LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 81, seit 31. Juli im HandelIn Berlin ist die Freude riesig. Nur noch 30 Jahre, dann können sich die Hauptstädter den Flug nach Australien sparen, denn das Klima von Canberra herrscht 2050 in Berlin. Und in etwa 80 Jahren liegt die Stadt obendrein direkt an der Ostseeküste. Hauptsache, der Klimawandel geht ungebremst so weiter wie bisher.
Forscher der ETH Zürich haben vor einem Jahr die Klimaverschiebung bis 2050 mit noch mehr beklemmenden Beispielen anschaulich illustriert: London wird Barcelona, Stockholm wird Budapest, Madrid wird Marrakesch. Grob gesagt wandert die Äquatorwärme 1.000 Kilometer nordwärts. Für die zukünftige Hitze in Städten wie Jakarta existiert keine heutige Entsprechung. Die indonesische Zehn-Millionen-Metropole im zweitgrößten Ballungsraum der Welt droht außerdem in den ansteigenden Fluten des Pazifiks zu versinken.
Leipzig hat 2019 den Klimanotstand ausgerufen. Leipzig hat 2018 für das neue Mobilitätskonzept das Nachhaltigkeitsszenario beschlossen. So weit die Seite der schönen Worte. Und wie sieht es auf der Seite der Taten aus?
Ist die Stadtverwaltung bereit für die Verkehrswende?
Es gibt durchaus Insider, die diesen Willen zur Veränderung zu spüren glauben. Immerhin trat Leipzig im vergangenen Jahr der neu gegründeten Arbeitsgemeinschaft sächsischer Städte, Gemeinden und Landkreise zur Förderung des Rad- und Fußverkehrs bei. Aber spätestens bei der Fördermittelvergabe werden gesetzliche Vorgaben noch zu oft vom Autoverkehr aus gedacht. Dabei würde dieser von einem Paradigmenwechsel profitieren: Je mehr vom Pkw auf ÖPNV oder Fahrrad umsteigen, desto flüssiger wäre der verbleibende Autoverkehr.
Im Vergleich zur fernen Wendezeit scheint der Fortschritt außer Frage zu stehen. Gab es 1990 erst 74 Kilometer Radwege, sind es mittlerweile mehr als 300. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim sogenannten Modal Split – der prozentualen Verteilung der unterschiedlichen Verkehrsarten: 1987 entfielen fünf Prozent auf das Fahrrad, 2015 waren es 17,3 Prozent. Im gleichen Jahr wurde das Ziel formuliert, diesen Anteil bis 2020 auf 20 Prozent zu steigern. Im besagten Nachhaltigkeitsszenario des Mobilitätskonzeptes sollen diese 20 Prozent jedoch erst 2025 erreicht werden. Ambitionslos.
Die anderen Kennzahlen besagen, dass der zwischen 2008 und 2018 um den Wert 17,3 schwankende Anteil des Fußverkehrs auf 20 Prozent zulegen soll. Der von 18,7 auf 17,5 Prozent geschrumpfte ÖPNV soll 25 Prozent erreichen, was für den Pkw-Verkehr eine Reduktion um immerhin 11,5 Prozent bedeutet. Eine Planung aus Sicht des Autoverkehrs wäre demnach nur noch angemessen, wenn sie seine Verringerung zum Ziel hat.
Denn die Treibhausgas-Emissionen des Verkehrs in Leipzig sind seit 2011 um zehn Prozent gestiegen. 90 Prozent davon gehen auf das Konto von Pkw, Lkw und Motorrädern. Der Verkehr ist auch bundesweit der einzige Sektor, in dem die CO2-Emissionen seit 1990 nicht gesunken sind.
Als europäische Energie- und Klimaschutzkommune hat sich Leipzig verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis 2050 auf nahe Null zu senken und damit klimaneutral zu sein. Der aktuelle Umsetzungsbericht 2018 resümiert jedoch, dass unser rechnerisches Treibhausgasbudget bereits 2026 aufgebraucht sein wird. Der Trend der minimalen Emissionsreduzierung reicht bei Weitem nicht aus.
Zum Radverkehr: Bei der Überprüfung der städtischen Radverkehrspolitik (Bicycle Policy Audit der EU) erreichte diese nur noch 2,3 von vier möglichen Punkten. Aus dem Verkehrs- und Tiefbauamt (VTA) hieß es: „Der Bericht hebt aber positiv hervor, wie Leipzig bei der Stadtentwicklung bemüht ist, Alternativen zur Autonutzung im Alltagsverkehr anzubieten und zu fördern.“ Bemüht zu sein heißt im Bewertungsdeutsch bekanntlich Note 5.
Ein praktisches Beispiel: Am 22. Mai informierte das VTA, dass „an der Zeppelinbrücke im Zuge der Jahnallee zeitnah temporär markierte Radfahrstreifen in beide Richtungen angeordnet werden.“ Gut einen Monat später protestiert der grüne Kommunalpolitiker Volker Holzendorf: „Müssen Leipzigs Bürger die Ankündigungen der Stadtverwaltung für klimafreundlichen Verkehr selbst umsetzen?“
Weitere zwei Wochen später die Antwort aus dem VTA: Anfang August werden die Radfahrstreifen eingerichtet, um den Unfallschwerpunkt für täglich 6.000 Radfahrer zu entschärfen. So geht „zeitnah“.
Ähnlich das 365-Euro-Ticket: ein Wahlversprechen von Oberbürgermeister Jung, das nun in Warteposition geparkt ist. „Wir müssen genau abwägen – zwischen sozialen, finanziellen, ökologischen und Mobilitätsaspekten“, erklärte der OBM kürzlich. Wenn wir uns der drohenden Klimakatastrophe vergewissern, könnten wir ebenso gut abwägen, ob das Klima von San Marino oder Rom vielleicht doch ganz gut wäre für Leipzig. Oder verantwortungsbewusst handeln – in Stadtverwaltung, Kommunalpolitik und Gesellschaft. Gern auch zeitnah.
Aber die kürzlich vorgestellte Rahmenplanung zur Mobilitätsstrategie 2030 hat seit dem Stadtratsbeschluss bereits zwei Jahre in Anspruch genommen. Bis nächstes Jahr soll mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber diskutiert werden. Und nach 2021 wird dann alles über Nacht nachhaltig und fahrradfreundlich? Das Absegnen konkreter Vorhaben sowie die Bewilligung entsprechender Fördermittel vorausgesetzt. Nein, zumindest hat Corona bewiesen, dass das schneller und entschlossener geht.
Es bräuchte vielleicht Signale, welche die Richtung weisen und verdeutlichen. 2019 hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht bekanntlich das Radfahrverbot auf dem Innenstadtring größtenteils aufgehoben. Eine gute Gelegenheit, aber dem städtischen Pressesprecher fiel nichts Besseres ein als der Rat, dennoch auf den Radwegen zu fahren. Welche Radwege? Eine Autospur in einen Radfahrstreifen zu verwandeln, wäre ein Signal gewesen. Aber stattdessen wurde der Radweg vor dem Hauptbahnhof danach zum gemeinsamen Fuß-/Radweg abgewertet.
Verkehrswende in die falsche Richtung.
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe
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