Anfang Dezember stellte der Leipziger Marcel Pruß einmal eine sehr, sehr emotionale Einwohneranfrage. Eine, die den Kern heutiger Verkehrspolitik in Leipzig betrifft. Sie wurde jetzt vom Dezernat Stadtentwicklung und Bau auch beantwortet, für eine amtliche Antwort auch wieder recht emotional, sodass man Baubürgermeister Thomas Dienberg selbst argumentieren hört, warum die Verkehrswende leider kein 100-Meter-Sprint ist, sondern ein elend langer Marathonlauf. (Der schon nicht mehr weiß, wohin mit den ganzen Autos.)
Wobei einem dabei auch gleich die Worte des Mobilitätsforschers Andreas Knie einfallen, die Emil Nefzger am 14. Dezember in einem „Spiegel“-Beitrag zur Renaissance der Straßenbahn in Frankreich zitiert: „Was in Berlin oder Leipzig rumfährt, ist für die Leute altmodisch und Teil des 20. Jahrhunderts.“
Andreas Knie ist Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Da hat man einen etwas anderen Blick auf das System Straßenbahn und seine sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen. Und das hört eben nicht bei neuen, durchaus schicken Straßenbahnen und barrierefreien Haltestellen auf, sondern umfasst auch die Frage: Wie funktional ist so ein ÖPNV-System eigentlich für die, die es jeden Tag nutzen (müssen), und wie selbstverständlich ist eigentlich die Nutzung?
Darüber geht die Diskussion auch in Leipzig seit Jahren. Zuletzt ziemlich klar geführt bei der Diskussion um den neuen Nahverkehrsplan im Jahr 2019, zu dem es sage und schreibe 39 Änderungsanträge gab – die noch längst nicht alle Sorgen der Leipziger/-innen mit ihren Verkehrsbetrieben abbildeten. 20 Jahre nach der großen Netzreform zeigt sich, wie viele Lücken es im Schienennetz mittlerweile gibt, wie viele Gebiete gerade am Stadtrand überhaupt nicht sinnvoll ans ÖPNV-Netz angeschlossen sind und dass das Straßenbahnnetz mit der wachsenden Stadt eben nicht wieder mitgewachsen ist.
Wofür es eine Menge Gründe gibt. Baubürgermeister Thomas Dienberg könnte auch auf die fehlenden (Förder-)Gelder und die Autolastigkeit von Bundes- und Landespolitik zu sprechen kommen. Von einigen Autolobbyisten in Leipzig und im Leipziger Stadtrat ganz zu schweigen, die die eigentlich schon 2012 eingeleitete Verkehrswende mit erheblicher Medienunterstützung bei den konservativen Zeitungen der Stadt regelrecht ausgebremst haben. Was natürlich die berechtigte Frage von Marcel Pruß mit sich bringt: Kann es sein, dass das auch die Verantwortlichen in der Stadtspitze dazu gebracht hat, lieber jahrelang die Finger vom heißen Eisen Verkehrswende zu lassen?
Die komplette Antwort des Baubürgermeisters an Marcel Pruß:
Sehr geehrter Herr Pruß,
Ihre vier Fragen darf ich wie folgt und gemeinsam beantworten:
1. Will der Oberbürgermeister Burkhard Jung die Verkehrswende?
2. Wollen die Bürgermeister Heiko Rosenthal und Thomas Dienberg die Verkehrswende?
3. Wollen die Amtsleiter Helmut Loris und Michael Jana die Verkehrswende?
4. Welche Strategie wendet der OBM bei der Umsetzung der Verkehrswende an, inklusive Tätigkeitsfeldern, Meilensteinen, Zielen?
Was Ihre ersten drei Fragen betrifft: ja, selbstverständlich wollen die genannten Personen die Verkehrswende. Sie ist Inhalt diverser Beschlüsse des Stadtrates über strategische Vorlagen bis zu einzelnen Maßnahmen. Damit ist die Verwaltung zum einen als Ganzes an diese Beschlüsse und Inhalte gebunden und zum anderen stammen die Beschlussvorlagen sehr oft von der Verwaltung selbst, sie hat diese Inhalte und Beschlüsse dem Stadtrat vorgelegt.
Zur vierten Frage darf ich Sie insbesondere auf das Internetangebot der Stadt unter www.leipzig.de verweisen. Dort finden Sie im Bereich Umwelt und Verkehr eine Vielzahl von Dokumenten, die über Ziele, Strategien, Tätigkeitsfelder, Maßnahmen, Meilensteine und Ziele Auskunft geben. Als zentrale Grundlagen für die Verkehrspolitik in Leipzig finden Sie dort u. a.
– das integrierte Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030, das u. a. das Fachkonzept Nachhaltige Mobilität enthält,
– den Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum,
– die Mobilitätsstrategie Leipzig 2030,
– den Rahmenplan zur Umsetzung der Mobilitätsstrategie sowie
– den Nahverkehrsplan und den Radverkehrsentwicklungsplan der Stadt Leipzig.
Wenn Sie diese vom Stadtrat beschlossenen Dokumente zur Kenntnis nehmen, werden Sie sehen, dass es sehr klare Grundlagen einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Verkehrspolitik in Leipzig gibt, welche die Vermeidung von Verkehr und die Nutzung des Umweltverbundes aus ÖPNV, Fuß- und Radverkehr sowie von Sharing-Angeboten in den Mittelpunkt stellt.
Auf die von Ihnen den Fragen vorangestellten fünf Themen möchte ich hier schon aus Zeitgründen nicht im Detail eingehen, es wäre zu allem etwas aufzuklären und anzumerken. Aber ich möchte zumindest drei Dinge sagen.
Zum Ersten: die Verwaltung ist in ihrem Handeln grundsätzlich an Recht und Gesetz gebunden, dazu gehört u. a. auch, wann und wie ein Ermessen im Handeln auszuüben ist. So kann z. B. nicht jedes Vergehen, siehe Falschparken, beliebig, hier mit Abschleppen, geahndet werden.
Zum Zweiten: Auch eine klare Zielsetzung, wie wir sie in den genannten Beschlüssen haben, bedeutet nicht, dass die Umsetzung aus einem schlichten Schwarz/Weiß und Ganz oder Gar nicht besteht. Die Umsetzung muss auch praktisch möglich sein und unter Abwägung aller anderen Belange vorgenommen werden.
Wir leben in einer Stadt, die historisch in ihren Strukturen nicht für einen umfangreichen Besitz und Benutzung von privaten und gewerblichen Kraftfahrzeugen geplant und gebaut wurde. Trotzdem sind diese da und es braucht – z. B. in der ohne Stellplätze und nur minimalem öffentlichen Straßenraum entstandenen Krochsiedlung – mehr als nur „harter“ Maßnahmen gegen den ruhenden Verkehr.
Und zum Dritten: Die Verkehrswende ist weder eine Sache allein der von Ihnen adressierten Personen, der Stadtverwaltung insgesamt oder von Verwaltung und Stadtrat zusammen. Und sie ist kein 100-Meter Lauf. Die auch aus Gründen von Klima- und Ressourcenschutz notwendige Verkehrswende ist ein Marathon, einer, der nur gewertet wird, wenn alle ins Ziel kommen.
Und das heißt, die Stadtgesellschaft als Ganzes muss daran beteiligt sein, die Verkehrswende muss organisiert und vermittelt werden, sie kann weder einfach angeordnet, noch per Verwaltungshandeln durchgesetzt werden.
Aber, dies zum Abschluss und Rückgriff auf Ihre Fragen: die Verwaltung und die Verwaltungsspitze stehen für dieses Thema und für seine Umsetzung.
Wenn Falschparker nicht abgeschleppt werden und sich für schwächere Verkehrsteilnehmer nichts bessert
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Keine Kommentare bisher
Leider liegt zwischen diesen Worten und den Straßen da draußen eine Art Grand Canyon.
Das Thomas Dienberg sich hier nicht schämt den Radverkehrsentwicklungsplan aufzuzählen, begründe ich mal mit seiner erst kurzen Amtszeit.
Aber vielleicht erleben wir es noch, dass der OBM via Podcast den autofahrenden Steuerzahlern und den steuerzahlenden Autofahrern erklärt, was eine Verkehrswende ist und was das für eben diese Gruppe in den kommenden 6,5 Jahren genau bedeutet. Dann könnten sich ja alle schon mal darauf einrichten.