2020, das klingt wie Olympische Spiele. Die gibt es auch. Im fernen Tokio. 2020 ist auch wieder ein Wahljahr. In Leipzig. Dann steht die nächste OBM-Wahl auf dem Programm. Aber das, so sagt Leipzigs amtierender OBM Burkhard Jung, sei nicht der Grund dafür, dass er jetzt ein 74 Seiten dickes "Arbeitsprogramm 2020" vorlegt. Der Grund ist viel zwingender: 2020 läuft der Solidarpakt aus.
Besser gesagt: Es läuft am 31. Dezember 2019 aus. Ab dem 1. Januar 2020 gibt es für ostdeutsche Kommunen kein Geld mehr aus diesem Topf, mit dem der etwas reichere Westen den Osten seit 1993 unterstützt. Mittlerweile mit dem Solidarpakt II. “Aber mit einem Solidarpakt III rechnet wirklich niemand mehr”, sagt Burkhard Jung. 2020 muss Leipzig auf eigenen Füßen stehen. Bis dahin muss es die Stadt und ihre Verwaltung schaffen, den Betrag, den die Stadt aus dem Solidarpakt bekommt, möglichst komplett zu kompensieren – durch eigene Einnahmen.
Das ist der Grund, warum Burkhard Jung in Interviews seit geraumer Zeit immer wieder betont, Leipzig müsse seine Steuereinnahmen verdoppeln, insbesondere die Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Rund 210 Millionen Euro waren das im letzten Jahr. 2020 müssten es – rein rechnerisch – 400 Millionen werden. Auch die Einkommenssteuer steigt. Sie steigt tatsächlich, aber Leipzig bekommt davon immer nur einen Anteil. Der betrug in den letzten Jahren um die 80 Millionen Euro. 2020 könnten es, wenn der Einkommensanstieg anhält, um die 130 bis 150 Millionen Euro sein.
Ganz so unbegründet seien diese Prognosen nicht, sagte Burkhard Jung am Mittwoch, 20. März, als er sein “Arbeitsprogramm 2020” vorstellte. Nach einer langen, rund zehn Jahre anhaltenden Stagnation der Leipziger Nettoeinkommen steigen diese seit vier Jahren wieder, nicht üppig, aber wahrnehmbar. Das hat auch mit der zurückgehenden Arbeitslosigkeit zu tun, mit der Produktionsausweitung bei Porsche und BMW und mit der wachsenden Dienstleistungsbranche in Leipzig, auch wenn diese vor allem von Callcentern und Zeitarbeitsfirmen dominiert wird. Manchmal heißt es – auch in der Leipziger Stadtpolitik – Arbeit um jeden Preis.
Aber die Summe, die Leipzig 2020 dann aus eigener Kraft zusätzlich erwirtschaften muss, beträgt 200 bis 250 Millionen Euro. Deswegen, so Jung, stecke überall in seinem Arbeitsprogramm auch Wirtschaft mit drin. “Quasi als Folie”, sagt er. Alles andere setze darauf auf, angefangen von einem neuen Organisationskonzept für die Verwaltung bis zur Kultur- und Stadtteilpolitik.
Im Kern ist das Arbeitsprogramm eine Weiterentwicklung von Jungs Wahlkampfprogramm, mit dem er 2012 in den OBM-Wahlkampf gegangen ist. Nach der Wahl setzte er sich im März 2013 hin und machte einen ersten Entwurf für sein Arbeitsprogramm. Das setzte dann Monat für Monat Speck an. Wichtige Zuarbeiten leistete Stefan Heinig aus dem Stadtplanungsamt, aber auch die Bürgermeister arbeiteten ausgewählte Punkte zu, die die vier großen Ziele, die Jung sich ausgedacht hat, unterfüttern mit konkreten Projekten.
Dabei hat Jung sich auf Material besonnen, das es schon gibt. Er muss eine moderne Stadtpolitik ja nicht ganz neu erfinden. Es gibt die vom Stadtrat 2005 beschlossenen strategischen Ziele der Stadt (Arbeit, ausgewogene Altersstruktur), es gibt die von den EU-Ministern 2007 in Leipzig beschlossene “Leipzig Charta”, es gibt das 2010 von deutschen Oberbürgermeistern beschlossene Eckpunktepapier zur nachhaltigen Stadtentwicklung und es gibt das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (SeKo). Alles vor zwei Jahren schon mal kurz angepackt im Projekt “Leipzig weiter denken”, bei dem auch schon ein paar neue Instrumente der Bürgerbeteiligung ausprobiert wurden.Vier Ziele setzt Jung darauf auf: soziale Stabilität, Lebensqualität, Wettbewerbsfähigkeit und internationale Bedeutung.
Das passt in eine schöne Grafik. Aber hinterher braucht es dann doch 60 Seiten, um ein wenig zu skizzieren, was das eigentlich bedeutet. 60 Seiten, die vor allem eine Personengruppe lesen muss: die Verwaltungsangestellten. Ein Novum. So etwas gab es auch in Jungs Amtszeit noch nicht.
Nachhaltiger soll Stadtpolitik jetzt werden. In allen Bereichen. Von den Finanzen angefangen, wo der Schuldenabbau bis 2023 stringent weitergehen soll mit 30 Millionen Euro Schuldenabbau jedes Jahr, bis hin zur Wirtschaftsförderung, die sich schon jetzt neu formiert hat. Im August 2013 wurde die Wirtschaftsförderung Region Leipzig GmbH gegründet, die jetzt die Aktivitäten der Landkreise Nordsachsen und Leipzig und der Großstadt Leipzig bündelt. Jetzt im März kam die Fusion von Wirtschaftsinitiative und Metropolregion Mitteldeutschland hinzu. Wenn Leipzig als Metropole funktionieren soll und Motor für Arbeitsplätze und Unternehmensansiedlungen werden will, muss die Region an einem Strang ziehen. Das Kleinklein hat all die Jahre nur geschadet.
Hinten im Heft steht auch die kleine Hoffnung, dass es irgendwann ein schlagkräftiges Bundesland Mitteldeutschland geben wird. Aber darauf will Jung nicht warten. Wirtschaftlich muss die Region bis 2020 den Sprung schaffen und aus eigener Kraft wirtschaftlich wachsen.
Ein wenig tut es Leipzig ja schon. Die Arbeitslosigkeit ist seit Jahren im Sinkflug – trotz des starken Bevölkerungswachstums, das Leipzig in dieser Größenordnung zuletzt vor 100 Jahren erlebt hat. 10.000 zusätzliche Einwohner jedes Jahr, das könnte im Jahr 2020 durchaus bedeuten, dass Leipzig über 600.000 Einwohner hat. Vielleicht sogar mit einer Arbeitslosenquote um die 5 Prozent. Aber – da hat Jung recht – das kommt nicht von allein. Das muss von Leipzigs Verwaltung unterstützt werden. Von nix kommt nix. Dass Leipzig für junge Leute derzeit so attraktiv ist, das hat auch Gründe, die mit dieser Stadt und ihrer experimentierfreudigen Atmosphäre zu tun hat, dem Platz zum Ausprobieren und dem weltoffenen Klima. Aber vor allem auch mit der Zugkraft des Wissenschaftsstandortes.Und mit allem, was da andockt: die mittlerweile großenteils sanierte Gründerzeitbausubstanz, die reiche Kulturlandschaft von Oper bis Spinnerei, die nahe Wasserlandschaft und der noch vorhandene Raum für junge Wilde, wie Jung sie nennt. Das ist oft eine Gratwanderung. Wenn die Bevölkerung wächst, gehen viele Freiräume für junge Kreative verloren. Da ist auch die Stadt gefragt. Also setzt Jung mit dem Nichtverkauf des zweiten Bandhauses im Leipziger Westen erst einmal ein Zeichen. Er setzt auch für die Musikalische Komödie ein Zeichen: Das Operettenhaus im Leipziger Westen bleibt erhalten.
Er setzt auch bei Bildung eine Marke: 35 Millionen Euro sollen jedes Jahr in Neubau, Sanierung und Erhalt der Schulen fließen. “Das ist nicht viel”, gibt er zu. Mit Fördergeldern des Freistaats kann die Summe auf 50 Millionen aufgestockt werden. Das lässt den Tag, an dem der gewaltige 570-Millionen-Euro-Stau bei Leipzigs Schulen abgebaut ist, zumindest näher rücken. Irgendwann um 2025 könnte das so weit sein.
Bei Kindertagesstätten will Jung schon 2017 den Sprung schaffen und in die Nähe einer Bedarfsabdeckung kommen. Was auch an einer Zahl liegt, über die man nur spekulieren kann: die künftigen Geburtenzahlen. In seinem “Zukunftsbild Leipzig 2030” träumt Jung auch von einer Stadt, in der die Geburtenrate dauerhaft über der Sterberate liegt. Das hat Leipzig noch lange nicht geschafft. Will der OBM dafür Gutscheine an junge Eltern austeilen? – Nein, sagt er. Das Klima müsse stimmen. Wenn junge Leute in einer Stadt eine Atmosphäre vorfänden, die Familiengründung bestärke, dann würden sie sich auch für Kinder entscheiden. Daran müsse die Stadt arbeiten.
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Es wird sofort komplex. Aber die großen Themen einer Stadt werden immer komplex. Sie drohen nur im Ämterkleinklein oft zermahlen und zerstückelt zu werden. Deswegen hat Jung sein Programm auch zuerst mit den Amtsleitern diskutiert und noch einmal für Vorschläge geöffnet. Im März hat er es jetzt festgezurrt und am Montag, 17. März, im Gewandhaus vor allen Führungskräften aus der Verwaltung noch einmal erläutert. 99 Minuten lang, trockenen Mundes. Aber diese Leute sind es, die es jetzt umsetzen müssen. 2017 will Jung es noch einmal auf den Prüfstand stellen und eventuell nachjustieren, wenn Dinge nicht funktionieren.
Und ein Damoklesschwert hängt noch über dem Ganzen. Über der Stadt sowieso: der Prozess in London in Sachen Leipziger Wasserwerke gegen Schweizer Großbank UBS. Wer muss für den Schaden einstehen, den der ehemalige KWL-Geschäftsführer Heininger mit seinen ungenehmigten Geschäftspraktiken aufgehäuft hat: die Bank, die die Deals vermittelt hat, oder die Wasserwerke? Immerhin geht es um rund 300 Millionen Euro. “Wir sind gut aufgestellt”, sagt Jung, will aber auch den Worst Case nicht negieren. Wenn der Worst Case eintritt, so Jung, könne er sein Arbeitsprogramm einstampfen. Dann sei die Stadt Leipzig auf Jahre hinaus nicht mehr handlungsfähig.
Es ist also auch eine Grundfrage, die die Londoner Richter klären müssen: Darf eine Großbank Deals einfädeln, die Kommunen auf so eine Weise schädigen? Oder hätten es die Schweizer Banker besser wissen müssen?
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