernprinzipien verantwortungsbewusster Entwicklung hin zu einer grünen, gerechten und produktiven Stadt nennt die ,Neue Leipzig Charta‘ etwa Gemeinwohlorientierung, integriertes Arbeiten und Handeln, Beteiligung verschiedener Interessensgruppen sowie ortsbezogene Lösungsansätze – also beispielsweise auf Quartiers- oder regionaler Ebene.“

Aber es steht auch der Satz drin, der seit 2007 schon fast alles ausgebremst hat, was Städten ermöglicht hätte, den Weg der „Leipzig Charta“ wirklich zu gehen: „Cities need the full support of all governmental levels and all key actors, both governmental and non-governmental.“

Die „volle Unterstützung“ etwa aus Berlin und dem ach so feierfreudigen Heimatministerium gab es nie. Deswegen sieht die Verkehrspolitik so hinterwäldlerisch aus wie 2006, von der Wohnungspolitik ganz zu schweigen. Was auch mit den „non-governmental key actors“ zu tun hat, die in den Ministerien in Berlin und Brüssel so unbeschränkt ein und aus spazieren wie vor dreizehn Jahren und mit ihrem Einfluss auf die Gesetzgebung dafür sorgen, dass den Kommunen die Hände gebunden sind.

Aber Leipzigs Stadtverwaltung ist sich sicher: „Viele der Kernthemen der ,Neuen Leipzig Charta‘ sind bereits in den strategischen Zielen der Stadt Leipzig als Handlungsauftrag enthalten – insbesondere über das Integrierte Stadtentwicklungskonzept. Auch die Corona-Pandemie verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass sich städtisches Handeln am Gemeinwohl orientiert und dass krisensichere Stadtentwicklung auch bedeutet, eine gute Versorgung der Bevölkerung über hochwertige kommunale Infrastrukturen und Dienstleistungen sicherstellen zu können.“

Oberbürgermeister Burkhard Jung sagte am Montag: „Die Prinzipien einer integrierten, verantwortungsbewussten Stadtentwicklung sind und bleiben die wesentliche Grundlage, um eine langfristige, positive Entwicklung zu befördern.“

Die das Treffen der EU-Minister flankierende digitale Fachkonferenz „Neue Leipzig Charta“ der Nationalen Stadtentwicklungspolitik wird am heutigen 2. Dezember aus dem Studio in der Kongresshalle am Zoo übertragen.

www.leipzig.de/leipzig-charta

Was ist anders an der Neuen Leipzig Charta

Auf der Website der Stadt versucht die Verwaltung auch noch zu erklären, was eigentlich neu ist an der Neuen Leipzig Charta (voller Titel „New Leipzig Charta – The transformative power of cities for the common good“). Aber die Wortwahl zeigt schon, dass man in den vergangenen dreizehn Jahren durchaus erfahren hat, wie nationale und Landespolitik die Transformation der Städte auf allen Ebenen hemmen und hindern kann. Die Charta „räumt dem öffentlichen und gesellschaftlichen Handeln, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist, eine besondere Bedeutung ein“, liest man da.

Genau das, was der (Stadt-)Bürger zu lieben gelernt hat. Denn nach Jahrzehnten der Mühsal im Kleinklein weiß man, was es bedeutet, wenn politische Ebenen formulieren: „räumt eine besondere Bedeutung ein“. Das ist der Trostpreis für alles Bemühen auf unteren Ebenen: Die gnädige Wahrnehmung aus der Höhe eines Ministeriums, das nicht im Traum daran denkt, Städten mehr Kraft und Power zu geben, geschweige denn das Geld für den nachhaltigen Umbau.

Weshalb es überall in deutschen Städten klemmt seit 2007: beim Klimaschutz, in der Verkehrswende, in der Sozialpolitik, beim bezahlbaren Wohnungsbau, bei Barrierefreiheit, Inklusion und sozialer Sicherung.

„Die Neue Leipzig-Charta formuliert für die Städte drei inhaltliche Dimensionen ihres Handelns: die ,grüne Stadt‘, die ,gerechte Stadt‘ und die ,produktive Stadt‘“, formuliert es die Website der Stadt. Und beim Benennen der „Kernprinzipien“ wird noch deutlicher, wie Mühsal auf lokaler Ebene eigentlich zu definierten ist:

„Stadtentwicklung mit Gemeinwohlorientierung,
Integriertes Arbeiten und Handeln,
Beteiligung und Co-Creation,
Mehr-Ebenen-Kooperation und
adäquate ortsbezogene Betrachtungs- und Lösungsansätze (auf Quartiers-, gesamtstädtischer oder regionaler Ebene).“

Und trotzdem zeigt sich die Verwaltung euphorisch, dass man doch ganz gut dabei ist: „Auf städtischer Ebene werden zahlreiche europäische und nationale Ziele (zum Beispiel sozialer Zusammenhalt, Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel) tatsächlich umgesetzt. Städte sind sich dieser Verantwortung bewusst, benötigen jedoch angemessene Rahmenbedingungen, um dies auch langfristig tun zu können. Dies greift die neue Leipzig Charta auf und benennt, wie die Handlungskompetenzen der Kommunen gestärkt werden können. Das bedeutet unter anderem veränderte Gesetzgebungen, Förderungen sowie politische Unterstützung sowohl auf europäischer, nationaler und Landesebene.“

Ja, auch in Leipzig hat man gemerkt, wie viele Bremsklötzer den Städten von nationalen Ministerien in den Weg geschmissen werden.

Und nicht weglassen darf man, dass einige dieser Ziele erst angepackt wurden, als der Stadtrat die Sache selbst in die Hand nahm. Leipzigs Verwaltung war eindeutig nicht der Motor dieser Entwicklung – man denke an die Stadtratsbeschlüsse zum Kohleausstieg, zum Klimanotstand, zur Verkehrswende (Nachhaltigkeitskonzept im Verkehr), zur Stadtbegrünung, um nur einige zu nennen.

Was andererseits verständlich ist, denn die städtischen Ämter müssen all das meist in einem frustrierenden Zusammenspiel mit Landes- und Bundesbehörden umsetzen, die geistig noch im 20. Jahrhundert zu Hause sind und nicht mal daran denken, den Kommunen mehr Spielraum zu geben. Man denke nur an die sächsische Kommunalfinanzierung.

Da ist es ein sehr frommer Wunsch, wenn die Stadt Leipzig formuliert: „Städte sollten an Entscheidungsfindungsprozessen auf allen Ebenen beteiligt werden, um sich für günstige Rahmenbedingungen und Spielräume für das kommunale Handeln einsetzen zu können. Mit ihrem Engagement, zum Beispiel in den Gremien des Deutschen Städtetages oder über das europäische Städtenetzwerk EUROCITIES, versucht die Stadt Leipzig ihren Beitrag zu leisten.“

Der Deutsche Städtetag ist dafür ein sehr exemplarisches Beispiel, warum es in Deutschland nicht funktioniert. Er ist bestenfalls Bittsteller in den Vorstuben der Bundesministerien. Ernst genommen wird er dort nicht. Er hat kein Erpressungspotenzial wie die Manager der großen Konzerne und nicht einmal die Selbstständigkeit, die mittlerweile andere europäische Städte wie Paris, Barcelona oder Kopenhagen demonstrieren. Von der viel beschworenen Subsidiarität in Europa ganz zu schweigen.

So gesehen ist es natürlich sogar hilfreich, wenn der Leipziger Stadtrat immer wieder Druck macht und die Verwaltung auch gegen alle diese Widerstände zum Handeln verpflichtet. Auch das ein mühsames Geschäft. Die Ratsfraktionen können allesamt ein Lied davon singen, wie lange es braucht, die selbstverständlichsten Dinge für die Verwaltung zur Pflicht zu machen.

Da klingt es schon ein bisschen nach Konfirmandenunterricht, wenn die Stadt formuliert: „Natürlich gilt es, auf allen Ebenen die Leitlinien und Prinzipien jeden Tag wieder neu zu beleben, Handlungsweisen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln! Eine gute Gelegenheit hierfür wird für die Stadt Leipzig die Evaluierung des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes ,Leipzig 2030‘ ab 2021 sein.“

Dass da immer wieder „auf allen Ebenen“ mal was „belebt“ werden muss, hätten wir selbst so nie zu formulieren gewagt.

Und was steht da noch? Ach ja, das alte Leipziger Problem: die klapprige Zusammenarbeit mit Nachbarkreisen, Nachbargemeinden und der Region, die immer so herrlich scheitert, wenn es wirklich um grenzüberschreitende Visionen geht. Im Text der neuen Charta: „In order to adapt urban policies to people’s daily lives, towns and cities need to cooperate and coordinate their policies and instruments with their surrounding suburban and rural areas on policies for housing, commercial areas, mobility, services, green and blue infrastructure and energy supply, among others.“

Alles hübsch aufgezählt. Und am Ende macht doch jeder seins – sein Gewerbegebiet, seinen lokalen Nahverkehr, seine grüne und blaue Infrastruktur, seine Wohnungspolitik, seine „Infrastrukturprojekte“ für den Kohleausstieg. Mitteldeutschland, wie es leibt und lebt.

Claus Leggewies Plädoyer für ein wirklich zukunftsfähig gemachtes Europa

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Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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