Das Problem an den Große-Töne-Spuckern, die heute die Politik aufrollen, ist in der Regel: Sie haben eine große Klappe, aber keine Ahnung von den Überlebensbedingungen unserer Welt. Und die Wahlkämpfe suggerieren eine Wahl, die keine ist. Wenn Millionäre gegen Milliardäre antreten, hat das mit Zukunft nichts zu tun. Aber was kann eine kleine Stadt wie Leipzig da eigentlich tun? Umdenken wäre ein Anfang.

Das versucht die Stadt ja schon. Mindestens seit 1998, als sich der Leipziger Agenda-21-Kreis formierte, die ganze Stadt mal auf ihre Nachhaltigkeit hin untersuchte und eigentlich feststellte: Auf den meisten Feldern hatte das Umdenken noch nicht einmal begonnen. Man wurstelte irgendwie vor sich hin, aber eine Richtung hin zu einer Stadt, die Klima, Umwelt und Energieressourcen schont, war Leipzig damals nicht – und war die Stadt auch 2007 nicht, ein Jahr nach der Wahl von Burkhard Jung (SPD) zum neuen Oberbürgermeister.

Damals trafen sich die europäischen Minister für Stadtentwicklung in Leipzig und verabschiedeten die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“. Und man durfte durchaus den Eindruck gewinnen: Jetzt geht es los, jetzt haben es die Regierungen begriffen und fangen an, die europäischen Städte tatsächlich umzubauen zu Vorbildprojekten nachhaltigen Lebens.

Pustekuchen war’s.

Und die Oberbürgermeister? Haben wenigstens die angefangen, in ihrem Rahmen das Mögliche zu versuchen?

Solche Nachrichten haben uns seither nicht erreicht. Und auch der Leipziger Agenda-Kreis hat so seinen Kummer mit diesen politischen Euphorie-Stürmen, die sich gleich nach der Verkündung meist immer wieder im gewohnten Trott auflösen.

Deswegen hat der Koordinierungskreis 2015 angefangen, die Stadt zu mahnen, Stadtrat und OBM daran zu erinnern, dass wichtige Nachhaltigkeitsziele nicht umgesetzt sind. Das hat nicht nur mit Rio de Janeiro 1992 oder den Millenniumszielen 2000 zu tun, wie eine Vorlage von Umweltdezernat und Baudezernat jetzt suggeriert.

Das hat auch mit der elementaren Frage zu tun: Wer kann sich künftig ein Leben in Leipzig noch leisten? Und wer nicht? Wer fliegt einfach raus, weil er sich diese Stadt nicht mehr leisten kann?

Was übrigens in den sechs Kritikpunkten steckt, die der Koordinierungskreis der Agenda 21 in diesem Jahr an OBM und Stadtrat versendet hat:

  1. „Bezahlbaren Wohnraum ermöglichen – sozialen Zusammenhalt sichern“. Die Stadtteile driften gerade auseinander. Es entstehen teure, völlig entmischte Stadtquartiere im Herzen der Stadt, ein paar bunte (aber zunehmend teure) Stadtviertel als Gürtel drumherum – und wer zur einkommensschwachen Hälfte der Stadt gehört, muss immer weiter draußen suchen, um noch einigermaßen bezahlbaren Wohnraum zu finden. Ein Konzept, eine wirklich durchmischte Stadt zu bewahren, hat Leipzig nicht, ist damit unter den deutschen Großstädten aber nicht allein.
  2. „Soziale Infrastruktur klüger planen.“ Eine Mahnung, die Leipzigs Stadtverwaltung seit zehn Jahren zu hören bekommt, denn das Wachstum der Stadt war absehbar und – berechenbar. Aber wichtige Flächen wurden nicht gesichert, Entwicklungen viel zu knapp geplant. Ein Konzept zur Sicherung von sozialen Infrastrukturen bis zum Jahr 2030? Fehlanzeige.

Ähnlich mau sieht es bei den anderen Punkten aus.

  1. „Flächen effektiver nutzen – wichtige Freiräume sichern“.
  2. „Die Region als Ganzes stärker entwickeln“.
  3. „Stadtverträgliche Mobilität stärken“.
  4. „Neubürger zu aktiven Leipzigern machen.“

Jeder Punkt im Grunde ein Angebot an die Planer: Denkt doch mal über euren kleinen bürokratischen Mustopp hinaus. In der Beteiligung für „Neubürger“ steckt das große Thema Bürgerbeteiligung für alle, in der „stadtverträglichen Mobilität“ das Denken in komplexen Infrastrukturen usw.

Die beiden Dezernate verweisen zwar darauf, dass sie den Beschluss, der jetzt in den Stadtrat geht, der Musterresolution des Deutschen Städtetages entnommen haben.

Wenn Leipzig das beschließt, reiht es sich lediglich ein in eine große Kampagne der deutschen Städte. Da werden sie alle mitmachen.

Aber die beiden Dezernate waren auch ein bisschen mutig. Sie haben den Musterentwurf um einen Anhang erweitert.

Darin haben sie die sanften Forderungen der Leipziger Agenda 21 aufgenommen.

Es sind wirklich sanfte Forderungen. Denn wer sie wirklich konsequent zu Ende denkt, der merkt, dass sich ganze Teile der Stadtpolitik deutlich ändern müssen.

Nur als Beispiel der oben genannte Punkt 6 zur „Region als Ganzes“. Im jetzigen Resolutionsentwurf taucht er zum Beispiel als „Stärkung der nachhaltigen Entwicklung der Region durch eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften der Region sowie der lokalen und regionalen Akteure“ wieder auf.

Was heißt das?

Die bislang existierenden Gremien reichen nicht. Schon deshalb nicht, weil es fast alles reine Verwaltungsgremien sind, die nie, selten oder nur oberflächlich darüber berichten, was sie tun. Die Bewohner der Region bekommen meist gar nicht mit, was sie tun und ob das die Region in irgendeiner Weise voranbringt.

Im Grunde braucht es ein transparentes Steuerungsgremium, das klar definiert, welche Themen zwingend in der Region gemeinsam gelöst werden müssen, wer sie löst und was alle dafür tun.

Solche Themen sind: der ÖPNV in der Region (machen z.B. ZVNL und MDV), die Naherholung (macht z.B. LTM), die Gewerbeansiedlung (sollte eigentlich die vereinigte Wirtschaftsförderung machen – aber „Invest Region Leipzig“ ist praktisch in den Nebel abgetaucht, der Geschäftsführer entfleucht … eigentlich das markante Beispiel dafür, dass in der Region gar nichts zusammenläuft …) …

Die Aufzählung kann man fortsetzen.

Und man kommt an den Punkt, an dem man feststellen muss: Mit dem bisherigen Gewurstel und den einsamen Entscheidungen auf der Königsebene wird das nichts. Das muss in völlig neue Formen gegossen werden. Eigentlich sofort auf Regionenebene – mit klaren nachhaltigen Zielvorgaben.

Denn ohne das wird alles, was in diesem Papier steht, wieder nur zerrieben, zerredet, zwischenamtlich verträllert.

Es hängt zwar noch ein Papier dran, in dem Leipzig Handlungsschwerpunkte aus den von den Vereinten Nationen beschlossenen Sustainable Development Goals („SDGs“) ableitet, aber sie sind wieder nicht in ein Zielsystem eingepasst. Wer kein klares Ziel vorgibt, überlässt die Umsetzung wieder dem üblichen bürokratischen Trott. Und Leipzig steht auch in zehn Jahren noch da, wo es 2007 stand und 1998. Mit Bergen schöner Erklärungen, aber keiner einzigen konkreten Vision.

Die geplante Resolution „2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung: Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene gestalten“.

Die abgeleiteten „Handlungsschwerpunkte“.

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