Schaffen wir das? Jugendamtsleiter Tsapos muss praktisch umsetzen, was politisch vorgegeben wird. Im L-IZ Interview geht es vor allem um die unbegleiteten jugendlichen Flüchtlinge - fast ausschließlich männlich, viele aus Syrien und Afghanistan. Die Herausforderung führt zum Bedarf von Wohnungen und Personal. Deshalb werden Gastfamilien gesucht. Daneben geht es auch um Wege zur Integration der Jugendlichen in Schule und Gesellschaft.
Was wissen Sie über die religiöse Zugehörigkeit der Jugendlichen?
Ein großer Teil ist muslimisch. Es ist völlig unterschiedlich, ob sie ihren Glauben auch leben wollen oder nicht. Wenn ein Jugendlicher den Wunsch äußert, auch mal eine Moschee zu besuchen, dann unterstützen wir ihn und sagen ihm, wo er dem nachgehen kann.
Haben Sie Kontakt zu konkreten muslimischen Gemeinden, die Sie dann auch empfehlen?
Wir haben bisher keinen festen Kontakt zu einer muslimischen Gemeinde. Wir haben zu Migrantenvereinen Kontakt. Wir stehen im Austausch mit dem Flüchtlingsrat. Die Frage zur Religionsausübung wird ja häufiger gestellt. Da kann ich nur sagen: nach unserer Beobachtung spielt sie im Alltag dieser Jugendlichen keine herausragende Rolle. Sie gehen hin und wieder in die Moschee und feiern dort auch gemeinsam ihre Feste. Und zum Stichwort Islamisierung möchte ich darauf hinweisen, dass die meisten ja gerade vor einer Organisation geflohen sind, die sich “Islamischer Staat” nennt.
Religiöse Wünsche sind also eher im Hintergrund?
Bestimmte religiöse Aspekte prägen den Alltag. So muss man beim Essen Rücksicht nehmen.
Sind auch christliche Jugendliche dabei?
Wir haben vereinzelt auch christliche Jugendliche. Es spielt aber in der Betreuung auch keine wirkliche Rolle, außer eben kultursensibles Essen. Wobei neben Kultursensibilität auch einfach wichtig ist, dass es ausreichend zu essen gibt. Das ist auch entscheidend für eine Gastfamilie. Die Jugendlichen haben häufig auf der Flucht Hungererfahrungen gemacht.
In einem offenen Brief forderte “SALE – Soziale Arbeit Leipzig” gemeinsame Handlungsleitlinien, die bestehenden Angebote sollen ausgebaut werden, die adäquate Unterbringung soll gewährleistet werden.
Wir sind in einer Phase großer Herausforderungen, vor der sich auch viele andere Großstädte sehen. Wichtigstes Kriterium ist in der aktuellen Situation die Vermeidung von Obdachlosigkeit. Jeder, der kommt, erhält sofort ein Dach über den Kopf, Betreuung und Essen. Was die Standards der Jugendhilfe betrifft, konnten wir uns unter den gegenwärtigen Voraussetzungen unter den deutschen Großstadt-Jugendämtern auf drei Punkte einigen. Der erste ist: es gibt sofort Sprachunterricht. Der zweite: es gibt hinreichend und kultursensibles Essen und der dritte ist: es gibt W-LAN, damit die Kommunikation mit Angehörigen im Herkunftsland ermöglicht wird.
Die Standards der Jugendhilfe bleiben also erhalten?
Alle üblichen Standards der Jugendhilfe werden auch jetzt beim Kapazitätsaufbau eingehalten. Zunächst aber geht es im Rahmen der Inobhutnahme darum, die vorgenannten Kriterien zu garantieren. Durch einen Erlass des Freistaates sind zeitlich begrenzt die Rahmenbedingungen verändert worden. Mit den freien Trägern bauen wir jedoch langfristig angelegte Einrichtungen auf, die den üblichen Standards genügen. Ich finde angesichts des Zeitdrucks, unter dem wir arbeiten, können wir ein gutes Ergebnis vorweisen. Wir sind schon bei 90 Plätzen, die dauerhaft bei Trägern geschaffen wurden. Zu Jahresbeginn 2016 denke ich, dass wir bei 200 Plätzen liegen. Das ist ein enormer Kapazitätsausbau. Wir verfolgen im Moment jede Idee, die ein Träger hat, um ein stationäres Angebot ins Leben zu rufen.
Was Sie auch brauchen, sind mehr Mitarbeiter. Gibt es da Abstriche bei den Anforderungen, um mehr Personal zu bekommen?
Abstriche kann man nicht sagen. Der Erlass des Ministeriums sieht im Moment vor, dass man neben den bisher üblichen Berufsabschlüssen „Sozialarbeiter und Erzieher“ jetzt auch affine Abschlüsse haben kann, also Erziehungswissenschaftler, Lehrer. Daneben können auch andere geeignete Personen eingestellt werden.
Geeignete Personen bedeutet: Jemand hat zwar nicht den passenden Abschluss, aber er weist die notwendige persönliche Eignung auf?
Genau. Nur ein Beispiel: ein Sprachmittler mit guten Zugangsmöglichkeiten zu Jugendlichen, die wir wahrgenommen und in der Praxis erprobt haben. Das ist doch eine Bereicherung für jedes Team.
Sprachmittler und Dolmetscher werden derzeit sehr viel gebraucht.
Ja, Fachkräfte sind bundesweit ein Problem. Das betrifft Dolmetscher, das betrifft aber auch Sozialarbeiter. Es ist gut, dass es nicht mehr nur Sozialarbeiter und Erzieher im Team sein müssen. Andere Berufsgruppen können eine gute Ergänzung sein. Zertifizierte Dolmetscher brauchen wir für alle wichtigen Termine im Clearingverfahren, also Erstgespräche, Gesundheitsuntersuchungen, Altersfeststellungen. Für andere Übersetzungsarbeiten greifen wir auch auf Sprachmittler zurück. Ansonsten müssen wir im Alltag einer solchen Einrichtung improvisieren.
Ziehen Sie dann auch Mitarbeiter von anderen Abteilungen ab?
Wenn ich zwingend sofort eine Inobhutnahme und somit das Kindeswohl sichern muss, dann muss ich gegebenenfalls auf Mitarbeiter meines Amtes zurückgreifen, die sich freiwillig dazu bereit erklärt haben, zum Beispiel Sozialarbeiter aus der Straßensozialarbeit. Darüber hinaus hat der Oberbürgermeister in der gesamten Stadtverwaltung einen Aufruf gestartet, sich gegebenenfalls, wenn es die Betreuung erforderlich macht, als geeignete Personen freiwillig zu melden. Uns unterstützen inzwischen Mitarbeiter in der Betreuung, deren Eignungsprüfung durch den ASD erfolgt ist. Diese kommen aus den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen, von Politessen bis zur Stadtkämmerei. Das bleibt so, solange es erforderlich ist.
Eine Entlastung ist, dass der Stadtrat zusätzliche Stellen beschlossen hat. Wir sind daher im Moment sukzessive in Einstellungsverfahren.
Das ist also jetzt ein guter Zeitpunkt, um Bewerbungen zu schicken?
Wir suchen natürlich vor allem Sozialarbeiter und Erzieher. Aber wir suchen auch Amtsvormünder. Ich brauche Mitarbeiter in der Wirtschaftlichen Jugendhilfe zur Abrechnung. Ich brauche Mitarbeiter, die den Kapazitätsausbau begleiten. Gleiches gilt für die Kollegen vom Sozialamt.
Vielen Dank für das Interview
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