Welcher Weg ist der richtige auf dem Weg zu einer inklusiven Bildung? Über diese Frage, auf die es viele Antworten geben kann, diskutierte heute der Stadtrat in einer bildungspolitischen Stunde. Eine solche findet jährlich seit 2011 statt und befasste sich dieses Mal mit dem Thema Inklusion. Zwei Gebärdendolmetscherinnen übersetzten simultan für Gehörlose.
Zunächst kamen vier Expertinnen auf diesem Gebiet zu Wort. Saskia Schuppener hat an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig eine Professur für “Pädagogik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung” inne. Sie informierte über allgemeine gesellschaftliche Grundlagen bei der Herausforderung Inklusion und räumte mit einigen falschen Vorstellungen auf: “Inklusion ist kein Endziel, das wir irgendwann erreicht haben werden, sondern ein Weg mit Bergen und Tälern. Perfektion stellt dabei eher ein Hindernis dar.” Dabei gehe es nicht um Gleichmacherei, sondern um die gleiche Berücksichtigung aller Interessen – trotz aller Verschiedenheiten.
Es solle nicht darum gehen, ein Kind “schulfähig”, sondern eine Schule “kindfähig” zu machen – und das meint eben alle Kinder. Für die Stadt – aber auch die Bundesländer – formulierte Schuppener einige konkrete Empfehlungen: zum Beispiel Handlungsansätze in den bildungspolitischen Leitlinien der Stadt zu konkretisieren, an Institutionen, die sich durch besonderes Engagement auszeichnen, Zertifikate zu verteilen, und auf regionale Expertise zivilgesellschaftlicher Akteure zurückzugreifen.
Im Anschluss berichteten drei Schulleiterinnen von ihren Erfahrungen. Ihre Bildungseinrichtungen nehmen am “Versuch Erina” teil, einem Programm des sächsischen Kultusministeriums, das Wege zur inklusiven Bildung erproben soll. Dieses findet seit dem Schuljahr 2012/13 an mittlerweile 26 Schulen in vier Modellregionen statt, darunter auch Leipzig. Heike Händel von der Carl-von-Linné-Schule in Eutritzsch berichtete von der Vorreiterrolle, die ihre Grundschule bereits Ende des vergangenen Jahrtausends spielte. Damals schloss man einen Kooperationsvertrag mit der benachbarten Förderschule, führte gemeinsame Aktionen wie eine Pflanzung von Bäumen durch und ermöglichte die wechselseitige Teilnahme am Kunst- oder Sportunterricht. “Im August 2000 feierten wir erstmals gemeinsam den Schulbeginn – so etwas ist heute längst ein festes Ritual geworden.”
Abschließend bekamen die Vertreter der Stadtratsfraktionen die Gelegenheit, sich zum Thema zu äußern. Karsten Albrecht (CDU) monierte, dass sich das Wort “Inklusion” weder in seinem Duden noch in der deutschen Ãœbersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention fände. “Jede einzelne Schule behindertengerecht auszubauen, schießt über das Ziel hinaus. Vielleicht reicht es ja auch, jede zweite auszubauen.” Deutlich richtete er sich gegen einen allzu starken Fokus auf das Thema Inklusion: “Es handelt sich nicht um eine Methode, sondern um eine Ideologie. Im Mittelpunkt steht nicht das individuelle Wohlbefinden, sondern die Umerziehung der Gesellschaft.” Dazu fiel ihm auch ein Vergleich ein: der Veggie-Day. Anschließend fragte Albrecht in den Raum hinein: “Wollen wir wirklich, dass auf unseren Bildungsautobahnen auf der linken Spur das Tempo 50 eingeführt wird?” Zusammengefasst: Individuelle Förderung lasse sich auch in Förderschulen gut umsetzen, an denen die CDU festhalte.
Harsche Kritik für diese Ausführungen erntete Albrecht anschließend von Sören Pellmann aus der Linksfraktion: “Das erinnert mich an Vorlesungen aus der Zeit Anfang 90er Jahre. Sie scheinen nicht verstanden zu haben, was mit Inklusion eigentlich gemeint ist.” Auch Andreas Geisler aus der SPD zeigte sich “erschüttert”. Seine Empfehlung für den Umgang mit dieser Thematik: “Inklusion ist dann erfolgreich, wenn sie von Anfang an gelebt wird; wenn sie von unten wächst und nicht von oben übergestülpt wird. Im Moment klingt das aber noch nach Zukunftsmusik.” Katharina Krefft (Grüne) gab Sachsen die rote Laterne in Sachen Inklusion. “Auch Leipzig hat das Problem noch nicht gelöst, Kinder zu beschulen, für die die Räume nicht geeignet sind.”
Zuletzt bekundete AfD-Stadtrat Christian Kriegel, bei der Integration von Menschen mit Behinderungen in den Schulalltag und ins Arbeitsleben “durchaus Positives” zu sehen. “Viele Lehrer sagen allerdings selbst, dass sie dafür nicht richtig ausgebildet sind oder nicht über ausreichende Mittel verfügen.” Stellte Kriegel die Hindernisse für eine erfolgreiche Inklusion zunächst vor allem als Frage der Personalausstattung dar, wurde er am Ende doch grundsätzlicher: “Wir erleben eine schleichende Öffnung für die Gesamtschule durch die Hintertür Inklusion.” Und: Barrierefreiheit in Schulen sei für Menschen mit Behinderung womöglich eine schlechte Vorbereitung auf das spätere Leben, in dem sie ja doch mit allerlei Hindernissen zu kämpfen hätten. So als gäbe es diese im sonstigen Alltag eines Kindes mit Behinderung nicht.
“Was CDU und AfD hier vorgetragen haben, hat mich an die Diskussionen vor einigen Jahrzehnten erinnert”, sagte Uni-Professorin Schuppener im Anschluss an die bildungspolitische Stunde gegenüber der L-IZ. “Was mir fehlt, ist eine klare Anerkennung von Menschenrechten.” Zufrieden sei sie mit den Reden von Linken, SPD und Grünen. “Sie haben meines Erachtens ein realistisches Bild von Inklusion gezeichnet, mit allen Ängsten und Herausforderungen, die dazu gehören und die man natürlich nicht verschweigen darf.”
Es gibt 3 Kommentare
Den Dummköpfen von CDU und AFD sei im eigenen Interesse mal ein Kontakt mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder deren Außenstelle hier in der Kochstraße nahe gelegt.
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/Home/home_node.html
Ist ja peinlich, was im Jahre 2015 im Parlament einer Großstadt von europäischer Bekanntheit noch so verzapft wird.
Liebe Leipziger Ortsgruppe der CDU: Bitte lösen Sie sich auf. Möglichst schnell, es hat keinen Zweck mehr mit Ihnen. Lassen Sie die Leute von der Jungen Union zum Zuge, die haben mehr Ahnung vom aktuellen Leben als Sie.
Häh? Ist die Leipziger CDU wirklich so dämlich, oder tut sie nur so?
Herr Albrecht ist ein Krawallschläger, wenn er meint, das Wort “Inklusion” komme in der deutschen Ãœbersetzung nicht vor und sei deshalb eine Ideologie.
-> Behindertenrechtskonvention, Artikel 3
englisches Original
http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CRPD/Pages/ConventionRightsPersonsWithDisabilities.aspx
>(c) Full and effective participation and inclusion in society;
deutsche Ãœbersetzung:
http://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/#artikel-3—allgemeine-grundstze
>(c) die volle und wirkÂsame TeilÂhabe an der Gesellschaft und EinÂbeziehung in die Gesellschaft;
Es ist stilistisch korrekt, das englische Wort “inclusion” ins Deutsche mit “Einbeziehung” zu übersetzen. Dass man im politischen Sprachgebrauch lieber das Fremdwort direkt eindeutscht, ist gängig.
Ich frage mich echt, wieso ein Stadtrat ernsthaft einen solchen Quatsch erzählen und daraus politisch Kapital schlagen darf.
Und, wo bleibt Konrad Riedel, der beste Behindertenbeauftragte, den die Stadt Leipzig je hatte? Muss er sich diesen Quark von seinem Parteifreund widerspruchslos anhören?