Vor dem Kompromiss ist nach dem Kompromiss. Es sei denn, die neue Zusammensetzung des Migrantenbeirats der Stadt Leipzig funktioniert so gut, dass alle Beteiligten damit zufrieden sind. Aber daran zweifelt Nuria Silvestre Fernández, Stadträtin und Sprecherin für Inklusion, Gesundheit und Migration der Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Denn eigentlich hatte der Antrag der Grünen-Fraktion die Mehrheitsmeinung im Migrantenbeirat aufgenommen. Beschlossen aber wurde am 7. Oktober ein anderer Kompromiss.
Die Debatte war entsprechend hart und kontrovers. Und zumindest ein Teil der Plätze im Beirat, die von den Leipziger/-innen mit Migrationshintergrund besetzt werden können, wird künftig auch von ihnen selbst direkt gewählt. Das ist auch aus Sicht von Juliane Nagel, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, ein Fortschritt nach einem immerhin sechs Jahre währenden Diskussionsprozess. Aber einer mit bitterem Beigeschmack.
„Ich bin erleichtert, dass der Migrantenbeirat bald von einem Teil der Migrant/-innen in Leipzig gewählt werden kann. Der Weg dahin war steinig“, erinnert sich Juliane Nagel.
„Schon 2014 beauftragte der Stadtrat die Verwaltung, ein Verfahren für die Wahl der Mitglieder des Migrantenbeirates zu entwickeln. Dies war ein Meilenstein für aktive Leipziger/-innen mit Migrationsgeschichte; ging und geht es doch zum einen darum, eine Repräsentationslücke für die vom Wahlrecht Ausgeschlossenen zumindest ein wenig zu schließen. Und andererseits darum, den Menschen, die die Stadt in migrationspolitischen Angelegenheiten beraten, mit einer Legitimation derer auszustatten, die selbst migriert sind.“
Eine von der Verwaltung selbst erarbeitete progressive Wahlordnung, die den Wunsch des Stadtrates eigentlich abbildete, verschwand freilich 2015 wieder in der Schublade.
„Die im Migrantenbeirat im Anschluss erarbeiteten Vorschläge, zum Beispiel für eine Herkunftsquote und die Ermöglichung der Online-Wahl in öffentlichen Anlaufstellen, flossen zwar in das neue Wahlverfahren ein, plötzlich rückte die Verwaltung allerdings von dem bis dahin existierenden Konsens ab, dass auch eingebürgerte Migrant/-innen mit deutschem Pass das aktive und passive Wahlrecht haben“, geht Juliane Nagel auf den wohl wichtigsten Konfliktpunkt ein.
„Die Verwaltung legte einen Vorschlag mit drei Säulen auf den Tisch: In einer 1. Säule sollen nur Ausländer/-innen und EU-Bürger/-innen das Wahlrecht haben, in einer 2. Säule können sich Leipziger/-innen mit Migrationsgeschichte sowohl mit als auch ohne deutschen Pass direkt bei der Stadtverwaltung bewerben, um dann nach formulierten Kriterien ausgewählt zu werden, die 3. Säule umfasst die Fraktionsvertreter/-innen.“
Für den Migrantenbeirat und Teile des Stadtrates sei es wichtig, dass auch eingebürgerte Leipziger/-innen das passive und aktive Wahlrecht haben, betont die Linke-Stadträtin. „Es herrschte große Enttäuschung und Frust, dass die Verwaltung den Beschluss aus 2014 nicht umgesetzt hatte.“
Mit einem fraktionsübergreifenden Antrag, der am Mittwoch, 7. Oktober, knapp beschlossen wurde, sei nun zumindest eine gangbare Variante gefunden, merkt Nagel an.
Die 1. Säule wird für eingebürgerte Leipziger/-innen und Aussiedler/-innen geöffnet, diese haben neben Migrant/-innen ohne deutschen Pass das aktive und passive Wahlrecht.
„Dieser Kompromiss kam nur zustande, weil sich der Vorsitzende des Migrantenbeirats, Kanwal Sethi, und der Sozialbürgermeister Thomas Fabian, der den Bereich zum 1. Oktober 2020 in seine Verantwortung übernommen hat, hinter den Kulissen starkgemacht haben“, so Nagel. „Der Kompromiss fußt auf einem Änderungsantrag, den die Linksfraktion Mitte September unterbreitet hat.“
„Nun sollte der Blick nach vorne gerichtet werden, auf die Durchführung der Wahl. Darüber hinaus zeigt die Debatte um das Wahlverfahren, dass der Anspruch auf interkulturelle Öffnung sowohl in der Stadtverwaltung als auch im Stadtrat hoch auf die Agenda rücken müssen“, betont Juliane Nagel.
„Teilhabe und interkulturelle Öffnung dürfen nicht allein wohlklingende Formulierungen in Wahlprogrammen und Konzepten sein, sondern mit Leben erfüllt werden, damit die 15,4 % der Leipzigerinnen und Leipziger mit Migrationsgeschichte endlich eine angemessene Repräsentanz in Partei, im Stadtrat und in der Verwaltung finden.“
Kritik aus der Grünen-Fraktion
Für den Kompromiss gestimmt haben am 7. Oktober Stadträt/-innen der Fraktionen Die Linke, SPD, Freibeuter und CDU.
Aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen ist das Beschlossene aber weiterhin undemokratisch, auch intransparent, und es spaltet die zukünftigen Mitglieder in mehrere Kategorien.
„Dass die Migrant/-innen aus Sicht der Verwaltung und den oben genannten Fraktionen nicht selbst erkennen können, wer ausreichend qualifiziert oder geeignet ist, finden viele beschämend und sogar beleidigend“, stellt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fest, die immerhin einen Änderungsantrag vorgelegt hatte, bei dem sämtliche Mitglieder des Beirats gewählt worden wären.
Darüber hinaus forderte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag eine paritätische Besetzung des Beirates. Im bisherigen, von der Verwaltung und dem Stadtrat berufenen Migrantenbeirat, sind vier Frauen und 12 Männer vertreten.
„Dieses Ungleichgewicht gibt es leider nicht nur in diesem Rat. Da ist die bündnisgrüne Fraktion mit acht Frauen und acht Männern im Stadtrat die positive Ausnahme“, geht die Grünen-Fraktion auf die Männerlastigkeit vieler politischer Gremien in Leipzig ein.
„Fast alle Unternehmen, Behörden und Gremien streben eine Erhöhung des Frauenanteils in der Zukunft an. Wir hätten uns daher gewünscht, bei dem Migrantenbeirat mit gutem Beispiel voranzugehen. Auch weil die Anliegen der Migrantinnen oft komplexer sind als die der Migranten. Sie werden häufiger diskriminiert. Für sie ist der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und Gesundheitsvorsorge schwieriger. Ihre Perspektive ist daher besonders wichtig.“
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur demokratischen Wahl des Migrantenbeirates mit paritätischer Besetzung der Mitglieder/-innen wurde am 7. Oktober mit 13:41 Stimmen bei zwei Enthaltungen abgelehnt.
„Leider gab es in der Ratssitzung kein sichtbares Zeichen von Verständnis und Respekt für die Wünsche der migrantischen Communities. Wie können jetzt die Migrant/-innen in Leipzig Vertrauen in die Institutionen und den Stadtrat aufbauen? Es gibt viel zu tun“, kommentiert Nuria Silvestre Fernández, Sprecherin für Inklusion, Gesundheit und Migration der Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, den Ausgang der Abstimmung.
Und betont: „Wir bleiben dran und zeigen Haltung, die Fraktion wird sich weiterhin im besonderen Maße für Migrant/-innen einsetzten, um deren Teilhabe zu ermöglichen und einen direkten Dialog auf Augenhöhe zu führen.“
Am 7. Oktober debattiert der Stadtrat: Wie soll der Leipziger Migrantenbeirat künftig gewählt werden?
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