Da bekommt ein OBM quasi eine wachsende Stadt geschenkt, ohne viel dafür tun zu müssen - und bekommt es doch nicht fertig, ein Gesamtkonzept für eine wachsende Stadt Leipzig vorzulegen. Das fordern jetzt die Grünen. Die Vorlage für ihre Forderung kam ja am Montag direkt aus dem Amt für Statistik und Wahlen: Jetzt sind wir wieder 560.000.

Zumindest im Melderegister der Stadt, die amtliche Zahl dürfte dann um 7.392 drunter liegen. Aber darum geht es ja nicht, sondern darum, dass sich das Bevölkerungswachstum der Stadt seit 2005, als Verwaltungsbürgermeister Andreas Müller seinerzeit noch freudestrahlend den 500.000 Einwohner in der Kinderklinik persönlich begrüßte, drastisch erhöht hat. Die Freude Müllers war damals nur zu verständlich: Nachdem Leipzig bis 1998 einen heftigen Bevölkerungsabfluss erlebt hatte, war die Stadt seit 2000 wieder auf einen sanften Wachstumspfad eingeschwenkt.

Im Schnitt gewann die Stadt rund 1.900 Einwohner pro Jahr dazu. Ein geradezu gemächliches Tempo gegenüber dem, was von 2006 bis 2010 passierte, als das jährliche Wachstum sich schon mal auf 4.000 erhöhte. Und alle Leipziger haben miterlebt, was das bedeutete: Ab 2010 war die Diskussion um fehlende Kita-Plätze in aller Munde und die Stadt hat volle fünf Jahre gebraucht, um das durch Zögern und Zaudern selbst erzeugte Kita-Loch einigermaßen zu stopfen. Ein Kita-Bauprogramm, das in den letzten zwei Jahren geradezu gewaltig wirkte.

Denn natürlich hat Leipzigs Verwaltung, nachdem sie sich an das 4.000er-Tempo gewöhnt hatte, völlig unterschätzt, was es heißt, wenn eine Stadt, die eben noch als das weltweite Vorbild der “schrumpfenden Stadt” galt, auf ein 10.000er-Tempo hochschaltet. Von 2006 bis 2017 betrug das jährliche Bevölkerungswachstum in Leipzig nämlich  – äh – knapp 5.400. Was natürlich Quatsch ist. Da liegt der Zensus 2011 dazwischen, der Leipzigs Stadtplanern noch einmal so richtig auf die Füße fallen wird. Denn er “korrigierte” einfach mal über 21.000 Einwohner aus der Statistik – und Leipzig beschritt nach dieser seltsamen Volkszählerei lieber nicht den Klageweg.

Tatsächlich ist Leipzigs Bevölkerung in den vier Jahren von 2010 bis 2014 um 43.050 gewachsen, was eine Jahresrate von 10.762 ergibt.

Und das registrieren zwar Statistiker und OBM mit Erstaunen. Aber ein Umschalten auf ein höheres Tempo ist nirgendwo zu beobachten. Beim Schulhausbau ist man noch immer beim Tempo, das man vor 2010 mal angeschlagen hat. Obwohl alle wissen, dass das viel zu langsam ist – die Stadträte der SPD sind ja mittlerweile geradezu alarmiert, weil jetzt schon die meisten Gymnasien aus den Nähten platzen. Das Sozialdezernat reaktiviert gerade Schulgebäude zur langfristigen Nutzung, die man vor fünf Jahren noch zum Abriss vorgesehen hatte. Und das mit Geld, das eigentlich nicht eingeplant war. Auf jeden Fall nicht in Dresden, wo über die Fördergelder entschieden wird.

Und jetzt schließt sich die Schere auch noch beim Wohnungsbau und die Verwaltung legt ein Wohnungspolitisches Konzept vor, das hinten und vorne das wirkliche Bevölkerungswachstum nicht abbildet.

“Schon jetzt zeigt sich deutlich, dass die Stadt den Anforderungen einer wachsenden Stadt nicht gerecht wird“, erklärt dazu Christin Melcher, Vorstandssprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen Leipzig. „Ob Kita-Platz-Mangel oder stümperhafte Schulnetzplanung: Die Stadt reagiert nur da, wo am lautesten geschrien wird. Was wir brauchen ist ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Entwicklung der Stadt Leipzig. Die Herausforderungen einer wachsenden Stadt betreffen alle kommunalen Themenbereiche, vom Wohnungsbau bis zu Bildung und Kultur.”

Dabei hat OBM Burkhard Jung extra ein “Arbeitsprogramm 2020” formuliert, in dem er auch die wachsende Stadt versucht mitzudenken. In zwei Punkten hat er auch formuliert, dass es dabei um “bedarfsgerechte Kita- und Schulangebote” geht und um “integrierte Quartiers- und Wohnungsmarktentwicklung”. Doch was er in seinem Arbeitspapier so vollmundig als “Sicherung des preisgünstigen Wohnens” beschreibt, findet sich in der aktuellen Stadtpolitik nicht wieder. Sein Arbeitspapier hat er übrigens im März 2014 vorgelegt und seinerzeit noch 2014 eine Diskussion über die Leipziger Wohnungspolitik angekündigt. Doch die kam erst 2015 und hat ein eher halbgares Ergebnis hervorgebracht, in dem die üblichen Wohnungsmarktakteure eher vage über preiswertes Wohnen reden, schon gar nicht über den jetzt notwendigen massiven Wohnungsbau. Ganz so, als würden sie die offiziellen Bevölkerungszahlen einfach nicht ernst nehmen.

Für die Grünen sind – anders als im Wohnungspolitischen Konzept widergespiegelt – schon jetzt die Auswirkungen einer fehlerhaften Stadtpolitik spürbar.

“Wir beobachten in Leipzig deutliche Segregationstendenzen zwischen den Stadtteilen. Einkommen, Bildungsniveau und Mieten sind in den jeweiligen Stadtteilen sehr unterschiedlich verteilt. Die Stadt Leipzig muss verhindern, dass ganze Stadtteile abdriften und für eine ausgeglichene soziale Durchmischung in den Stadtteilen sorgen. Dazu gehören neben Sicherstellung einer ausreichenden Mobilitätsinfrastruktur auch eine vorausschauende Schulnetzplanung und die Entwicklung von kulturellen Angeboten auch in benachteiligten Stadtteilen”, kritisiert Melcher und benennt dabei auch all jene Begleitthemen, die auf Verwaltungsebene so zögerlich angegangen werden, als hätte Leipzig bis 2030 Zeit, sich über ein dichteres Schulnetz oder eine Verdichtung des ÖPNV Gedanken zu machen.

Die größte Herausforderung liegt Melcher zufolge im Wohnungsbau.

“Die Prognosen des Wohnungspolitischen Konzeptes zu höheren Einwohnerzahlen sind schon jetzt überholt. Noch ist Wohnraum vorhanden, aber schon längst nicht mehr für alle und überall“, stellt Melcher fest. “Mit dem Wohnungspolitischen Konzept hat die Stadt die Herausforderungen und die richtigen Instrumente beschrieben. Konzeptvergabe und sozial gerechte Bodenordnung müssen jetzt zügig vorangetrieben werden. Außerdem muss sich die Stadt bei Bund und Land dafür einsetzen, in den sozialen Wohnungsbau zu investieren.”

Wobei der Bund, der ja tatsächlich Gelder dafür bereitstellt, weniger das Problem ist. Das Problem ist eine Landesregierung, die es einfach nicht schafft, aus dem einmal verkündeten Schrumpfmodus herauszukommen. Was auch damit zu tun hat, dass in Landtag und Regierung die Vertreter der Landkreise überproportional vertreten sind, die tatsächlich bis heute Bevölkerungsverluste verzeichnen, während die wachsenden Großstädte mit ihren Anliegen und Bedürfnissen kein Gehör und keine Mehrheiten finden. Was dann zu all den falschen Weichenstellungen führt, die die sächsische Politik heute prägen – den Kürzungen im ÖPNV, bei Schulinvestitionen, Polizei, Lehrern, Hochschulen. Und zur Nichtgewährung von Fördermitteln für sozialen Wohnungsbau.

So produziert eine auf Schrumpfung geeichte Landesregierung Stagnation und Lethargie in den Landkreisen und zunehmende Probleme in den Infrastrukturen der Großstädte.

Vielleicht hilft das von den Grünen geforderte “Gesamtkonzept für wachsende Stadt Leipzig”. Denn damit würde Leipzigs Verwaltung auch einmal den Grundbedarf definieren, den die Stadt für die nächsten Jahre sieht. Und damit würden vielleicht auch einmal die Kosten auf den Tisch kommen. Denn dass in Leipzig Schulbau, ÖPNV und Wohnungsbau so ins Hintertreffen geraten, hat viel mit den fehlenden Fördergeldern zu tun.

Diese Summen gehören endlich auf den Tisch, damit die Diskussion über das Wachstum der Stadt endlich auch eine bezifferbare Basis erhält. Immer erst reagieren, wenn Eltern und Kinder vorm Neuen Rathaus demonstrieren, hat mit der versprochenen nachhaltigen Stadtentwicklung nichts zu tun.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Es gibt 2 Kommentare

Beim aktuellen OBM war schon bei der Wiederwahl zu erwarten, dass es nichts zu erwarten gibt. Die Stadtverwaltung mit ihm an der Spitze gibt sich bräsig oder hechelt Partikularinteressen hinterher. Vom OBM keinerlei Akzentsetzung. Weder in der Wohnungspoiitik, im Schulbau und auch nicht im ÖPNV. Nichts.

Schreiben Sie einen Kommentar