Als Ende August 2020 zum ersten Mal der Slogan „Leipzig besetzen“ auftaucht, wähnt sich mancher twitteraffine Immobilienbesitzer nahe eines Herzinfarktes. Junge Menschen haben ein Haus im Leipziger Osten besetzt und wollen so neben einem vorhandenen Nutzungskonzept auch den Fokus auf leerstehende und verfallende Häuser in Leipzig richten. Das zumindest scheint gelungen, wie ein Antrag der Grünen, eine Fotostrecke und eine aktualisierte Übersichtskarte der „vergessenen“ Immobilien in Leipzig hier auf L-IZ.de zeigt. Es könnte sich um bis zu 500 Häuser und somit 4.000 Wohnungen in Leipzig handeln.

Am 2. September, etwa 6 Uhr, erfolgt die Räumung des besetzten Hauses an der Ludwigstraße 71 durch die Leipziger Polizei auf Wunsch des Eigentümers. Zu diesem Zeitpunkt ist die verfallene Immobilie nahe der Hermann-Liebmann-Straße rund 1,5 Wochen besetzt, ein Gesprächsversuch mit ihm lief ins Leere, die Besetzer sind ausgeflogen und können vorerst nicht ermittelt werden. Doch das Thema bleibt.

Es heißt Leerstand in verfallenden Häusern

In der Nacht zum 31. Mai 2014 hat das Haus an der Eisenbahnstraße 43 genug und gibt unter der Last von über 100 Jahren und mangelnder Pflege sichtbar nach. Was folgt, sind drei Wochen, in denen die Eisenbahnstraße an dieser Stelle vollständig gesperrt werden muss. Noch am 11. Juni 2014 melden die LVB die Unpassierbarkeit für ihre Bahnen in diesem Abschnitt.Nach der ersten Notsicherung müssen die Bahnen hier an einer Hauptverkehrsader im Osten der Stadt quasi Schritttempo fahren. Und der Hausbesitzer wird mühsam ermittelt, Meldungen besagen, er sei kaum in der Lage, den Schaden und die Kosten der städtischen Sicherungsmaßnahmen zu tragen.

Bleibt das so und er auf seiner Ruine sitzen, übernimmt es die Allgemeinheit, also auch jene Steuerzahler, die ihre Miete nur mühsam aufbringen können, die Kosten zu tragen, wenn er mangels Käufer sein Haus nicht mehr veräußern kann oder der Erlös nicht reicht.

Das leerstehende Haus in der Ludwigstraße 71 während der kurzzeitigen Besetzung. Foto: L-IZ.de
Das leerstehende Haus in der Ludwigstraße 71 während der kurzzeitigen Besetzung. Foto: L-IZ.de

Hauptsächlich werden in dieser Zeit jedoch die Schäden für alle vor allem anhand der einhergehenden Verkehrsbehinderungen debattiert, einstürzende Häuser oder der radikale Verfall und die Notsicherung wie zu DDR-Zeiten derselben scheint in der Zukunft ausgeschlossen. Den Satz „Eigentum verpflichtet“ (den Hausbesitzer) hört man selten – Leipzig boomt, verjüngt sich und Wohnungen werden gebraucht. Der Glaube also: es wird wohl alles Stück um Stück saniert und vermietet werden, nur wie teuer weiß man nicht, ganz nach Attraktivität der Viertel steigen zudem die Mieten.

Dass es heute, im Jahr 2020 noch verfallende Bauten aus der wohnlich attraktiven Gründerzeit in der Stadt geben soll, scheint angesichts des rasanten Wachstums der Bevölkerung um bis heute fast 100.000 Menschen auf rund 600.000 Einwohner kaum denkbar.

Ein Irrtum und die Gründe

Ein Grund ist ganz sicher – wie auch der Fall Ludwigstraße 71 zeigte – eine Mischung aus Spekulation und mutmaßlich falsch angepackter Altersvorsorge. Der Eigentümer des Hauses erklärte immerhin erstaunlich offen gegenüber „Bild“, die über zwei Millionen Sanierungskosten für seine Immobilie nicht aufbringen zu können. Aber „ein Haus in Leipzig besitzen“ klingt erst einmal gut, über Jahre stiegen die Preise, selbst für minderwertige, ja verfallene Immobilien kletterten die Preise deutlich über eine Million Euro beim Erwerb samt Grund und Boden.

Und man fand immer noch einen Abnehmer, teilweise wechselten über Jahre auch im Osten der Stadt Immobilien ohne einen einzigen Sanierungsschritt von Eigentümer zu Eigentümer gegen einen weiteren Aufpreis. Ein Spiel, welches immer so lange funktioniert, bis man der letzte Käufer in der Reihe der Spekulanten in der Hoffnung auf einen leistungs- und scheinbar risikolosen Zuverdienst ist. Also der, den die Hunde beißen, wenn die Spekulationsblase platzt.

Ein weiterer Grund für verfallene Häuser können zwar auch Fragen der jeweiligen Besitzverhältnisse sein, doch über 30 Jahre nach 1989 sollten das nur noch ganz wenige Einzelfälle sein.

Bleibt also die Frage, wie einzugreifen ist. Der Gesetzgeber im Bund hat den gesetzlich gesicherten Entzug solcher Immobilien gegen Zahlung des Bodenwertes noch immer nicht wirklich gelöst. Enteignungen oder gesetzlich durchsetzbare Vorkaufsrechte sind also noch Zukunftsmusik, dasselbe gilt für die Einführung von Zweckentfremdungssatzungen, obwohl es auch hier rumort – siehe Ferienwohnungen in Mietshäusern. (diese Zweckentfremdung hat die Stadt bereits im Blick und 2020 einen ersten Bericht dazu erstellt, PDF, Quelle Stadt Leipzig).

Und so bleibt der aktuelle Vorschlag der Grünen auf kommunaler Ebene, ein Leipziger Leerstandsmanagement einzurichten, will man nicht eine steigende Zahl von Besetzungen oder steigende Schäden an Häusern erleben.

In diesem sollen erstmals alle „vergessenen Häuser“ nach einem klaren Katalog erfasst und mit den Hauseigentümern das Gespräch gesucht werden. Dabei könne es sich kurzfristig durchaus „um bis zu 4.000 Wohnungen handeln, die wieder reaktiviert werden könnten“, so Tobias Peter auf Nachfrage der L-IZ.de. Reaktivierung meint hier auch, nicht über die teuersten Sanierungen zu sprechen, sondern praktische Lösungen zu finden, wie sie einst nach 1990 schon bei den Wächterhäusern ein Leipziger Modell wurden.

Und es ist keine kleine Zahl an Möglichkeiten, rechnet man mal mit acht Mietparteien pro Haus im Schnitt, wären das beeindruckende 500 Häuser im Leipziger Stadtgebiet, mögliche Ladengeschäfte zur Zwischennutzung bis echtem Neustart noch obenauf. Gerade einmal 1.000 Wohnungen weniger als die 5.000 also, die die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) insgesamt zusätzlich neu bauen soll.

Der Vorteil dabei: diese Häuser stehen inmitten unserer Wohnviertel, ihre Reaktivierung auch mit geringen Kosten könnte eine Maßnahme gegen den Aufwertungsdruck auch in den beliebten, organisch gewachsenen Gegenden Leipzigs sein.

Leser/-innen-Aufruf

Bis dieser Beschluss im Stadtrat (vielleicht) getroffen und die neue Stelle beim Amt für Wohnungsbau und Stadtentwicklung zum „Leerstandsmanagement“ arbeitsfähig ist, haben wir uns aufgemacht, die ersten dieser „vergessenen Häuser“ zu finden und weitere zu suchen.

Jedes hat sicher eine andere Geschichte, doch alle eint, dass sie länger unbewohnt, teils extrem verfallen und scheinbar von ihren Eigentümern über Jahre oder Jahrzehnte aus den verschiedensten Gründen „vergessen“ sind – viele davon keine 10 bis 15 Minuten vom Zentrum der Stadt entfernt. Knapp 50 haben wir innerhalb kurzer Zeit gefunden, 500 sollen es sein.

Wir freuen uns deshalb auch über jeden Leser und jede Leserin, die weitere verfallene und leerstehende Häuser in Leipzig fotografieren und mit Straßennamen und Hausnummer an uns, an redaktion@l-iz.de senden.

Hier die bisherigen Fundstücke, begonnen haben wir Ende September 2020.

Update vom 6. Februar 2021: Die Übersichtskarte

Made by L-IZ.de

Update vom 24. Februar 2021

Update vom 6. Februar 2021: Weitere Funde

Update vom 13. Oktober 2020: Noch mehr Leser/-innen-Einsendungen

Update vom 11. Oktober 2020, erste Einsendungen aus Lindenau

Im Süden, Südosten und Norden der Stadt (Connewitz, Reudnitz, Probstheida, Gohlis)

Im Osten – Entlang der Eisenbahnstraße

Links der Eisenbahnstraße (stadtauswärts)

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Es gibt 7 Kommentare

Vielen Dank für die Fotos. Sie machen die Misere erst so richtig sichtbar. Und in ihrer geballten Zurschaustellung entfalten sie eben gerade die Dringlichkeit, die man einer bloßen Aufzählung im Fließtext (oder auch in Listenform) nicht entnehmen kann.
Wenn auch Leipzig auf dem besten Wege ist München zumindest preislich näher zu kommen, wird es doch hoffentlich nie dazu kommen. Besser wäre es, wenn hier dringend angepackt und saniert wird. Bäder müssen nicht mit Granit gefliest sein, es muss kein Marmorfußboden sein (und bitte auch keine Fototapete auf dem Fußboden), Sanitärkeramik und Armaturen müssen nicht vom Edeldesigner und aus Gold sein. Dann kann man auch bezahlbare Mieten verlangen.
Manches Projekt scheitert ja am verfügbaren Personal. Da könnte man doch versuchen, potenzielle Mieter in Eigenleistung die Arbeiten ausführen zu lassen. Damit wäre allen geholfen. Nur mal so als Idee.

Ob sich in Gesellschaften etwas ändert, liegt nie an Listen, Sichtbarmachungen oder Informationen allein. Wäre es einfach eine Liste, wäre ich bei Ihnen – ist es aber nicht.

Zu Veränderungen gehört stets mehr als Listen, wie wir beim 365-Euro-Ticket ebenso beobachten können oder beim Thema: warum parkt da ein Auto auf dem Radstreifen (oder im absoluten Halteverbot etc.) 😉

In diesem Fall vielleicht der (politische) Wille, sich mit urbaner Stadtentwicklung zu befassen, bevor Häuser umfallen, Menschen (bezahlbare) Wohnungen suchen oder eben auch im Kleinen wie im Großen spekulative Vorgänge zu den ach so bösen Hausbesetzungen (strafbar, böse, Polizei!) führen …

In Summe: Nein, eine Listung allein hat die Welt noch nie verändert. Sie machen lediglich eine Sache sichtbar. Aber das gleiche könnte man wohl auch über 99,9 Prozent aller geschriebenen, gesagten und publizierten Dinge sagen …

Mal ganz ehrlich, L-IZ?

Welchen Sinn hat diese Liste, abgesehen davon, daß sie eine Liste ist?

Ändert sich dadurch irgendwas?

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