LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 76, seit 21. Februar im HandelZwei aussichtsreiche Kandidaten kennt die zweite Wahlrunde am Sonntag, den 1. März 2020 zur Oberbürgermeisterwahl in Leipzig. Der eine, Sebastian Gemkow (CDU) und der Amtsinhaber Burkhard Jung (61, SPD) stehen seit dem ersten Durchgang "Kopf an Kopf". Mit beiden hat die L-IZ.de / LZ Interviews geführt. Hier das lange Interview mit Burkhard Jung über persönliches und seine Pläne und Vorhaben in den kommenden sieben Jahren.
Sehr geehrter Herr Jung, 14 Amtsjahre liegen hinter Ihnen, nun bewerben Sie sich um weitere sieben. Sieben Jahre sind ja auch schon eine ganz schön lange Zeit. Hat man da nicht so ein bisschen das Gefühl, jetzt kommt ein Riesenbrocken auf mich zu? Und, schaff ich das überhaupt?
Nein, ich habe Kraft, ich will was tun, ich will gestalten. Natürlich ist die Gesundheit immer ein Thema. Ich bin jetzt 21 Jahre für die Stadt Leipzig tätig. In Siebener-Schritten, (lacht) die Sieben kommt mir entgegen: In sieben Jahren häutet sich der Mensch und fängt noch mal neu an. Ich bin noch nicht fertig.
Noch nicht frustriert von so manchem Rückschlag im Amt?
Manchmal schon, jeder Mensch ist manchmal auch frustriert. Aber insgesamt ist die Gestaltungsaufgabe als Oberbürgermeister – ich hoffe das klingt jetzt nicht zu pathetisch – eine großartige, wunderbare Aufgabe.
Vor allem im Verhältnis zum Freistaat Sachsen gibt es ja immer die Reibungsflächen, in den letzten Jahren haben wir viele Bremsvorgänge durch die Landesregierung erlebt.
Ja, aber da kann ich ja aufgrund meiner Erfahrung auch sagen: du musst dranbleiben, du musst das Brett bohren, du musst das Eisen schmieden. Was hab ich fürs Finanzausgleichsgesetz gekämpft, damit wir endlich die Fördermittel für den Schulbau bekommen haben. Das hat dann eben vier Jahre gedauert, aber wir haben es gekriegt. Da muss man hart verhandeln und an der richtigen Stelle charmant sein.
Ist das Verhältnis zum Freistaat jetzt besser mit dem neuen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU)?
Deutlich besser, ja. Das sage ich ganz offen. Mit Stanislav Tillich war die Zusammenarbeit fast unmöglich. Und mit MP Kretschmer geht die auch per SMS. Wir haben ein deutlich anderes Verhältnis, natürlich unterschiedliche Positionen, aber ich sehe, dass er auf seine Art das Land voranbringen will, dass er nicht gegen uns arbeitet, dass er die kommunale Ebene einbezieht. Das ist eine völlig andere Situation.
Es ist ja auch mittlerweile eine andere Koalition geworden.
Ja, man merkt das Umdenken – die Themen Umwelt, Sicherheit, kommunale Finanzen, das Thema Verhältnis von ländlich und urbanen Räumen … Man spürt ein anderes politisches Bewusstsein, eine andere Nähe und eine andere Dynamik. Das kommt mir sehr entgegen, und ich glaube, wir schätzen uns gegenseitig.
Das zeigt dann auf die nächsten sieben Jahre hin?
Genau.
Beim Thema Sicherheit haben wir jetzt gerade eine Silvesternacht in Connewitz hinter uns und diese eigentlich sehr verschrobene Sicherheitsdebatte danach. Der Herr Roland Wöller (Sachsens Innenminister, CDU) scheint doch noch nicht auf dem neuen Dampfer zu sein, oder?
Unser Innenminister braucht ab und zu einen Anstoß.
Hat er die Einladung wirklich ernst gemeint vom 6. November, als die Soko LinX gegründet wurde?
Ich will jetzt nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber doch soviel: Ich hab mich an den Ministerpräsidenten gewandt, um zu sagen, wir brauchen in Leipzig Hilfe.
Die Polizeistärke betreffend oder besondere Abteilungen?
Mir geht es nicht um die Soko LinX, mir geht es um die Polizeistärke. Mir geht es um das Thema: Nehmt uns im stark gewachsenen Leipzig ernst. Seid vor Ort, seid präsent. Seid wirklich Polizei im besten Sinne des Wortes, nämlich Ansprechpartner und Präventionspartner hier vor Ort. Darum geht es.
Es geht doch darum, dass wir sichtbar Regeln durchsetzen und Menschen das Gefühl geben: die Polizei kümmert sich. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Wir wollen eine gewaltfreie, friedliche Gesellschaft; die soll bunt sein, die soll frisch sein, die soll alternativ sein und jeder soll nach seiner Facon glücklich werden, solange er gewaltfrei bleibt und die Würde des anderen nicht verletzt.
Da hab ich das Gefühl, dass die Übereinkunft mit dem Ministerpräsidenten sich noch nicht bis in die letzten Verästelungen der Ministerien zieht.
Bis zum neuen Polizeipräsidenten? Wie hat sich denn das Verhältnis aus Ihrer Sicht zur Zeit mit Bernd Merbitz oder Horst Wawrzynski zu heute mit Torsten Schultze geändert? Bekannt ist, dass man sich eigentlich eng über den kriminalpräventiven Rat abstimmt und im Vorfeld von Großereignissen Informationen austauscht. Wir haben gehört, dass die Abstimmung nicht besser geworden sein soll.
Das gehört nicht in die Öffentlichkeit. Wir tun gut daran, miteinander immer wieder die Kooperation zu suchen, Abstimmungen zu suchen und den Bürgerinnen und Bürgern die Gewissheit zu geben: hier handeln Staat und Stadt Hand in Hand. Und es gibt ganz klare Regeln: Polizei ist Ländersache; Ordnung ist städtische Sache. Wir bereiten z. B. miteinander den EU-Gipfel im September vor, das läuft gut. Wir haben teilweise gemeinsame Bestreifungen zum Beispiel bei Fahrradkontrollen organisiert. Polizei und Stadt haben einen guten Kooperationsvertrag.
Aber es gibt da diesen fortlaufenden Vorwurf, Sie täten nicht genug für die Sicherheit. Es gibt den immer wieder wiederholten Vorwurf von konservativen bis rechten Kreisen, dass Sie hier eine Art Mitschuld tragen würden. Besonders bei den Fragen, wer wird wie in Leipzig soziokulturell gefördert. Es ist zwar irritierend, da dies ja Entscheidungen des Stadtrates sind und wenig mit Sicherheit zu tun haben, aber vielleicht sagen Sie etwas dazu?
Da sage ich gern was zu. Es geht mir völlig gegen den Strich, das ist ein unwissendes Gerede, um das mal wirklich so zu benennen. Meinen wir den Club, in dem die Toten Hosen spielen, den wir zumachen sollen? Oder meinen wir den alternativen Weihnachtsmarkt, wo der Ministerpräsident gerne mal mit seiner Lebenspartnerin einkaufen geht?
Welcher im Werk 2 ist, also direkt am Connewitzer Kreuz …
Genau. Oder meinen wir etwa ein veganes Restaurant in der Bornaischen Straße? Wir wollen eine bunte, alternative Stadt, wo Menschen auch unterschiedliche Lebensentwürfe leben können, und wir tun gut daran als Stadt, bestimmte soziokulturelle Aktivitäten, kulturelle Aktivitäten insgesamt, verschiedene Lebensentwürfe zu fördern. Und diese Buntheit gleichzusetzen mit Verbrechern, die dieses System ausnutzen und ihre Nischen finden, finde ich geradezu eine Unverschämtheit. Oder wollen wir die stromlinienförmige Gesellschaft?
Bei uns rennen Sie da jetzt nach Jahren der journalistischen Befassung durchaus ein bisschen offene Türen ein, aber was ist das für eine Philosophie über Gesellschaft, die solche Stromlinienförmigkeit fordert?
Ich hab mich dafür eingesetzt, dass wir zum Beispiel das „Zoro” an der Bornaischen Straße schützen, indem wir das Grundstück ankaufen und Spekulationen verhindern. Und ja, ich bin der Meinung, das „Conne Island“ bekommt seine institutionalisierte Förderung zu Recht und ohne „Demokratieerlass“. Wir sorgen durch den Fördermittelbescheid dafür, dass unsere Gesetze eingehalten werden.
Ein Oberbürgermeister mit anderen Einstellungen kommt vielleicht zu einem ganz anderen Ergebnis.
Dazu haben Sie auch ganz eigene Erfahrungen machen müssen. Uns hat überrascht, wie klar Sie bei der OBM-Wahldebatte in der Moritzbastei auf das Thema „Herr Jung wollte doch zu Sparkasse“ reagiert haben. Das war die Zeit, wo Sie auch bedroht worden sind, Sie haben ja auch einen sehr persönlichen Zugang zu diesem Thema.
… also noch einmal: Zum ersten Mal in meinem Leben hab ich körperliche Angst um meine Familie und mich selbst verspürt, insbesondere vom Jahreswechsel 2015 zu 2016. Es gab die große Debatte in der Michaeliskirche zum Thema Moscheebau.
Wir waren vor Ort dabei.
Und da entwickelte sich plötzlich eine Dynamik in Richtung Islamophobie, ein Hass im Hinblick auf Asylbewerber und Geflüchtete, die zu uns kommen … und ich fragte mich ungläubig: Was geht denn jetzt los? Und dann gab es Morddrohungen, anschließend Polizeischutz und später war der Galgen für mich am Container aufgesprüht. Da habe ich und auch meine Familie, meine Frau und meine Kinder, Angst bekommen.
Und ich fragte mich: Ich bin jetzt hier in dieser Stadt über zehn Jahre Oberbürgermeister und habe so etwas nie zuvor so erlebt. Ist das Dein Weg?
Vielen Ehrenamtlern und anderen Engagierten ist es ähnlich ergangen. Eine hässliche rechtsradikale Fratze wurde sichtbar. Anfang 2017 wurde ich angefragt: Wir möchten Dich als Oberbürgermeister in unserem kommunalen Sparkassenwesen zum Chef machen. Das darf keine „Landräte-Erbposition werden, jetzt ist mal ein Oberbürgermeister dran.“ Und ich habe gedacht, vielleicht ist das ja Dein Weg. Es ist anders gekommen und ich habe gemerkt: das ist gut so. Die Kandidatur war ein Fehler. Leipzig bleibt Deine große Aufgabe.
Es waren also für Sie immer zwei Optionen?
So war es. Ich bin mittlerweile froh, dass es nicht so gekommen ist. Die Leipzigerinnen und Leipziger können sicher sein, dass ich – wie bisher – bei einer Wiederwahl meine ganze Kraft für dieses so wichtige Oberbürgermeisteramt geben werde.
Dennoch bleibt die Sparkassengeschichte eine kleine Hypothek für Ihren Wahlkampf.
Ja, es wird immer mal wieder hochgezogen. Damit musste ich rechnen.
Na gut, das nennt sich Wahlkampf.
Aber komischerweise nicht bei dem einen Kandidaten, der zur Landtagswahl 2019 im Landkreis Leipzig kandidiert und für einige Monate Wissenschaftsminister wird … Das spielt so gar keine Rolle.
Das hat aber auch mit dem Denken der Zeit zu tun, politisch verkapseln sich ja immer mehr Menschen in einer bestimmten Blase und kommen auch durch den Medienkonsum, den sie haben, nicht mehr raus. Und das ist ja auch ein Thema für einen OBM, das Vermitteln von Themen. Wie erreicht man überhaupt noch die Stadtgemeinschaft?
Das Wort ist schön: es wird immer verkapselter. Vor zehn Jahren konnte ich eine Pressekonferenz machen und habe 50 Prozent der Bürgerschaft erreichen können. Da war klar: es kamen die LVZ, die Bild, das Radio, manchmal der MDR … Sie waren ja mit der L-IZ.de auch schon mit am Tisch. Sie hatten eine große Reichweite. Heute musst du unglaublich streuen – soziale Medien, das Amtsblatt, leipzig.de, die klassischen Medien, Radio-, Fernsehgeschichten … alle müssen einzeln bedient werden, damit du überhaupt eine Chance hast, ein Thema gruppenübergreifend breit zu vermitteln.
Das hat man ja auch bisschen gemerkt bei der OBM-Wahlkampf-Runde der IHK zu Leipzig, wo Dinge, die eigentlich vor zehn Jahren verhandelt wurden, auf einmal wieder als völlig neu auf den Tisch gepackt wurden. Der Ausbau des Auto-Rings in Leipzig ist so ein Thema, verzweifelt man da als OBM nicht ab und zu?
Ja, fast (lacht). Aber das ist nicht schlimm, weil jede Generation auch das gleiche Recht der Fragen hat – jetzt kommt der alte Lehrer in mir durch: Ich habe 20 Mal das Gleiche erzählt …
Nur, Kinder lernen es irgendwann.
Ja, aber auch neue Bürgerinnen und Bürger und Zugewanderte und Zugewachsene. Die Herausforderung heute ist, dass einige meinen – das klingt jetzt arrogant, aber ich meine es wirklich nicht arrogant –, dass Expertentum, Fachexpertentum und wissenschaftliche Fundierungen nicht mehr akzeptiert werden müssen. Man glaubt wirklich, man ist der bessere Verkehrsexperte, man ist der bessere Fußballtrainer, man ist der bessere …
Klimaforscher …
Klimaforscher … Oder da sagte doch tatsächlich der eine Kandidat: Ich habe überhaupt kein Verwaltungswissen und keine Verwaltungserfahrung, aber Unternehmer müssen ins Rathaus. Das demaskiert sich selbst.
Indizien für die genannten Kapseln, auch beim Klimaschutz. Manche Menschen sind derart überzeugt, dass Sie diese auch nicht mehr erreichen. Das konnten wir auf der „Fridays for Future“-Demonstration selbst beobachten. Nach den Gesprächen zwischen Fridays for Future und den vielleicht 10 Gegendemonstranten konnte man sich nur einigen, dass man sich jetzt nicht einig ist. Und sich in Frieden lässt. Mehr war nicht mehr möglich.
Aber doch setze ich auf Argumente und ein Argument hilft auch dann: Selbst wenn die recht hätten, die behaupten, es gäbe keine menschliche Einflussnahme auf den Klimawandel, ist ja wohl unzweifelhaft eine Klimaerwärmung zu beobachten. Und zumindest steht die Frage im Raum, wie gehen wir damit um, auch hier bei uns, oder? Zumindest diese Frage. Oder sind wir so unmenschlich und lassen Inseln mit Menschen ohne Versuche der Hilfe absaufen?
Bezüglich der Veränderungen, haben Sie auf mehreren Wahlpodien ausgeführt, wir hätten in absehbarer Zeit in Leipzig ein Klima wie in Barcelona und Sie haben da von „Chancen“ gesprochen. Was meinten Sie denn damit, welche Chancen? Wie muss man die Stadt nach Ihrer Meinung umbauen, um auf so etwas vorbereitet zu sein?
Ja, ob wir wollen oder nicht: wir werden eine deutliche Erwärmung in den nächsten Jahren haben. Und selbst wenn das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird, werden wir in 25 Jahren etwa norditalienische oder barcelonische Verhältnisse haben. Das heißt aber eben nicht, alle essen Eis auf der Straße und es ist nur schön. Nein, das heißt verdorrte Parks, die Grundwasserspiegel sinken, wir haben in der Tat Wasserprobleme. Dieses vermeintlich wasserreiche Land muss sich dringend mit neuen Klimaanpassungsstrategien beschäftigen.
Klimaanpassung heißt: wir müssen im Sommer kühlen, wir müssen ganz anders Fassaden und Dächer begrünen, wir müssen in Parks Bassins anlegen, wo Verdunstung eine Rolle spielt. Das kann man in Israel studieren.
Also im Prinzip künstliche Verdunstung in der Stadt schaffen.
Ja, und dabei ist der Energiebedarf für Klima- und Kühlanlagen gigantisch. Wie gehen wir also damit um? Wie können wir Klimaschneisen zur Frischluftzirkulation in der Stadt planen. Wie bleiben wir eine „Cool city“? Welche Technologien können wir entwickeln, um die fossilfreie, CO2 neutrale Energieversorgung der Stadt zu erreichen? Welche dieser Technologien können wir exportieren?
Derzeit soll – schaut man auf die größten Bauvorhaben am Eutritzscher Freiladebahnhof und am Bayrischen Platz – aber noch eher nach alten Standards gebaut werden, von echten Visionen mit Blick auf den Klimawandel sehen wir da noch nicht viel?
Wir haben in Leipzig auch mit Passivhausstandard gebaut, aber es fehlt noch z. B. die Vorzeigesiedlung. Nehmen wir den Bayerischen Bahnhof oder den Freiladebahnhof. Dort ist noch richtig Luft nach oben. Auch deshalb sag ich Chancen. Lasst uns doch mit unserem Ingenieurwissen, unserem Know How und unserer wissenschaftlichen Expertise technologische, innovative, auch unternehmerische Lösungsansätze finden, mit denen wir wieder Wirtschaftsleistung generieren können. Lasst uns Ökologie und Ökonomie wirklich versöhnen.
Also dasselbe Thema wie in ganz Deutschland, vielleicht sogar in die Richtung Vorzeigestadt Leipzig mit all unseren Flüssen und noch vorhandenem Grün, dass man hier anfängt was zu lösen?
Wir haben ja mit den wissenschaftlichen Einrichtungen wie z. B. die Universität, die HTWK und das Helmholtz-Umweltforschungszentrum (UfZ), eine unglaubliche Chance.
Wie könnte man die Forschung und die Wirtschaft in Leipzig besser vernetzen, gibt es da Ideen?
Wir haben als Stadt Kooperationsverträge mit allen wissenschaftlichen Einrichtungen in der Stadt; wir sitzen im Nachhaltigkeitsbeirat zusammen – die Verbindungen sind eng.
Und wie gehen solche Verbindungen in praktische Lösungen über?
Zum Beispiel eine Lösung, an der am UFZ gearbeitet wird, hat mich sehr bewegt: Die Technologie, die Kühlungsabwärme im Sommer im Grundwasser zu speichern, um sie für die Heizung im Winter zu nutzen, ist faszinierend, ja fast ein Perpetuum mobile.
Das ist nur nach Bundesgesetzgebung momentan nicht möglich, weil das Grundwasser streng geschützt ist. Hamburg macht gerade dazu einen Pilotversuch, in Skandinavien ist es bereits möglich. Ein Beispiel.
Was ich sagen möchte: Lasst uns nicht nur über den Klimawandel klagen, sondern lasst uns die Herausforderung positiv anpacken. Wir müssen uns diesem Thema stellen. Und wir haben eine globale Aufgabe, die wir lokal durchaus auch wirtschaftlich befruchten können.
Es gibt mittlerweile bereits psychologische Artikel darüber, dass Klimawandel aus der Betonung der Lasten in eine Lustbewegung kommen muss, weil man sonst Teile der Bevölkerung gar nicht erreichen wird. Weil sie die fundamentalen Veränderungen – teils aus Angst und Überforderung – ablehnen und nicht mitdenken oder mitmachen wollen.
Richtig, das ist der Unterschied zwischen Betroffenheit und Haltung. Betroffen sind wir alle, und die Bilder von Australien z. B. haben uns sehr gerührt. Aber daraus entsteht noch keine dauerhaft veränderte Haltung zum Thema. Wie ändern Menschen dauerhaft ihr Verhalten?
Noch scheint es eher eine Duldungsstarre bei vielen zu sein.
So ist es. Ein Beispiel: Wir steigen aus der Braunkohle aus, wir bauen ein Gaskraftwerk als Übergangstechnologie, ganz konkret. Zwar sind wir betroffen vom Klimawandel, aber einige wollen nun wieder kein Gaskraftwerk vor der Tür. Der Weg von der Betroffenheit zur Haltung und zur Veränderung des eigenen Verhaltens ist ein langer.
Weil wir bei konkreten Sachen sind, Sie haben im IHK-Wahlforum das 365-Euro-Ticket für 2021 angekündigt. Glauben Sie das?
Wir haben eine große Chance, Modellstadt des Bundes zu werden und die nötigen finanziellen Mittel zu bekommen. Vielleicht kommt uns auch ein wenig zugute, dass ich als Präsident des Deutschen Städtetages für die deutschen Städte sprechen kann. Natürlich ist dies aber nur ein Baustein für die Entwicklung hin zur nachhaltigen Mobilität, aber ein wichtiger. Die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur müssen selbstverständlich damit einhergehen. Wenn nur 10 Prozent vom KFZ auf den ÖPNV umstiegen, wäre dies schon ein großer Schritt gegen verstopfte Straßen und für weniger Emissionen im Verkehr.
Wir haben in der LZ das Thema 365-Euro-Ticket 2015 als Erste detailliert beschrieben und gefragt: wenn die Wiener das können, wie könnten wir das bei uns machen. Eingedenk der Tatsache, dass Wien natürlich Kommune und „Bundesland“ in einem ist und so die Fördermittel und Investitionen schneller bündeln konnten.
Das Grundprinzip ist von den Wienern. Und die haben erst in die Infrastruktur investiert.
Diese Investitionen müssten ja nun in Leipzig relativ schnell und in großen Summen kommen, wenn Sie das 365-Euro-Ticket 2021 schaffen wollen?
Ja, und es muss parallel passieren. Unser ÖPNV-System ist bei ungefähr 180 Millionen Fahrgästen an der Belastungsgrenze.
Es geht ja hier auch um das ganze Thema Nachhaltigkeitsszenario im ÖPNV, welches der Stadtrat 2016 bestellt und später beschlossen hat. Aber frühestens 2024 werden wir die ersten Effekte sehen. Eine elend lange Zeit von der Idee bis zu ersten Umsetzungen?
Aber das ist doch normal. Weil wir verantwortlich Politik machen. Entschuldigung, aber wenn ich höre, wir hätten geschlafen, wir hätten früher … Alles muss bezahlt werden können. Als ich das Rathaus als OBM übernahm, hatten wir knapp 1 Mrd. Euro Schulden, über 20 % Arbeitslosigkeit und einen Zuschuss an die LVB von über 50 Millionen; wir wussten nicht, wie wir den weiter finanzieren können. Am Ende muss der Gesamthaushalt der Stadt aufgehen.
Jetzt bei einer Arbeitslosigkeit von unter 6 %, bei einem rasanten Wirtschaftswachstum und 100.000 Menschen mehr in der Stadt, sind wir zum ersten Mal in der Lage, einen 56 Millionen Euro Zuschuss finanzieren zu können. Hinzu kommt das historische Fenster der verstärkten Bundes- und Landes-Förderung von Investitionen in den Fuhrpark.
Vor zehn Jahren fehlte jede Phantasie, wie wir unseren Straßenbahnaustausch gestalten sollen. Man muss immer die jeweilige Situation betrachten und sehr pragmatisch an das Machbare herangehen. Ich war lange gegen das 365-Euro-Ticket, wenn wir es aus eigener (kommunaler) Tasche bezahlen sollten. Das schaffen wir ohne weitere Unterstützung nicht allein.
Das heißt, wir haben die ganze Zeit auf den Bund gewartet, bis der in Sachen ÖPNV ausgeschlafen hat?
Ja auch. Wir haben auf Land und Bund Druck ausgeübt, alternative Finanzierungsmöglichkeiten durchdacht und die wirtschaftliche Kraft der LVV gestärkt, um all das realisieren zu können.
Und was war noch zwischendurch? Ein Riesenprozess in London rings um die Kommunalen Wasserwerke, der uns im Hinblick auf Investitionen gelähmt hat.
Ja, die L-Gruppe musste Rückstellungen bilden, um das Prozessrisiko abzusichern.
Ja natürlich.
(M.F.) Also mich freut das, wenn es bereits 2021 losgehen würde, ich gewinne meine Wette gegen den ehemaligen Stadtrat René Hobusch (FDP), da er mir mein erstes 365-Euro-Ticket bezahlen muss, wenn es vor 2027 kommt. Ich wäre dennoch überrascht, wenn es tatsächlich so schnell ginge.
Die Entscheidung fällt jetzt. Und dann brauchen wir sicherlich eine Pilotphase, einen Vorlauf bis zur Einführung. 2021 ist realistisch.
Das wäre ein Ding. Das ganze Tarifsystem muss umgebaut werden, Vorabinvestitionen getätigt, bei Einführung begleitend nachgesteuert werden …?
Nehmen Sie mich beim Wort. Im Unterschied zu manch anderen schreibe ich auf die Plakate nur das, von dem ich glaube, dass es wirklich geht.
Sind Sie eigentlich sehr zufrieden mit Ihren Plakaten?
Ich bin mit den Fotos sehr zufrieden, die Slogans mag ich sehr, aber die Lesbarkeit hätte ich mir besser gewünscht. Ansonsten bin ich sehr konkret, ich will abrechenbar sein in dem, was ich gemacht habe. Da kann man mich festnageln: was hast du versprochen, was hast du gehalten.
Den Test würde ich mit Ihnen am liebsten machen: Sie können mein Wahlprogramm von 2013 nehmen, jeder Punkt wurde erfüllt oder übererfüllt.
Da sind Sie aber der einzige, wo wir das abgleichen könnten, das können wir nicht mit den anderen Kandidat/-innen vergleichen.
Auch jetzt, 2020, bin ich wieder konkret:
10.000 Sozialwohnungen, 1 Milliarde für den Öffentlichen Nahverkehr, Braunkohleausstieg bis 2023, das 365-Euro-Ticket kommt bis 2021 und 40 neue Schulen.
Also man merkt, Sie wollen wirklich gewinnen, Sie wollen wirklich Oberbürgermeister bleiben.
Ja klar will ich gewinnen. Aber Hallo. Wer tut sich das denn sonst an?
Aber für die 10.000 Sozialwohnungen in Leipzig müssen Sie noch jemanden überzeugen, Ihnen ein bisschen mehr Geld zu geben.
Ja, wir haben in den neuen Kenia-Koalitionsvertrag in Sachsen die höhere Förderung hineinverhandelt, wie Sie wissen. Es gibt mehr Fördergelder für den sozialen Wohnungsbau vom Land Sachsen. Es wird dann die Frage sein, wie viel gibt es wirklich und tatsächlich mehr. Wir brauchen für Leipzig 20 Millionen Euro mehr.
Pro Jahr?
Ja, sodass wir 1.300 Sozialwohnungen im Jahr bauen können. Und sieben mal 1.300 macht 9.100, plus die Sozialwohnungen von 2019 sind ca. 10.000.
Und da ist dann noch die „kleine“ Frage nach der schlussendlichen Miete, den berühmten 6,50 Euro pro Quadratmeter in der letztendlichen Vermietung.
Das ist in der Tat die Frage, kriegen wir die 6,50 Euro pro Quadratmeter hin. Im März trifft sich wieder mein Bündnis Bezahlbares Wohnen. Da geht es auch um Fragen wie: was ist Luxus, was ist Standard heute, Stellplätze und energetische Sanierung kontra Wirtschaftlichkeit…
Wir können ja alle Arbeitgeber inklusive uns selber auffordern, den Leuten mehr zu bezahlen, dann haben wir das Problem auch gelöst …
Wobei es ja da auch eine wunderbare Entwicklung in Leipzig gibt, wir haben in den letzten Jahren steigende Nettolöhne, endlich!
Dennoch ist es eine Frage des Tempos beider Anstiege, also Mieten und verfügbare Einkommen geworden.
Dennoch stehen wir praktisch fast vor der Vollbeschäftigung in Leipzig. Ich habe letztes Jahr gesagt, wir schaffen eine 5 vor dem Komma. 5,9 Prozent Arbeitslosigkeit im Dezember heißt nach jetzigem Stand 5,2 bis 5,3 im Dezember 2020.
Wegen Verrentungen und fehlendem Nachwuchs?
Jein. Das stimmt nicht ganz, weil wir in den Arbeitsmarkt die gleiche Zuwanderung haben. Das heißt in jedem Fall, wir nähern uns der Vollbeschäftigung. Die Aufgabe der Zukunft ist die Sicherung der notwendigen Fachkräfte. Und diesen Mangel wird man im Portemonnaie merken, denn die Fachkräfte müssen in der Zukunft besser bezahlt werden, na klar. Sonst kommen sie nicht.
Wir haben ja von Finanzbürgermeister Torsten Bonew 2019 bereits im Stadtrat gehört, dass die Zuwanderung aus dem (Um)Land Sachsen nach Leipzig fast erschöpft ist. Wir reden also eher über andere Metropolen, mit denen Leipzig mittlerweile einen Wettstreit um kluge Köpfe erlebt?
Richtig. Wenn Mercateo von München nach Leipzig zieht, ist das das beste Beispiel. Mercateo hofft, in Leipzig besser als in München gute Arbeitskräfte zu bekommen.
Müssen die Leipziger also noch besser Löhne und Gehälter verhandeln lernen? Im Ernst: Das ist ja gerade der Wettlauf zwischen Mietsteigerungen und den Löhnen? Wie gibt es am Ende bezahlbaren Wohnraum, nach dem Gehalts- und Einkommensgefüge der Stadt Leipzig?
Wir brauchen den Wohnraum nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen und nach ihren finanziellen Möglichkeiten. Das beste Instrument, Menschen zu helfen, ist das Wohngeld. Wir müssen es auf Bundesebene schaffen, dass das Wohngeld erhöht wird.
Also das eigentlich noch als zusätzliche Förderung, neben der direkten Förderung des sozialen Wohnungsbaus?
Ja, ganz gezielt, sodass der einzelne Mensch mit schwachem Einkommen in seiner Wohnung bleiben kann oder dorthin ziehen kann, wo er gebraucht wird. Dass die Busfahrerin oder der Krankenpfleger nicht eine Stunde in die Stadt fahren müssen, sondern möglichst dort wohnen, wo sie arbeiten.
Was die Frage anschließt, wie man unnötigen Pendlerverkehr vermeidet. In anderen (meist westdeutschen) Großstädten ist das Problem längst, dass normal verdienende Menschen zur Arbeit aus den Umliegerstädten einpendeln müssen. Was zusätzliche Verkehrsprobleme schafft.
Deshalb sag ich noch mal, wir reden zum einen von Sozialwohnungen, ja, richtig. Aber genauso wichtig sind außerdem die Anpassung des Wohngeldes als subjektbezogene Förderung, die genau und gezielt ankommt oder andere Instrumente, wie Milieuschutzsatzungen, der Vorrang der Kommune beim Erwerb von Bundeseigentum wie beispielsweise von der Bahn, um selbst Wohnungen zu entwickeln.
Frage außerhalb der Kandidatenkür: welche Möglichkeiten hat da letztlich der Städtetag als Gremium überhaupt und Sie selbst in dieser Position, dort Forderungen wie beispielsweise zum Wohngeld beim Bund aufzustellen?
Oh, das geht schon ganz gut. Also nehmen wir z. B. das Thema, dass jetzt wirklich Bundeswehrflächen nicht mehr auf dem freien Markt veräußert werden sollen und erst die Kommunen gefragt werden müssen. Das ist eine Forderung des Städtetages, die wir durchgesetzt haben. Über den Bundestag in die Koalition hineingetragen und dann auch verankert im Koalitionsvertrag. Und wenn ich als Präsident bei Horst Seehofer bin, reden wir über soziale Städtebauförderung oder bei Andreas Scheuer eben über Verkehrspolitik.
Das sind bestimmt schöne Termine.
Sie sind zumindest von enormer Bedeutung auch für die Stadt Leipzig.
Ist schon eine spannende Dopplung, die Sie da haben.
Ja, du wirst gehört. Du kannst auch die Themen des Ostens ganz anders thematisieren. Denn sind wir mal ehrlich, die haben aus städtischer Perspektive ja kaum eine Rolle gespielt.
Das sagen Sie gerade dem einzigen genuin ostdeutschen Tages-Medium, danke.
Das ist so. Wir hatten in den letzten Jahren mit Christian Ude, Ulrich Maly, Petra Roth und Marcus Lewe sehr gute Städtetagspräsidenten. Das bedeutete aber auch, dass die urbanen Sorgen aus der Perspektive von München, Nürnberg, Frankfurt und Münster vorgetragen wurden. Und jetzt plötzlich kommt da Leipzig ganz anders ins Spiel. Und wäre nicht gerade OBM-Wahlkampf, könnte ich mich des Öfteren in der Tagesschau zu Themen dieser Republik äußern.
Bei diesen Themen kommt einiges für Leipzig dennoch um locker 20 Jahre zu spät, allein, wenn man die Flächenproblematik und die längst verkauften Grundstücke betrachtet. Der Bund hat beispielsweise bereits fast alles verkauft was an Kasernenfläche da war, die Bahn hat …
Richtig. Die Bahn. Unglaublich eigentlich. Oder ein anderes Beispiel, wieso muss eine deutsche Rentenversicherung nicht erst mal eine Kommune fragen, ob sie die Fläche in der eigenen Stadt benötigt? Wieso musste die Telekom nicht erst mal eine Kommune fragen? Es handelt sich schließlich – jetzt sag ich mal ganz klassisch – um Volkseigentum, oder?
Vielleicht sind einfach die 30 Jahre Neoliberalismus über uns drübergerollt und jetzt diskutieren wir wieder anders?
So ist es.
Wir haben jetzt sogar seitens der neuen SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken auf einmal wieder Diskussionen über das Wort Demokratischer Sozialismus?
Es stand immer im SPD-Programm, das haben nur einige vergessen.
Andererseits hat der FDP-Kandidat auf Wahlforen verkündet: der Unternehmer muss ins Rathaus.
Nein. Wir sind zuvörderst eben kein Unternehmen, Donnerwetter. Eine Bußgeldbehörde, eine Inobhutnahme nach Paragraph 42 SGBVIII hat weiß Gott nichts mit Unternehmertum zu tun. Das ist Daseinsvorsorge, das ist Eingriffsbehörde, das ist Kindersicherung, die Einhaltung von Kinderrechten kontra Erwachsenenmissbrauch, das hat mit Unternehmertum rein gar nichts zu tun.
Gleichzeitig ist die Stadt Leipzig selbst auch „Unternehmer“. Mit der L-Gruppe als Stadtholding ist die Wirtschaft in Leipzig stark kommunal orientiert, bei noch immer wenigen großen Privatfirmen …
Hast du in Westdeutschland auch.
In welcher Stadt? Würde mich überraschen, gerade in Westdeutschland haben viele Städte beispielsweise ihre Stadtwerke verkauft.
Viele Städte haben ihre Werke noch – Stuttgart, Bielefeld, München, Hannover, Köln … Das hat ja Hinrich Lehmann-Grube aus Hannover und aus Köln mitgebracht, hier in Leipzig eine starke Kommunalwirtschaft zu entwickeln. Daseinsvorsorge gehört in Bürgerhand. Und mit diesem Ansatz ist dann auch Wirtschaftsförderung zu betreiben.
Um das abzuschließen: Stadt ist – ja – auch Unternehmer mit ihren Unternehmen und einzelnen Produkten, Stadt ist auch Dienstleister und am Bürger als Kunden orientiert, aber sie ist eben auch Eingriffsbehörde und Staat. Und damit unterliegt die Kommune eben nicht den allein marktwirtschaftlichen Gesetzen, sondern sie ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Und in dieser Spannung entwickelt sich Stadt- und Kommunalpolitik.
Das heißt, es braucht einen besonderen Typus, der sich um dieses Amt bewirbt?
Vielen Dank für die Frage. Ja, ein Oberbürgermeister ist vielleicht einer der letzten Enzyklopädisten. Er oder sie müssen fast alles beantworten können, was Bürgerinnen und Bürger fragen, muss repräsentieren, muss reden, leiten und lenken können, unternehmerisch denken und muss vor allen Dingen dem Gemeinwohl verpflichtet sein.
Das ist nicht unbescheiden in einer 600.000-Einwohner-Stadt, die wir jetzt geworden sind. Wir denken ja auch ein bisschen über diese Mechanismen von Politik nach, die man im Stadtrat verfolgen kann. Wo eigentlich teilweise hochspezialisierte Stadträte mit der Stadtverwaltung, mit dem OBM in Diskussion kommen und wo wir ja nun auch live zuschauen können per Videostream. Dort wird ja deutlich, wie kompliziert manche Materie ist – oft zur Enttäuschung der Zuschauer: jetzt hab ich’s wieder nicht begriffen.
Und dann ist es oft auch zu lang, zu langatmig. Aber manchmal ist es eben wichtig, weil manch Kurzes ist einfach zu kurz; auf die Antwort müssten wir eigentlich 12 weitere Fragen stellen – was ja dann bei dem Programm des Stadtrates kaum möglich ist.
Warum sind die jetzt immer so lang geworden, die Stadtratssitzungen? Das war ja vor 5–10 Jahren nicht so?
Ja, wir haben teilweise eine unglaubliche Detailverliebtheit, einen heterogeneren Stadtrat, und manche Dinge werden auch wirklich immer komplexer.
Oder wird nicht einfach auch mehr erklärt?
Nein, glaube ich nicht. Es wird weniger hinter verschlossenen Türen und stattdessen mehr auf dem Marktplatz im Stadtrat verhandelt. Und es wird auch komplizierter und komplexer in dieser unglaublichen Geschwindigkeit, in der sich diese Stadt entwickelt.
Augenscheinlich sind wir also aus dem Transformationsprozess nach 1990 noch nicht raus, im Gegenteil.
So ist es, ja. Und wir tun gut daran, dabei möglichst viele anzuhören und mitzunehmen. „Hör dir das an, sei nicht so schnell fertig.“ Das heißt auch, lieber eine Schleife noch mal einlegen. Das ist jedenfalls meine Art, mit unseren Herausforderungen umzugehen. Auch die kleinen Fraktionen, auch ein einzelner Stadtrat kann sehr Kluges beisteuern. Demokratie ist eben auch, das Gehör für die Minderheit zu haben.
Das klingt alles so, als ob Sie einen Co-OB neben sich hätten. Man hat ja oft das Gefühl, Sie haben sich sehr viel auf den Tisch gezogen. Sind Sie eigentlich ein echter Teamplayer oder machen Sie doch lieber alles alleine? Die einen sagen so, die anderen sagen so.
Fragen Sie die anderen. Nein, ich muss abgeben, ganz klar. Du musst als OB delegieren, du brauchst Teamfähigkeit, aber du musst manchmal auch sehr einsam entscheiden.
Abschließend zur Wirtschaft. Es wird immer viel über die Wirtschaftsstruktur dieser Stadt gesprochen, bestehend aus vielen kleinen Unternehmen. Hat Leipzig eigentlich so etwas wie einen „Hidden Champion“?
Ja, haben wir. „Hidden Champions“ sind Unicorns ab 1 Milliarde Euro Umsatz, aus einem Start Up geboren. Die HHL war hier mehrfach Geburtshelfer.
Dahinter steckt ja die Frage, wo Leipzig wirtschaftlich hingeht in den kommenden Jahren – München vor Augen? Sicher mit deutlich mehr Vorlauf nach 1945 …
München ist nicht vergleichbar; München hat 1 Mio. Einwohner, Dax-Unternehmen und Konzernzentralen wie Siemens und BMW, hatte die olympischen Spiele 1974, was mächtig Auftrieb gegeben hat und ist schon lange die Schwarmstadt.
Dann zu den Unternehmen, die den „Leipziger Mittelbau“ ausmachen, was könnte die Stadt Leipzig konkret in der Förderung von den Unternehmen mehr tun, die um die fünf Angestellte haben?
Das sind immerhin rund 27.000 in Leipzig.
Das ist demnach die Basis-Struktur dieser Stadt.
Stellen wir uns mal vor, jedes stellt eine/n weiteren Mitarbeiter/in ein …
Die Frage ist also, gibt es da wirksame Förderungen auf kommunaler Ebene, von denen wir noch nichts gehört haben?
Stellen Sie sich eine Pyramide vor: 1. der OB ist auch Marketingchef der Stadt. Das heißt, er bewirbt und repräsentiert die Stadt nach außen, national und international. Das kann man je nach Adressatenschaft mit RB Leipzig, mit Johann Sebastian Bach, mit der Messe, mit der Universität u. a. machen. Dieses Marketing ist auch für die „Kleinen“ wichtig, denn das können sie in der Regel nicht aus eigener Kraft.
Das muss dann 2. heruntergebrochen und branchenbezogen verstärkt und nach dem stärksten Marketingpotential geclustert werden. Hier organisieren wir das jeweilige Netzwerk. Hier haben die kleineren Unternehmen die Chance gehört zu werden, ihr werdet wahrgenommen.
Die 3. Ebene ist die konkrete Anwerbung durch die Wirtschaftsförderung oder unserer Gesellschaft Investregion Leipzig, neue Unternehmen anzusiedeln. Jedes Unternehmen, das dazukommt, ist wieder eine Möglichkeit, Geschäft zu generieren.
Darüber hinaus sprechen wir hier aber auch ganz konkret von Geld. In Zeiten zurückhaltender Banken, die gerade den Kleineren kaum Kredite vor allem in der Startzeit gewähren …
Ja, auch darauf haben wir bereits reagiert. Ich habe 2013 ein Mittelstandsprogramm aufgesetzt. Wir nehmen als Stadt Geld in die Hand, das wir mittelständischen Kleinst- und Kleinunternehmen geben können. Das hat sich sehr bewährt. Manchmal nur ein 1.000er, der verrückterweise genau fehlt, um die nächsten zwei Monate zu überstehen.
Sie haben in dem Zusammenhang auch das SpinLab und zugegebenermaßen auch sich selbst gelobt bei dem OBM-Wahlpodium rings um die Digitalisierung in Leipzig.
Die Frage ist ja, wie bringst du alle zusammen, wie kannst du Start Ups entwickeln? Ich sehe mich noch mit Judy Lübke (Galerie Eigenart) abends in der „Spinnerei“ sitzen, und wir haben die Idee des SpinLabs geboren. Aus der Überlegung heraus, wie kriegen wir Kunst, Unternehmen und Wagniskapital zusammen.
Und Eric Weber (Geschäftsführer des SpinLabs) macht das bis heute phantastisch. Auf dem Campus der „Bio-City“ und des Spin-Labs, in einem neuen digitalen Startup Labor als Stadt selbst zu agieren, über unsere Stiftung Innovation und Technologietransfer Wissenschaft und Wirtschaft zu vernetzen … So kannst du das weiterbuchstabieren.
Eine nächste direkte Wirtschaftsförderung sind die städtischen Investitionen, die im Wesentlichen der Wertschöpfung in der Stadt und der Region verpflichtet sind. Wie organisieren wir denn Vergabe?
Sind Sie da weitergekommen? Also es gibt Vergaben, wo man sich manchmal fragt, müssen die wirklich europaweit ausgeschrieben werden?
Die Kunst besteht darin, europaweit auszuschreiben und trotzdem Wertschöpfung in der Region zu generieren. Wir bauen eine Schule und die Schule wird zu 75 Prozent in der Wertschöpfung hier verantwortet.
Was sollte da auch jemand aus Barcelona einfliegen und hier die Toiletten installieren?
Auch das ist ein Riesenfeld. Uns international aufzustellen, können kleinere Unternehmen in der Regel nicht. BMW und Porsche brauchen den OB dafür nicht, umgekehrt können wir uns als Stadt dort andocken. Unsere Kultur wiederum ist eine großartige Möglichkeit, international Andockpunkte zu schaffen, die wiederum den Kleinen, aber auch großen Unternehmen nützen. Ich sehe mich noch mit NEL (LED und Lichtanlagen) in China am Anfang, heute haben sie sich dort einen Markt erarbeitet.
Oder die Firma Blüthner, wo ich eine Zweigstelle in Nanjing (chin. Partnerstadt Leipzigs) miteröffnen durfte. Heute verkauft Blüthner ebenfalls seine Klaviere und Instrumente ganz hervorragend in Nanjing. Das heißt, wir können Türen öffnen, mitnehmen, Verbindungen schaffen, mit unserer Messe und den Kammern gemeinsam agieren (zum Beispiel in Moskau die Denkmalmesse veranstalten), ja auch das Leipziger Handwerk andocken und mit Porsche einen gemeinsamen Werbeauftritt in Moskau durchführen.
Oder ganz anders: wir können mit unseren städtischen Verbindungen aus Vietnam Fachkräfte hierher holen, ausbilden, um auch z. B. im Handwerk oder in der Pflegebranche weiterzukommen. Städtische Wirtschaftsförderung ist sehr vielfältig.
Deswegen wollte ich das Fass wenigstens noch mal aufmachen, weil das viele nicht verstehen. Die Stadt spielt eine zentrale Rolle, um die Wirtschaft und damit Leipzig voranzubringen. Vor allem international.
Wir danken für das Gespräch.
Der Leipziger OBM-Wahlkampf in Interviews, Analyse und mit Erfurter Begleitmusik
Der Leipziger OBM-Wahlkampf in Interviews, Analyse und mit Erfurter Begleitmusik
Hinweis der Redaktion in eigener Sache (Stand 24. Januar 2020): Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen. Doch eben das ist unser Ziel.
Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen und ein Freikäufer-Abonnement abschließen (zur Abonnentenseite).
Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Aufrechterhaltung und den Ausbau unserer Arbeit zu unterstützen.
Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 350 Abonnenten.
Keine Kommentare bisher