Etwas war vor diesem denkbar knappen OBM-Wahlabend klar. Egal, wer gewinnen wรผrde, sรคhe sich angesichts der erwartbaren Enge im Ergebnis einer wirklich groรen Aufgabe gegenรผber. Nun liegt sie im Feld von Oberbรผrgermeister Burkhard Jung (SPD), der knapp รผber Sebastian Gemkow vor allem Dank hoch mobilisierter linker und grรผner Stimmen im Leipziger Zentrum siegen konnte. Rund 3.500 Leipziger/-innen machten den Unterschied in einem Wahlkampf Alt gegen Jung, Auรenbezirk gegen Innenstadt, Polemik gegen Sachargumente, Wechselstimmung gegen Bestรคndigkeit im Chaos. Und Medien gegen Medien.
Kurz nach 18 Uhr wurde es im Leipziger Rathaus immer lauter. Auf der groรen Leinwand in der Wandelhalle war die Information aufgetaucht, dass die ersten der insgesamt 477 Wahlbezirke ausgezรคhlt sind. Doch ein Ergebnis war noch nicht zu sehen. Das รคnderte sich nach wenigen Minuten, als vor allem bei den anwesenden CDU-Mitgliedern lauter Jubel ausbrach. Sebastian Gemkow lag sieben Prozentpunkte vor Amtsinhaber Burkhard Jung. Mancher sah wohl schon den Sieg vor Augen und trรคumte von einem konservativen Wandel im Rathaus.
Doch die Stimmung kippte bald. Als immer mehr Ergebnisse aus den eher zentral gelegenen Wahlbezirken eintrudelten, holte Jung auf und รผberholte Gemkow bald. Nach etwa der Hรคlfte der Auszรคhlung lag der Amtsinhaber etwa ein bis zwei Prozentpunkte vor dem wichtigsten Herausforderer. Diesen Vorsprung konnte Jung bis zum Ende halten.
Nie dagewesene Zahlen
Knapp 111.000 Leipziger/-innen stimmten fรผr den alten und neuen OBM Burkhard Jung, aber eben auch 107.604 Menschen fรผr Sebastian Gemkow. Zum Verhรคltnis: 2013 genรผgten noch 66.582 Wรคhler, um Jung mit 45 Prozent zu einem anschlieรend international anerkannten OBM in Leipzig zu machen. Horst Wawrzynski landete fรผr die CDU mit 28 Prozent weit hinter ihm.
2013 lautete die Wรคhlerbasis 435.599 und nun, 2020, mit 469.269 Wahlberechtigten gerade einmal 33.670 Wahlberechtigte bei einem Aufwuchs um รผber 100.000 Einwohner mehr. Was einerseits klarmacht, dass noch immer in Leipzig viele Menschen, die hier wohnen, nicht einmal wรคhlen dรผrfen. Und andere bei dennoch nie รผber 50 Prozent Wahlbeteilgung bestรคndig glauben: egal, wer da sitzt โ ich behalte meine Stimme zum Herumschreien, Nรถrgeln und Selbstgewissbleiben.
Und andererseits beschreiben diese absoluten Zahlen ein Kopf-an-Kopf-Rennen im Jahr 2020 und ein nie dagewesenes Wรคhlerpotential in der Gesamtmenge.
Bei einer Wahlbeteiligung von 48,4 Prozent entspricht das Wahlergebnis von Burkhard Jung einem Stimmenanteil von 49,1 Prozent. Gemkow erhielt etwa 3.000 Stimmen weniger und landete bei 47,6 Prozent. Zudem stimmten rund 7.500 Personen fรผr Ute Elisabeth Gabelmann (Piraten), die auf 3,3 Prozent kommt. Beeindruckend an auch diesen Zahlen ist, dass die Wahlbeteiligung erstmals รผberhaupt quasi der der ersten Runde entsprach.
Und dass es bei einer Gesamtwรคhlermenge von 227.353 Menschen eigentlich so etwas wie zwei Oberbรผrgermeister gibt. Oder eben eine gespaltene Stadt.
Auรen gegen Zentrum
Erneut konnte Jung vor allem im Zentrum sowie dem aus Ortsteilen wie Volkmarksdorf, Stรถtteritz, Connewitz, Kleinzschocher, Altlindenau und Gohlis-Sรผd bestehenden Gรผrtel um dieses Zentrum herum punkten. Gemkow hatte wieder am Stadtrand und in Ortsteilen wie Eutritzsch, Mรถlkau, Probstheida, Leutzsch und Mรถckern die Nase vorn.
Dass ein amtierender SPD-Oberbรผrgermeister in einer Groรstadt nur knapp gegen einen CDU-Herausforderer gewinnen kann, dรผrfte viele รผberrascht haben, die Leipzig in seiner Struktur nicht kennen. Es ist ein rotes Herz mit hohen Geburtenraten und viele eingemeindete Dรถrfer ringsum, deren Bedรผrfnisse bei รPNV-Anbindung, aber auch ihren ganz eigenen Fragestellungen aus Eigenheimansiedlungen und Autofreuden zu wenig gesehen werden.
รber weitere Grรผnde fรผr diese knappe Entscheidung, die Einfluรsphรคre der AfD-Wรคhler auf das CDU-Ergebnis eines fast schon klandestin handelnden (unsichtbaren) Kandidaten statt eines transparenten Wahlkampfes wird in den kommenden Tagen wohl viel spekuliert werden. Lag es am Wahlkampfthema Sicherheit? Oder daran, dass Gemkow das direkte Duell scheute? Oder waren 14 Jahre mit Jung fรผr viele einfach genug und der Herausforderer dennoch nicht in der Lage, einen Sieg aus der Gewohnheit an Burkhard Jung zu machen?
Oder ist irgendwann schlicht auch zu vielen aufgefallen, dass hier eine Partei mit noch immer ungenanntem, hohem Geldeinsatz versuchte, eine Oberbรผrgermeisterwahl durch groรe Werbebudgets in LVZ und BILD in den Stadtteilen regelrecht zu kaufen, die noch immer kein gefรผhlter Teil der Groรstadt Leipzig sind? Und diese Zeitungen tatsรคchlich noch lesen.
Die Frage lautet wohl ab jetzt, welche namhaften Investitionen die Bรผrger auรerhalb der innenstรคdtischen Quartiere wirklich selbst wollen? Oder ob sie tatsรคchlich glauben, dass man eigene Themen an einen Oberbรผrgermeister abordnet.
Und wie gespalten diese Stadt eigentlich ist?
Kann man von einem progressiven Mitte-Links-Lager sprechen, das in den vergangenen Wochen trotz diverser Differenzen geschlossen hinter Jung stand? Und dazu im Gegensatz ein (rechts-)konservatives Lager, dem Leipzig in den vergangenen Jahren etwas zu hipp geworden ist?
In der Wandelhalle im Neuen Rathaus jedenfalls war die Stimmung sehr aufgeladen. Als der Sieg fรผr Jung sicher war und viele den ankommenden โTitelverteidigerโ feierten, reagierten andere mit lauten, wรผtenden Buhrufen. Kurz nach den ersten Hรคndeschรผttelungen in der eigenen Siegesfeier, steckten Sebastian Gemkow und Burkhard Jung sicher noch nicht so freundlich, aber doch bestimmt, die Kรถpfe zusammen.
Und Torsten Bonew, immerhin der CDU-Finanzbรผrgermeister Leipzigs, diskutierte kurz aber heftig mit seinem alten und neuen Oberbรผrgermeister Burkhard Jung. Angesichts der gestiegenen finanziellen Mรถglichkeiten des Leipziger Stadthaushaltes vielleicht die eigentliche Paarung des Wahlabends. Bei aller Polarisierung im Wahlkampf mรผssen genau diese beiden Mรคnner auch weiterhin fรผr Leipzig weiterarbeiten.
Sebastian Gemkow wiederum hat die Chance, als weiterhin amtierender Wissenschaftsminister Sachsens seine Verbundenheit mit seiner Heimatstadt Leipzig zu beweisen. Fรผr den OBM-Posten war er angesichts seiner Podiumsdebattenflucht zu inkompetent.
Vorausgesetzt natรผrlich, dass dieser Wahlkampf nicht einfach nur eine teure Machtdemonstration der CDU Sachsen (siehe Impressum) gewesen sein soll. Bei der sie gleich zwei Leipziger Zeitungen korrumpiert hat. Doch dazu spรคter. Denn auch da verlaufen lรคngst Spalten innerhalb der Leipziger Stadtgesellschaft.
Wรคhrend Burkhard Jung noch feiert, ist er angesichts der durch das Wahlergebnis entstandenen Situation nicht wirklich zu beneiden fรผr seinen knappen Sieg. Fรผr vier Jahre hat er noch eine rot-rot-grรผne Mehrheit im Stadtrat, um seine Ziele umzusetzen. Dann kommt die nรคchste Kommunalwahl.
Liveticker OBM-Wahl in Leipzig: Tag der Entscheidung
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Es gibt 12 Kommentare
@m.k. Ich verstehe Michael Freitag eher so: Wenn er sichtbarer gewesen wรคre, hรคtte er vielleicht eher Wรคhler abgeschreckt.
Hm, ob das tatsรคchlich so gewesen wรคre?
@ michael freitag
D.h. dann wohl: wรคre der CDU-Kandidat weniger unsichtbar gewesen, hรคtte er gewonnen? Denn โandereโ sind fรผr alle KandidatInnen unterwegs (gewesen).
@MK โweilโ, nicht โobwohlโ er unsichtbar wurde. Den Rest haben andere fรผr ihn getan. Welche polarisierende und ausgrenzende Wirkungen allein das โLeipzigerโ dabei hatte, wird jetzt so langsam klar.
Um es mal ganz klar zu sagen: Jung hat ausschlieรlich nur deswegen geradeso die meisten Stimmen bekommen, weil LINKE und DIE GRรNEN sich aus dem Wahlkampf zurรผckgezogen und ihre Stimmen ihm zur Verfรผgung gestellt haben.
Eigentlich hat er verloren!
Obwohl Herr Gemkow quasi unsichtbar gewesen ist, hat dieser โUnsichtbareโ und Leipziger Nobody in alll seiner Unbeteiligtheit Herrn OBM fast das Zepter aus der Hand genommen. So sehr haben die LeipzigerInnen anscheinend die Nase voll vom politischen Gemauschel im Rathaus. An dem man nun auch die beteiligt weiร, die (fรผr welchen Posten und welche Absprachen wird man demnรคchst sehen) ihre Kandidatur nach dem 1. zurรผckgeszogen haben.
@Monika: Da kann ich nur zustimmen. Ich hรคtte mir auch eine Oberbรผrgermeisterin gewรผnscht. Aber fรผr z.B. Frau und grรผn scheint mir Leipzig noch nicht reif zu sein. Dass Jung OBM bleiben kann, geht in Ordnung. Aber der knappe Ausgang der Wahl sollte zu denken geben.
Ich hรคtte mir auch eine starke Kandidatin gewรผnscht, die Leipzig mehr nach vorn bringt, auch im sozialen Bereich und in der Umsetzung von Umweltzielen. Ich hoffe, dass Grรผne und Linke dem neuen/alten OB gehรถrig auf die Fรผรe treten. Das rรผckwรคrtsgewandte und neoliberale der CDU hรคtte Leipzig nicht gut gestanden. Vor allem weiร man ja nicht, wenn man CDU wรคhlt, ob man dann die AfD mitbekommt! Die
Gleichsetzung von Links und Rechts durch die CDU kotzt mich an. Die sollten mal vor ihrer eigenen Tรผr kehren, da gibt es genug ehemalige SED-Mitglieder drin, manche treten sogar aus, wenn sie nichts werden konnten, sogenannte Wendehรคlse.
Jeder Demokrat sollte Antifaschist sein!
Da muss man sich mal anhรถren, was der Herr Feist von sich gegeben hat, (Fische und Katzen).
So mรผssen wir jetzt mit dem kleineren รbel vorlieb nehmen, der sich aber klar gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus positioniert hat.
Auch aus meiner Sicht hat (glรผcklicherweise) das kleinere รbel gewonnen. Aber dieser Zweikampf schien mir schon absehbar, als sich vorher Grรผne und Linke nicht auf eine gemeinsame und starke Kandidatin/-en einigen konnten.
Aus meiner Sicht war das Wahlergebnis noch das Beste, was man aus der Ausgangssituation machen konnte.
Frischen Wind hรคtte ich auch sehr begrรผรt; aber mit der Besetzung im 2. Wahlgang? Nein!
Das kleinere รbel fรผr Leipzig hat gewonnen.
Der krachende Schuss vor den Bug sollte dem Sieger hoffentlich in den Ohren klingen!
Erschreckend โ wie das Unbekannte, stadtteilnahmslose und ebenso merkwรผrdig karriereaffine so knapp auf den zweiten Platz kommen konnte!
Die bekannten Hintergrundinformationen der beiden kรผnstlichen Platzhirsche haben mir schon lange vorher die Wahl verhagelt โ offensichtlich konnten die beiden trotzdem gut schlafen mit ihrer Kandidatur.
Fรผr interessantere Kandidaten war leider in Runde 1 bereits Schluss.
Hut ab vor der Kandidatin auf Platz 3 โ eine schlechte Wahl wรคre diese keinesfalls gewesen!
Ich finde es nur menschlich, wenn man nach Jahren des Herumรคrgerns mit Rechthabern, die zwar noch nie Verantwortung getragen haben, aber immer alles besser wissen, nach Alternativen sucht. Auรerdem ist man als OBM die Zielscheibe allen Unmuts โ gerechtfertigt oder nicht -, wie Sie, @Goldi, ja selbst in Ihrem ersten Beitrag erkennen lassen (Das Grauen! Huhh.). Ich hรคtte da ehrlich gesagt schon lรคngst das Handtuch geworfen.
Bezรผglich Hr. Gemkow war das sicherlich nicht so gut im Hintergrund zu bleiben. Aber das Vertrauen in Hr. Jung habe ich vรถllig verloren. Wer sich auf einen Posten bei der Sparkasse bewirbt dort verliert und dann aus der Not weil man nichts anderes findet sich dann doch wieder bewirbt ist fรผr mich unglaubwรผrdig.
Tja. Ich wรผrde mal sagen, das kommt davon, wenn man an den Wahltagen โWichtigeresโ zu tun hat. Die 49% die hingegangen sind und Jung gewรคhlt haben, sind jedenfalls nicht Ihrer Meinung @Goldi. Ich kรถnnte mir ja auch einen besseren OBM vorstellen. Aber Gemkow als Alternative? Der schon im Wahlkampf abwesend ist? Kaum.
Ein ganz schwarzer Tag fรผr Leipzig Hr. Jung wiedergewรคhlt. Das Grauen geht weiter. Nun mรผssen wir diesen Menschen nochmal 7 Jahre ertragen. Er windet sich wie ein Aal um Stimmen zu bekommen. Macht erst Zusagen dann verliert er den 1. Wahlgang und plรถtzlich weiร er von nichts mehr. Eigentlich gehรถrt er der falschen Partei an. Er wรผrde besser zu den Linken passen. Dem Mann geht es doch nur darum in der รffentlichkeit zu stehen. Aber er soll den Grรผnen schรถn in den Arsch kriechen. Herr Gemkow hรคtte Leipzig besser zu Gesicht gestanden. Mal frischer Wind. Na dann guten Nacht fรผr Leipzig