Zeit vergeht. Und meist sind es erst Todesanzeigen, die deutlich machen, wie schnell 27 Jahre vergehen können. Vor 27 Jahren wurde der Hannoveraner Hinrich Lehmann-Grube (SPD) zum ersten frei gewählten Oberbürgermeister nach der Friedlichen Revolution in Leipzig gewählt. Er war – so zurückhaltend er war – im Grunde das Symbol des Leipziger Neubeginns. Am Sonntag, 6. August, ist er im Sankt-Elisabeth-Krankenhaus gestorben.

Er wurde 84 Jahre alt. Von 1990 bis 1998 war er Oberbürgermeister von Leipzig. Mit seinem Namen verknüpft sich nicht nur die bis heute eingängige Formel „Leipzig kommt“, die die Stadt an der Pleiße für ein paar Jahre zum hoffnungsvollen Aufsteigerkandidaten im Osten machte, bis die „Mühen der Ebene“ diese Träume platzen ließen. Aber als Lehmann-Grube 1998 das Amt des OBM aus Altersgründen aufgab, hatte er wichtige Weichen gestellt, die im Lauf der Jahre dafür sorgen sollten, dass Leipzig die ursprünglich zugedachte Rolle auch ausfüllen würde.

Dazu gehörte die Entscheidung, ein völlig neues Messegelände im Leipziger Norden zu bauen, das 1996 auch in seinem Beisein eingeweiht werden konnte, aber auch der Umbau des Hauptbahnhofs fiel in seine Amtszeit, der wie kein zweiter Umbau zeigte, dass man für alte Baukörper neue Ideen und auch ein paar Wagnisse brauchte, um einen wirklichen Neustart hinzulegen. Der Hauptbahnhof wurde zur Initialzündung für die Wiederbelebung der City, die man damals noch einem gewissen Jürgen Schneider zutraute, der die besten Kleinode in der Innenstadt einkaufte, Hinrich Lehmann-Grube aber gewaltigen Ärger bescherte, als das Kartenhaus zusammenfiel. Da bewährte sich der Mann mit seiner ruhigen Hannoveraner Art auch als Krisenmanager.

Es war nicht die erste und nicht die letzte Krise in seiner Amtszeit, die er so ruhig und souverän bewältige, dass ihm die Leipziger 1994 ganz selbstverständlich eine zweite Amtszeit zutrauten. Schon im ersten Wahlgang erreichte er 47,4 Prozent der Stimmen, im zweiten dann die Mehrheit mit 54,5 Prozent.

Dass er 1990 extra DDR-Bürger wurde, um sich in Leipzig zur OB-Wahl stellen zu können, ist ebenfalls eine Besonderheit. Seine Frau Ursula Lehmann-Grube schildert in ihrem „Leipziger Tagebuch“ sehr anschaulich, wie rustikal die ersten Tage der Neuankömmlinge in Leipzig waren und wie er sich in das Leipziger Gefüge einarbeiten musste, in dem es immerhin auch darum ging, die alte, aufgeblähte Stadtverwaltung zu verschlanken und sich auch von belastetem Personal zu trennen. Legendär ist die Affäre um den Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch, der nun seit 2013 auch schon zu den Verstorbenen zählt.

Sie zeigte, vor welche komplexen Problemlagen ein Neuling aus Hannover gestellt werden konnte im ostdeutschen Hexenkessel. Einen ähnlichen Teufelstanz erlebte er ja auch mit der Besetzung der Messeleitung oder LWB-Geschäftsführung. Alt- aber auch neugedientes Personal erwies sich auf einmal nicht mehr als tragbar, neue Leute, die auch für die notwendigen Änderungen bereit waren, mussten gefunden werden.

Gleichzeitig mussten selbst die kommunalen Betriebe neu sortiert werden, die alle mit um Jahrzehnte überalterten Strukturen arbeiteten. Und die rasant steigenden Arbeitslosenzahlen machten dem Verwaltungsfachmann zu Recht Sorgen. Ein Ergebnis dieser Sorge war die Gründung des legendären Betriebs für Beschäftigungsförderung (bfb), der mit „Rettungs“-Aufgaben geradezu überhäuft wurde. Sogar alte Stadtgüter sollte der bfb mit seinen Stiefelbrigaden bewirtschaften. Tausende Leipziger fanden hier eine vom Anschein her sinnvolle Arbeit. Das beruhigte auch das Klima in einer Stadt, in der die wichtigsten Industriebetriebe praktisch über Nacht schließen mussten und die Treuhand in einen nicht gerade goldigen Ruf kam dabei. Bis der bfb-Chef von Hermanni der Politik dann doch irgendwie zu mächtig wurde und der bfb aufgelöst wurde.

Es war Hinrich Lehmann-Grubes Zeit, in der Leipzig rund 100.000 Einwohner verlor, die mit Sack und Pack zur Arbeitssuche in den Westen gingen.

Als er das Amt 1998 aber an Wolfgang Tiefensee (SPD) übergab, waren schon längst neue Weichen gestellt, deren Auswirkungen sich in den nächsten Jahren bemerkbar machten. Das Erste war natürlich die (späte) Änderung der Förderpolitik für Immobilien. Den Bau opulenter Büroburgen oft am fernen Stadtrand konnte Lehmann-Grube genauso wenig verhindern wie den Bau der noch gigantischeren Einkaufscenter. Auch das riesige Paunsdorf-Center gehört zu diesen tragischen Fehlentwicklungen, die erst durch den Stadtentwicklungsplan Zentren gestoppt wurden.

Aber gerettet wurde die Leipziger Altbausubstanz erst durch das Auslaufen der völlig sinnfreien Abschreibungen für all die Büroneubauten im Land. Erst als die Sanierung der wertvollen Gründerzeitbestände sich wieder „rechnete“, kam die Revitalisierung der Leipziger Sanierungsgebiete in Gang und gewann die Stadt jene Wohn-Attraktivität, die sie ab 1999/2000 wieder zur Wachstumsstadt machte.

Und nicht zu vergessen: Auch der Leipziger City-Tunnel wurde in Lehmann-Grubes Amtszeit geplant. Die wichtige Machbarkeitsstudie lag 1993 vor. Erst auf dieser Grundlage konnte an die konkreten Planungen und Finanzierungen gegangen werden. Auch das ein Projekt, dessen Umsetzung erst Lehmann-Grubes Nachfolger erlebten.

Wer genau hinschaut, sieht, wie viel dieser zurückhaltende Mann in seiner achtjährigen Amtszeit in Leipzig alles angeschoben und bewegt hat und wie perspektivisch er dabei dachte, bevor er verkündete: „Mit 65 ist Schluss.“ Mitten in seiner zweiten Amtszeit.

Dabei hatten ihn die Leipziger beim ersten Mal nur indirekt gewählt, auch wenn sein Konterfei bei der Kommunalwahl im Mai 1990 die Wahlplakate der SPD schmückte, die dann mit 35,3 Prozent der Stimmen auch stärkste Fraktion im Stadtrat wurde. Sie hatte also auch das Vorschlagsrecht für den neuen OBM, als der Hinrich Lehmann- Grube dann in der Stadtverordnetensitzung am 6. Juni 1990 auch gewählt wurde.

Zeit also für die würdigenden Worte, die ihm jetzt gewidmet werden:

Der sächsische SPD-Vorsitzende Martin Dulig:

„Die sächsische SPD und ich ganz persönlich sind in tiefer Trauer um Hinrich Lehmann-Grube. Er hatte sich seit 1990 unschätzbar große Verdienste für Leipzig, Sachsen und ganz Ostdeutschland erworben. Er war eine große, von Grund auf ehrliche Persönlichkeit und einer der wichtigsten Wegbereiter für die Messestadt: Ohne ihn wäre Leipzig heute nicht die florierende und attraktive Großstadt, die wir kennen und lieben. Zudem war er ein großer, weit über die Parteigrenzen anerkannter Sozialdemokrat und immer ein konstruktiver Begleiter für die gesamte sächsische Sozialdemokratie. Wir sind in Gedanken und mit tiefem Beileid im Herzen bei seiner Familie und wünschen ihr viel Kraft für die kommenden Wochen und Monate.“

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung:

„Hinrich Lehmann-Grube war für Leipzig ein unbeschreiblicher Glücksfall. Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren aufregend genug, da taten uns seine Unaufgeregtheit und seine große Erfahrung in Leipzig gut. Hinrich Lehmann-Grube hob nie den Zeigefinger, sondern er lebte Demokratie vor. Und er war immer bereit, Altbewährtes aus der Alt-Bundesrepublik beiseite zu wischen, wenn ihn in Leipzig jemand mit einer neuen Idee überzeugen konnte. Mit Hinrich Lehmann-Grube verliere ich auch persönlich einen wichtigen Ratgeber und Freund. Meine Gedanken sind bei seiner Familie.“

Dirk Panter, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag:

„Seine Verdienste um die Stadt sind nicht hoch genug einzuschätzen. Er hat Leipzig in einer schwierigen Phase seiner Geschichte mit seiner ruhigen, sachlichen und klugen Art herausragend geführt und die Verwaltung von Grund auf neu aufgebaut. Dass er 1990 nach Leipzig gekommen ist, war ein Glücksfall für diese Stadt – ohne ihn wäre Leipzig heute nicht das, was es ist. Die Ehrenbürgerwürde, die ihm bereits 1999 zu Teil wurde, war vollkommen zu Recht Ausdruck der großen Wertschätzung die er über Parteigrenzen hinweg genoss.“

Gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt trauern wir um Hinrich Lehmann-Grube, der am Sonntag nach langer schwerer Krankheit im Alter von 84 Jahren verstorben ist.

Unser Mitgefühl gilt vor allem seiner Frau Ursula, seinen Kindern und Angehörigen.

 

Hassan Soilihi Mzé, Vorsitzender der Leipziger SPD:

Mit Hinrich Lehmann-Grube verlieren wir einen großen Leipziger, der unermessliche Verdienste um unsere, um seine Stadt erworben hat. Sein Ruf als außergewöhnlich sachkompetenter und tatkräftiger Verwaltungspolitiker eilte ihm längst voraus, als er 1990 sein Amt als erster frei gewählter Oberbürgermeister nach der Friedlichen Revolution antrat, in dem er Leipzig mit ganzer Kraft bis 1998 diente.

Für unsere Stadt und seine Menschen war Hinrich Lehmann-Grube der vielzitierte „Glücksfall“, der auch weit über seine politische Heimat SPD hinaus Respekt, Anerkennung und auch Verehrung genoss. Für uns Leipziger Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten war Hinrich vor allem ein Vorbild als Mensch mit herausragenden persönlichen Eigenschaften wie Verbindlichkeit, Kompetenz, Disziplin und Geradlinigkeit.

 

Christopher Zenker, Vorsitzender der Stadtratsfraktion der SPD:

„Mit großer Bestürzung habe ich heute vom Tod unseres Alt-Oberbürgermeisters erfahren. Seine große Sachkenntnis und seine politische Weitsicht haben in den Jahren nach der Friedlichen Revolution die Weichen für die großartige Entwicklung seiner und unserer Stadt gestellt. Wir danken ihm für seinen Einsatz. Uns werden seine Gradlinigkeit und sein weiser Rat, der uns stets wichtig war, fehlen. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie. Die Stadt Leipzig wird sich an Hinrich Lehmann-Grube mit großer Dankbarkeit erinnern

 

Hinrich wird uns fehlen – vielen als langjähriger Weggefährte und nicht wenigen auch als enger Freund – vergessen werden wir ihn nicht.

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