In der Braustraรe, am Gelรคnde der Feinkost, sowie am Connewitzer Kreuz fanden am heutigen Freitagmittag zeitgleich zwei Kundgebungen statt. Anlรคsslich des 1. Mai hatte die Initiative #NichtAufUnseremRรผcken zunรคchst zu einer Demonstration mit 50 angemeldeten Personen auf der Karli aufgerufen. Stattgegeben wurde den Veranstaltern die Mรถglichkeit einer Kundgebung vor nicht mehr als 25 Personen.
Der 1. Mai, der Internationale Tag der Arbeiterklasse, bekommt unter dem Schatten von Corona keine neue, doch wohl eine stรคrkere Bedeutung. Zum einen, weil der Begriff โsystemrelevantโ in Verbindung mit dem Arbeitsmarkt neue Dimensionen angenommen hat. Scheinbar erst jetzt wird vielen klar, dass Kassierer/-innen, Pflegekrรคfte, Erzieher/-innen und viele andere Berufsgruppen nicht nur in Krisenzeiten unverzichtbar sind und dementsprechend Anerkennung verdienen.
Zum anderen sorgt das Virus dafรผr, dass ebendiesen Menschen, die fรผr angemessene Lรถhne und sichere Arbeitsbedingungen (nicht nur) am 1. Mai auf die Straรe gehen, das Mittel des Protests weitgehend genommen wird.
Die โDemonstrationโ von #NichtAufUnseremRรผcken war eine von mehreren Protestaktionen, die heute unter eingeschrรคnkten Bedingungen in Leipzig stattfanden. โWir mรผssen wieder auf die Straรe. Und das gerade am 1. Mai. Dieses Datum steht historisch fรผr die Kรคmpfe fรผr die Rechte von arbeitenden Menschen, eine soziale Gesellschaft und ein gutes Leben fรผr alle. Das ist gerade in dieser Zeit essentiell, einer Zeit, in der die soziale Spaltung dieser Gesellschaft so sichtbar wie nie wirdโ, hieร es im Aufruf zu den Veranstaltungen.
Auf der Straรe waren rund 200 Menschen. Auf dem Bรผrgersteig vor der Feinkost wurde zunรคchst Redebeitrรคgen gelauscht, die zuvor aufgenommen worden waren und รผber Lautsprecher รผbertragen wurden. Denn neben der Aufnahme persรถnlicher Kontaktdaten der Teilnehmenden, der Einhaltung von Sicherheitsabstรคnden sowie der Begrenzung der Teilnehmeranzahl galt das als eine der Auflagen des Ordnungsamts. Eine weitere, dass Mikrophone nach jedem Beitrag hรคtten desinfiziert werden mรผssen. Zu Wort kamen unter anderem Erzieher/-innen, Student/-innen, Supermarktmitarbeiter/-innen.
So konnte die Veranstaltung, die ursprรผnglich als Demonstration bis zum Connewitzer Kreuz geplant war, an beiden Orten zeitgleich stattfinden. Parallel dazu gab es eine Art โScheinbesetzungโ in der Ludwigstraรe, bei welcher auf die Lage von Mietern und die Besitzverhรคltnisse in Leipzig durch mehrere Fensteraushรคnge in Form von Bannern aufmerksam gemacht wurde.
Kritisiert wurde vor allem die Doppelmoral der unter Corona eingeschrรคnkten Grundrechte, wรคhrend in einigen Branchen das Hamsterrad nicht stillzustehen scheint. โ[F]รผr manche lohnabhรคngig Beschรคftigte stand das Rad in den letzten Woche nie still. Wรคhrend der Aufenthalt im รถffentlichen Raum extrem reglementiert war und ist, bleibt hinter Werkstoren, zum Beispiel des Rรผstungsproduzenten Rheinmetall oder den Mauern von Versandunternehmen wie Amazon, alles beim Alten. In ihrer Arbeitszeit mรผssen Menschen dicht an dicht schuften, aber in ihrer Freizeit sind sie gezwungen, auf soziale Interaktionen und den Aufenthalt im Freien weitestgehend zu verzichtenโ, schrieb die Initiative im Vorfeld.
โWas in der Freizeit gilt, gilt offenbar nicht am Arbeitsplatzโ, sagte auch Ivan, der einen der wenigen persรถnlichen Redebeitrรคge vor Ort hielt. Er arbeitet seit Beginn der Krise in der Notbetreuung in einem Hort. Die Devise der Stadtverwaltung sei laut ihm โHauptsache beschรคftigtโ, sodass zwar der Appell, nicht unnรถtig viele Kolleg/-innen zu beschรคftigen, durch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erfolgt sei, die Realitรคt jedoch anders aussah und aussieht.
โDie derzeitige Krise birgt die Chance in sich, fรผr hรถhere Lรถhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kรคmpfen. Mal sehen, ob der abendliche Applaus auch dann erfolgt oder ausbleibende Dienstleistungen zu Unverstรคndnis und Verachten fรผhren.โ
Wรคhrend der Pandemie sind fรผr viele Menschen die sozialen Unterschiede und die Abstufung einzelner Berufsgruppen nicht verschwunden. Etliche Menschen kรถnnen ihre Berufe derzeit nicht ausรผben, wรคhrend andere รberstunden und Extraschichten schieben. Kurzarbeitergeld und Jobverlust bringt nicht wenige an den Rand der Existenz, wรคhrend sich das Leben anderer kaum bis gar nicht zu รคndern scheint.
Die Forderungen der Initiative #NichtAufUnseremRรผcken sind klar formuliert: Erhรถhung des Mindestlohns sowie die Entprivatisierung und Vergesellschaftung von Gesundheit, Bildung, Wohnen, Mobilitรคt und Kommunikation. Auch wird gefordert, dass Tarifvertrรคge ausgeweitet und gefรถrdert werden und die Entscheidung, welche Arbeit derzeit unverzichtbar ist, nicht bei Unternehmern, sondern allein beim Staat liegen.
Nicht zuletzt wurde heute immer wieder auf die mangelnde finanzielle Wertschรคtzung der nun augenscheinlich so hoch geschรคtzten systemrelevanten Berufe hingewiesen.
Die Schilderungen von Ivan vor der Feinkost. Video: L-IZ.de
Ihre Forderungen machten die Teilnehmer schlieรlich doch in einem Demonstrationszug รผber die Karli deutlich. Der โpolitische Spaziergangโ zum Connewitzer Kreuz schloss am Ende annรคhernd 500 Personen ein und verlor sich auf der Bornaischen Straรe oder war fรผr viele der Auftakt zur nรคchsten Kundgebung, die im Anschluss auf dem Augustusplatz stattfand. Dazu hatte ein Zusammenschluss mehrere Netzwerke, darunter Leipzig nimmt Platz und die Seebrรผcke Leipzig, aufgerufen.
Die Ordnungshรผter hielten sich im Leipziger Sรผden heute im Hintergrund. Laut Linke-Politikerin Juliane Nagel, Mitinitiatorin der Veranstaltung an der Braustraรe und am Kreuz, kam es zu keinen Diskussionen oder Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Gastkommentar von Christian Wolff: Falsche Prioritรคten
April-Zahlen machen erstmals steigende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit sichtbar
April-Zahlen machen erstmals steigende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit sichtbar
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Natรผrlich werden auch die L-IZ.de und die LEIPZIGER ZEITUNG in den kommenden Tagen und Wochen von den anstehenden Entwicklungen nicht unberรผhrt bleiben. Ausfรคlle wegen Erkrankungen, Werbekunden, die keine Anzeigen mehr schalten, allgemeine Unsicherheiten bis hin zu Steuerlasten bei zurรผckgehenden Einnahmen sind auch bei unseren Zeitungen L-IZ.de und LZ zu befรผrchten.
Doch Aufgeben oder Bangemachen gilt nicht ๐ Selbstverstรคndlich werden wir weiter fรผr Sie berichten. Und wir haben bereits vor Tagen unser gesamtes Archiv fรผr alle Leser geรถffnet โ es gibt also derzeit auch fรผr Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusรคtzlich auf L-IZ.de ganz ohne Paywall zu entdecken.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere selbstverstรคndlich weitergehende Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank dafรผr.
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher