In der zusรคtzlich angesetzten Ratsversammlung am 31. Mai wurde nicht nur รผber die Bildungspolitik in Leipzig diskutiert, es kam auch das 520 Seiten dicke FleiรŸwerk, an dem die Verwaltung seit 2016 gearbeitet hatte, zur Abstimmung: das Integrierte Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030 (INSEK). Und ein ร„nderungsantrag schien im Vorfeld fรผr heftige Diskussion sorgen zu kรถnnen โ€“ aber dann machte es: Pffft ...

Das war der ร„nderungsantrag der CDU-Fraktion, den diese schon im April vorgelegt hatte. Sie stรถrte sich am Fachkonzept โ€žNachhaltige Mobilitรคtโ€œ im INSEK, das jetzt das 2009 beschlossene Stadtentwicklungskonzept (SEKO) ablรถst. Jeder Politikbereich ist im INSEK mit einem eigenen Fachkonzept untersetzt. Und erstmals steht โ€“ sehr zum ร„rger von AfD-Stadtrat Tobias Keller โ€“ gefรผhlte 100 Mal das Wort โ€žnachhaltigโ€œ drin.

Kellers Rede war denn auch die wundersamste an diesem Abend, weil er schon deshalb gegen das INSEK stimmen wollte, weil es 520 Seiten dick sei, auf englische Begriffe wie โ€žsmart cityโ€œ nicht verzichtete und vom Bรผrger nicht verstanden werde, also nicht bรผrgernah sei. Was zumindest einmal ein Novum wรคre, wenn ein Arbeitskonzept, mit dem die Stadtpolitik der nรคchsten zwรถlf Jahre gesteuert werden soll, bรผrgernah wรคre. Was vielleicht in einem Dorf mit 59 oder 590 Einwohnern mรถglich ist. Da weiรŸ der Bรผrgermeister auf den Cent genau, wann er ein Stรผck StraรŸe asphaltieren oder die Beleuchtung am Sportplatz erneuern lassen kann.

Leipzig aber hat einen 1,6-Milliarden-Euro-Etat, hat ein รผberdurchschnittliches Wirtschafts- und Bevรถlkerungswachstum und mittlerweile 590.000 Einwohner. Und die meisten Ratsfraktionen haben eifrig mitgearbeitet, als die erste Fassung im August 2017 vorlag und es darum ging, all die Dinge noch festzuschreiben, die die Ratsversammlung fรผr wichtig hรคlt. Denn gerade in den vergangenen vier Jahren hat auch die Ratsversammlung erlebt, was es bedeutet, wenn eine Stadt keinen strategischen Vorlauf mehr hat, sondern der Entwicklung nur noch hinterherhechelt.

Das hat am plastischsten FDP-Stadtrat Sven Morlok zur Sprache gebracht: โ€žEigentlich sind wir nur noch Getriebene der Entwicklung.โ€œ Aus seiner Sicht kommt das INSEK schon viel zu spรคt. Denn das 2009 beschlossene SEKO beschreibt โ€“ so sahen es auch die meisten Redner โ€“ eigentlich bis heute eine schrumpfende Stadt. Was Leipzig auch 2009 nicht mehr war. Aber damals konnte man sich auch bei der L-IZ die Finger wund schreiben und mahnen: โ€žDiese Stadt wรคchst!โ€œ Das รคnderte leider wenig an der schwerfรคlligen Stadt- und Parteipolitik. Dazu sind wohl die meisten Verwaltungsmitarbeiter zu vorsichtig. Sie zรถgern lieber, bevor sie eine Entwicklung zu ernst nehmen.

Was leider in Leipzig das fatale Ergebnis hatte, dass das SEKO die nรคchsten zehn Jahre viel zu skeptisch betrachtete und die wichtigsten Investitionsprogramme viel zu spรคt und viel zu zรถgerlich anliefen.

Was am 31. Mai mehrere Redner zu Recht anmerkten. Denn genau deshalb geriet Leipzig in eine Kita-Platz-Klemme, die bis heute nicht gelรถst ist, und das hat lรคngst auf die Schulen รผbergegriffen. Und zu Recht merkten Franziska Riekewald von der Linken und Tim Elschner von den Grรผnen an, dass das Thema jetzt auch auf den Wohnungsbau รผbergegriffen hat. Und zu Recht kritisierte Franziska Riekewald, dass dem โ€žFachkonzept Wohnenโ€œ im INSEK die Wohnungsmarktzahlen von 2016 zugrunde liegen. Denn in den vergangenen zwei Jahren wurde die Leipziger Wohnungsmarktreserve praktisch aufgezehrt โ€“ die Situation fรผr Wohnungssuchende mit kleinem Einkommen hat sich drastisch zugespitzt.

โ€žDas Ergebnis einer wachsenden Stadt ist Konkurrenzโ€œ, benannte denn auch Sven Morlok das, was entsteht, wenn ein massives Wachstum auf begrenzte und knappe Ressourcen trifft.

Und da lieรŸ er sich auch die Gelegenheit nicht entgehen zu erklรคren, fรผr was fรผr einen Narrenstreich er den CDU-Antrag zur Mobilitรคt hรคlt.

Der klang zwar eher bescheiden, da die CDU ja nur die Neufassung eines Satzes forderte im Fachkonzept Mobilitรคt: โ€žMit Hilfe von neuen Technologien, der Vielfalt und Ausweitung alternativer und individueller Fahrzeugkonzepte kann es gelingen, das Bedรผrfnis nach individueller und motorisierter bzw. elektrifizierter Mobilitรคt zu befriedigen.โ€œ Und: โ€žGestrichen werden somit das Wort โ€šeinerseitsโ€˜ und der Halbsatz โ€šund andererseits das Ziel, den privaten Pkw-Besitz und damit auch den Motorisierungsgrad langfristig zu senken.โ€˜โ€œ

Das will die CDU-Fraktion รผbrigens seit 2012, versucht damit immer wieder alle diskutierten Verkehrskonzepte fรผr eine nachhaltig mobile Stadt auszuhebeln.

Aber das unterstรผtzen nicht einmal mehr alle CDU-Stadtrรคte. Wirklich Unterstรผtzung bekam die CDU dafรผr am Donnerstag nur noch durch die AfD. Denn alle anderen Fraktionen sind sich einig, dass das Grundziel im Mobilitรคtskonzept das einzig sinnvolle fรผr eine Stadt ist, die mรถglicherweise bis 2030 auf 700.000 Einwohner wรคchst: Der Umweltverbund muss dringend gestรคrkt werden. Morlok brachte es auf die Formel, um die es geht: โ€žangebotsorientierte Verkehrspolitikโ€œ.

โ€žIch jedenfalls mรถchte nicht in einer Stadt leben, in der noch 45.000 Pkw mehr unterwegs sindโ€œ, sagte SPD-Stadtrat Christopher Zenker.

Um das zu verhindern ist der nachhaltigste Weg, das Angebot im ร–PNV deutlich auszuweiten. Eben damit mehr Leipziger animiert werden, lieber mit der StraรŸenbahn zu fahren.

Man merkt schon: Die alte Rhetorik von 2012, eine solche Politik fรผr den Umweltverbund (FuรŸgรคnger, Radfahrer, ร–PNV) wรคre eine Politik gegen Autofahrer, funktioniert nicht mehr โ€“ auรŸer bei der AfD. Wer den Verkehrskollaps von 2030 verhindern will, der baut das StraรŸenbahnangebot deutlich aus.

Die Debatte zum INSEK am 31. Mai 2017 im Stadtrat Leipzig. Quelle: Livestream Stadt Leipzig

Zwei ร„nderungsantrรคge wurden an diesem Abend aus der Abstimmung mit dem INSEK zurรผckgezogen und gehen nun extra ins Verfahren. Sie waren den Antragstellern einfach zu wichtig. Zum einen war es der Antrag von Jessica Heller (CDU-Fraktion), die noch SchwerpunktmaรŸnahmen im Leipziger Sรผdwesten mit im INSEK verankert sehen wollte, und zum anderen der Antrag der Grรผnen, die sich einen echten Nachhaltigkeitsmanager in der Stadtverwaltung wรผnschen.

Abgestimmt wurde ein ร„nderungsantrag des Gleichstellungsbeirates, dem schlichtweg eine Thematisierung der noch immer fehlenden Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im INSEK fehlt. Die Verwaltung hat nicht einmal belastbares Datenmaterial zu den hรถchst unterschiedlichen Lebenslagen von Mรคnnern und Frauen. Da gebe es erheblichen Nachholbedarf, sagte Gesine Mรคrtens von den Grรผnen, die in diesem Fall fรผr den Gleichstellungsbeirat sprach. Die anwesende Stadtratsmehrheit stimmte fรผr den Antrag, genauso wie fรผr den Antrag des Ortschaftsrats Mรถlkau.

Auch das ist ein Kennzeichen des neuen INSEK, dass erstmals auch die 1999/2000 eingemeindeten Ortsteile als Entwicklungspotenzial fรผr die Stadt beschrieben wurden und die Ortschaftsrรคte auch bei den ร„nderungen im INSEK mit ihren Anregungen berรผcksichtigt wurden.

Vorher schon war der ร„nderungsantrag der CDU-Fraktion abgestimmt worden.

Aber fรผr das Lamento der nur scheinbar schikanierten Autofahrer gab es an diesem Abend nur 11 โ€žJaโ€œ-Stimmen โ€“ bei 35 Stimmen, die den CDU-Antrag ablehnten, und zwei Enthaltungen. Es krachte nicht. Es machte nur โ€žPffftโ€œ.

Und weil Tobias Keller in seiner seltsamen Rede wieder davon anfing, der Wirtschaftsverkehr kรคme ja gar nicht vor im INSEK, belehrte ihn Sven Morlok auch in dieser Sachlage. Denn der Wirtschaftsverkehr kommt nur noch durch, wenn mรถglichst viele Leipziger auf die Tram umsteigen und eben nicht mit ihrem Pkw die StraรŸen verstopfen. Leipzig kann gar nicht anders: Es muss jetzt massiv in den Ausbau des ร–PNV investieren.

Auch wenn mal wieder die einzelnen Fachplรคne fehlen, wie auch SPD-Stadtrat Christopher Zenker kritisierte: der Verkehrsleistungsfinanzierungsvertrag und der Nahverkehrsplan. Auch er stellte fest, dass die Stadtpolitik meistens zu langsam reagiert und lรคngst unter einem Handlungsdruck steht, der โ€“ wie bei der Milieuschutzsatzung โ€“ schnelleres Agieren verlangt. Verkehr und Wohnen, so stellte er fest, werden die Schwerpunktthemen der nรคchsten Jahre.

Und da wird sich entscheiden, ob Leipzig weiter wรคchst. Denn wer zur Arbeit will, braucht ein gutes Verkehrsangebot, braucht aber auch bezahlbare Wohnungen. Arbeit ist der Eckpfeiler. Denn Leipzig wรคchst nicht von allein, wie Morlock betonte: โ€žQuelle des Wachstums sind Arbeitsplรคtze.โ€œ

Man ahnt schon mit diesem INSEK, was alles dazugehรถrt, die Basis fรผr neu entstehende Arbeitsplรคtze dauerhaft zu sichern.

Blieb dann noch die Endabstimmung zum INSEK selbst: 36 der Anwesenden stimmten dafรผr, sechs dagegen und sieben enthielten sich der Stimme. Damit ist es beschlossen und Leipzig hat ein Rahmenprogramm fรผr seine Politik in den nรคchsten 10, 15 Jahren. Sogar eines, das international fรผr Aufmerksamkeit sorgt, betonte OBM Burkhard Jung noch zum Abschluss โ€“ denn bei einem Treffen am selben Tag in der nordischen Botschaft in Berlin hat er das 520-Seiten-Papier auch den Bรผrgermeistern mehrerer skandinavischer GroรŸstรคdte vorgestellt. Und die scheinen sehr aufmerksam zugehรถrt zu haben, was ihr Kollege aus Leipzig da zu erzรคhlen hatte. Da muss man schon in einer ganz altertรผmlichen Partei sein, um sich รผber die hรคufige Zitierung des Wortes โ€žnachhaltigโ€œ nachhaltig aufzuregen.

Leipzigs CDU will kรผnftig noch mehr Pkw in der Stadt

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