Es war eines der groรen Themen der vergangenen Monate: Soll Leipzig den Klimanotstand ausrufen? Zunรคchst hatte es das Jugendparlament gefordert, vor einigen Wochen dann auch der Oberbรผrgermeister. Noch unmittelbar vor der Ratsversammlung am Mittwoch, den 30. Oktober, gingen zahlreiche รnderungsantrรคge ein. Letztlich hat der Stadtrat Leipzig nach bewegter Debatte den Klimanotstand ausgerufen sowie umfangreiche Maรnahmen und Ziele beschlossen.
Konstanz, die grรถรte Stadt am Bodensee und direkt an der Grenze zur Schweiz gelegen, hat sich vor fast genau einem halben Jahr einen Platz in den Geschichtsbรผchern gesichert. Am 2. Mai 2019 rief der Gemeinderat einstimmig den sogenannten Klimanotstand aus. Es war die erste Stadt in Deutschland, in der ein solcher Beschluss gefasst wurde. Mehr als 60 Stรคdte folgten in den kommenden Monaten.
Fast die Hรคlfte dieser Stรคdte liegt in Nordrhein-Westfalen. Auch in Baden-Wรผrttemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein wurde im vergangenen halben Jahr vermehrt der Klimanotstand ausgerufen. In den ostdeutschen Bundeslรคndern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thรผringen ist das bislang nur in einer Stadt der Fall: in Jena. Dort gilt seit dem 4. September offiziell der Klimanotstand.
Leipzig sollte nun als zweite Stadt in Ostdeutschland und erste Stadt in Sachsen folgen. Einen entsprechenden Antrag hatte das Jugendparlament bereits im Frรผhling in den Stadtrat eingebracht.
โDie Stadt Leipzig verhรคngt mit sofortiger Wirkung den Klimanotstand und rรคumt dem Klimaschutz sowie dem Schutz der Bevรถlkerung vor den Folgen des Klimawandels die hรถchste Prioritรคt einโ, heiรt es darin. Zudem soll die Verwaltung jรคhrlich am 21. Juni รผber โden umweltpolitischen Zustand der Stadtโ und darรผber, โwelche Maรnahmen geplant und umgesetzt sindโ, berichten.
Nachdem Oberbรผrgermeister Burkhard Jung (SPD) bereits Ende September angekรผndigt hatte, den Klimanotstand ausrufen zu wollen, verรถffentlichte die Verwaltung Anfang Oktober ihren Standpunkt zum Antrag des Jugendparlaments.
Darin heiรt es folgerichtig: โDie Stadt Leipzig, welche fรผr sich eine Vorreiterrolle im Klimaschutz beansprucht, ruft den Klimanotstand aus und bekennt sich damit zu einem verantwortungsvollen Engagement gegen die wissenschaftlich belegte und fortschreitende globale Erderwรคrmung.โ
Ziel sei es, โdie negativen Auswirkungen auf das Weltklima auch auf lokaler Ebene so gering wie mรถglich zu haltenโ.
Konkret soll das fรผr Leipzig unter anderem bedeuten
Klimaneutralitรคt bis 2050, ab 2020 jรคhrlich eine klimapolitische Stunde im Stadtrat sowie mehr Mitsprache fรผr Umweltverbรคnde und โ vereine. Zudem mรถchte sich der OBM โals Prรคsident des Deutschen Stรคdtetags fรผr eine ambitionierte Klimaschutzpolitik auf Bundesebeneโ einsetzen.
Der vielleicht wichtigste Satz im Beschlussvorschlag der Verwaltung lautet: โBei allen stรคdtischen Entscheidungen sind der Klimaschutz sowie der Schutz der Bevรถlkerung vor den Folgen des Klimawandels prioritรคr zu beachten.โ
Neben Umweltorganisationen wie BUND und รkolรถwe hatten sich Linke, Grรผne und SPD bereits im Vorfeld der Ratsversammlung dafรผr ausgesprochen, den Klimanotstand auszurufen. Die SPD รผberlegte es sich kurz vor der Ratsversammlung jedoch anders.
In einem kurzfristig eingebrachten รnderungsantrag schreibt die Fraktion: โWir sehen eine Streichung des Begriffs โKlimanotstandโ aus dem Beschlussvorschlag als notwendig an, weil der Begriff zusรคtzliche รngste schรผrt, statt die Menschen an diesem Punkt von der Notwendigkeit der Reaktion auf den Klimawandel zu รผberzeugen und mitzunehmen.โ
Zudem sprach sich die SPD im selben รnderungsantrag dagegen aus, ab 2020 jรคhrlich eine klimapolitische Stunde im Stadtrat zu veranstalten, weil fachpolitische Stunden mittlerweile nicht mehr vorgesehen seien.
Linksfraktion und Grรผne prรคsentierten zu Beginn der Woche einen gemeinsamen รnderungsantrag, nachdem sie zuvor jeweils eigene Antrรคge eingebracht hatten. Dieser basiert auf dem Standpunkt der Verwaltung und ist mit Jugendparlament und โFridays for Futureโ abgestimmt. Beide Fraktionen betonen darin, dass die Klimaneutralitรคt spรคtestens 2050 erreicht werden soll โ aber lieber schon frรผher.
Zuvor hatte die Linksfraktion noch gefordert, die Klimaneutralitรคt bis 2035 anzustreben. Nun heiรt es, dass bis 2035 zumindest die Verwaltung klimaneutral sein soll. Ein entsprechendes Konzept sei bis Ende 2020 vorzulegen. Zudem soll die Verwaltung bis Ende 2022 ein Konzept zur klimaneutralen Strom- und Wรคrmeversorgung im Jahr 2040 erarbeiten.
Ein weiterer Vorschlag des gemeinsamen Antrages lautet: โDarรผber hinaus fรผhrt die Stadt Leipzig ein Klimaschutz-Monitoring ein, mit dem Fortschritte oder Rรผckschritte privater und รถffentlicher Maรnahmen beim Klimaschutz messbar gemacht werden.โ
Anders als von der Stadtverwaltung beabsichtigt, sollen zudem nicht nur Umweltverbรคnde und -vereine mehr Mitspracherecht erhalten, sondern auch Fraktionsvertreter/-innen und Mitglieder des Jugendparlaments. Die SPD forderte in ihrem รnderungsantrag zudem, auch Fachleute aus Wirtschaftsverbรคnden, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften zu beteiligen.
Die Gegenstimmen
Die rechtsradikale AfD, die den menschengemachten Klimawandel leugnet, รคuรerte sich schon vor der Ratsversammlung ablehnend. Sie werde gegen den Antrag des Jugendparlaments stimmen, weil es โwesentlich wichtigere Themenbereicheโ gebe. Es handle sich dabei um โSymbolpolitikโ und โKlimahysterieโ.
Die CDU sprach sich ebenfalls gegen die Ausrufung des Klimanotstands aus, weil in der Stadtentwicklung nicht einem Aspekt der Vorrang gegeben werden soll und der Begriff die Bevรถlkerung verunsichern kรถnne. Stattdessen soll die Verwaltung die Fortschreibung des stรคdtischen Energie- und Klimaschutzprogramms โbeschleunigenโ.
Kurz vor der Ratsversammlung brachten schlieรlich auch die Freibeuter noch mehrere รnderungsantrรคge ein. Unter anderem schlugen sie vor, dass Verwaltung und Eigenbetriebe kรผnftig keine Fahrzeuge mehr anschaffen sollen, die mit fossilen Energietrรคgern arbeiten. Die drei FDP-Mitglieder der Fraktion forderten zudem โ รคhnlich wie die SPD โ, auf den Begriff โKlimanotstandโ zu verzichten.
Demonstrationen vor der Tรผr und im Saal
Am Tag der Ratsversammlung am Mittwoch, den 30. Oktober, gab es eine Kundgebung vor dem Neuen Rathaus. Die Teilnehmenden warben dafรผr, den Klimanotstand auszurufen. Dazu aufgerufen hatten unter anderem der รkolรถwe, der BUND, Fridays for Future, Extinction Rebellion sowie Linksjugend und Grรผne Jugend.
Die folgende Debatte im Festsaal des Neuen Rathauses begann mit einer kleinen รberraschung. Mehrere Menschen entrollten auf der Gรคstetribรผne ein Banner mit der Forderung, den Klimanotstand auszurufen.
Oberbรผrgermeister Jung ermahnte sie daraufhin, auf politische Botschaften sowie Klatschen und รคhnliche Emotionen zu verzichten โ so wie es die Hausordnung vorsehe. Eine Bitte, der die Anwesenden nur teilweise nachkamen. Jung duldete die gelegentlichen Jubel- oder Unmutsbekundungen, was wiederum die AfD stรถrte, die mehrmals forderte, die Hausordnung einzuhalten.
Annegret Janssen aus dem Jugendparlament erรถffnete die Debatte, indem sie die Kontroverse um den Begriff โNotstandโ aufgriff. Dieser bedeute eine โgefรคhrliche Situation, die durch schnelles Handeln bereinigt werden mussโ. Genau das sei der Fall. Es gehe nicht darum, Menschen mit diesem Begriff Angst zu machen. Janssen erklรคrte, dass sich das Jugendparlament dem gemeinsamen Antrag von Linksfraktion und Grรผnen angeschlossen habe.
Linkspolitiker Michael Neuhaus verwies auf zahlreiche Tote in Deutschland wรคhrend des Hitzesommers im vergangenen Jahr: โEs macht mich wรผtend, wenn das als Panikmache und Klimahysterie verunglimpft wird.โ Er dankte insbesondere Aktivist/-innen wie jenen von โFridays for Futureโ fรผr ihr Engagement. Katharina Krefft aus der Grรผnen-Fraktion ergรคnzte, dass viele Menschen mit andauernd hohen Temperaturen wie im vergangenen Jahr Probleme hรคtten.
Fรผr die CDU-Fraktion ergriff Sabine Heymann das Wort: โWir leugnen den Klimawandel nicht, aber wir sprechen uns gegen verbales Aufrรผsten aus.โ Ein Notstand bedeute normalerweise, dass demokratische Prozesse ignoriert werden dรผrften. โDer Begriff spaltet die Gesellschaft. Wir wollen aber dafรผr sorgen, dass ein so wichtiges Thema die Gesellschaft verbindet.โ
Auch seitens der AfD kam der Vorwurf, dass es den Antragsteller/-innen darum gehe, anderen Menschen Angst zu machen. Siegbert Droese nannte das โVolkserziehung nach grรผn-roter Artโ. Als er erklรคrte, dass die AfD fรผr Umweltschutz stehe, folgte lautes Lachen auf der Gรคstetribรผne.

Anschlieรend sprachen Politiker jener beiden Parteien, die zwar den Maรnahmen zustimmen, aber den Begriff ablehnen. Christopher Zenker verwies auf lange Diskussionen, die es deshalb bei der SPD gegeben habe. โDer Begriff schรผrt รngste. Wir brauchen Begriffe, die nicht als Vorbote der Apokalypse gedeutet werden kรถnnen.โ FDP-Stadtrat Sven Morlok argumentierte รคhnlich wie die CDU damit, dass ein โNotstandโ รผblicherweise Einschrรคnkungen der Grundrechte bedeute.
Zudem bat Morlok die Grรผnen darum, den Flughafen bei den geplanten Maรnahmen nicht mit zu erwรคhnen. Dafรผr sei Leipzig strukturell nicht zustรคndig, so wรผrde man nur Demokratiemรผdigkeit bei den Bรผrgern erreichen. Letztlich erneut das Eingestรคndnis, dass maรgebliche Entscheidungen auf der Ebene des Landes Sachsen gefรคllt werden.
Bert Sander aus der Grรผnen-Fraktion hielt entgegen, dass Leipzig in vielen Gremien vertreten sei und โder Flughafen auch รผber Leipzigโ sei. Gemeint hier ist die einst bei der Einrichtung des Flughafens ausgeschlossene รberfliegung der Stadt Leipzig, welche heute รผber die โSรผdabkurvungโ oft genug geschieht. Tatsรคchlich handelt es sich gerade dabei und der Lรคrmbelastung der Anwoher am Flughafen Schkeuditz um einen Dauerbrenner.
Zwischen beiden Parteien ging es einige Male hin und her, ohne dass eine Einigung in dieser Frage erreicht werden konnte. Morlok wies dabei auch darauf hin, dass er im Falle eines Notstandes mehr Konsequenz in konkretere Maรnahmen erwarte. Das hatte Neu-Stadtrat Jรผrgen Kasek (Grรผne) dabei: Er forderte ebenfalls, den Flughafen Leipzig/Halle explizit mit im Beschluss zu behalten und verwies auf die jungen Menschen, welche kaum die Frage hรคtten, welches Auto sie in der Zukunft fahren, sondern ob und wie sie leben mรผssten.
Zudem werde immer klarer, dass die Klimaforscher eher zu konservativ geschรคtzt haben kรถnnten โ โdie Gletscher schmelzen schnellerโ als vorhergesagt, so Kasek.
Am Ende der weit รผber eine Stunde dauernden Debatte รคuรerte sich auch Oberbรผrgermeister Burkhard Jung zum Begriff des Klimanotstands: โMan kann den jungen Leuten nicht erklรคren, dass wir eine semantische Debatte fรผhren. Der Begriff meint eine politische Aussage, nicht juristische Folgen.โ Die Stadt mรผsse sich realistische Ziele setzen und handeln; schon jetzt wรผrden Parks vertrocknen und Bรคume eingehen, verwies Jung vor allem auf die letzten zwei Sommer in Leipzig.
Selbst bei Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles sei in Leipzig ein Klima wie in Barcelona heute zu erwarten โ darauf muss sich laut Jung die Stadt so oder so bereits als neue โcool Cityโ mittels begrรผnter Dรคcher weiterer Maรnahmen vorbereiten.
Die Abstimmung
Fรผr die รnderungsantrรคge von CDU, SPD und FDP, die darauf zielten, das Wort โKlimanotstandโ zu streichen, gab es keine Mehrheiten. Lediglich der Freibeuter-Antrag zur Anschaffung neuer Fahrzeuge in der Verwaltung erhielt eine knappe Mehrheit.
Zustimmung gab es dann jedoch zu den verschiedenen Punkten des gemeinsamen Antrags von Linken und Grรผnen, die รผberwiegend getrennt voneinander abgestimmt wurden. Im Ergebnis erhielten alle Vorschlรคge der beiden Fraktionen eine Mehrheit.
Das bedeutet: Leipzig hat den Klimanotstand ausgerufen und ist nun selbst dazu aufgerufen, konkrete Maรnahmen in die Tat umzusetzen, um die beschlossenen Ziele zu erreichen. Ab sofort muss jede neue Maรnahme und jeder Beschluss in Leipzig auf ihre Klimavertrรคglichkeit hin geprรผft werden.
Wenn der Stadtrat aufmerksam bleibt.
L-IZ-Video von der Debatte am 30.10. im Stadtrat Leipzig
Video: L-IZ.de
Der Stadtrat tagt: Leipzig will 2023 die Fernwรคrmeversorgung aus Lippendorf beenden + Video
Der Stadtrat tagt: Leipzig will 2023 die Fernwรคrmeversorgung aus Lippendorf beenden + Video
Die vollstรคndige Debatte (im Livestream-Mitschnitt, bis 7. November 2019 abrufbar)
Der Stadtrat tagt: Die Oktober-Sitzung im Livestream und als Aufzeichnung
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher