Leipzig hat in der kommenden Bundestagswahl wieder zwei Direktmandate zu vergeben: eines im Norden (Wahlkreis 152) und eines im Süden (Wahlkreis 153). Um diese bewerben sich zwölf Kandidaten der etablierten Parteien. Im Interview erzählen diese, warum sie gewählt werden möchten, wie sie die Stadt sehen und was sie im Falle eines Wahlsiegs in Angriff nehmen wollen. In der achten Folge äußert sich Wolfgang Tiefensee, der für die SPD im Bundestag sitzt und für das Direktmandat im Leipziger Süden kandidiert. Tiefensee ist ehemaliger Bundesminister für Verkehr sowie ehemaliger Oberbürgermeister von Leipzig.
Wie viel haben Sie zuletzt für eine Straßenbahnfahrt bezahlt?
Ich kaufe immer eine Vierer-Karte für 6,40 Euro und fahre in Leipzig mit der Straßenbahn oder mit dem Auto, in meiner Freizeit mit dem Fahrrad. In der Regel habe ich immer Unterlagen dabei, also nutze ich lieber die Straßenbahn oder das Auto.
Was hat Sie in der vergangenen Legislaturperiode am meisten geärgert?
Die Tatenlosigkeit von Schwarz-Gelb, die Ankündigungsregierung, die im Koalitionsvertrag alles Mögliche verankert hat: von Angleichung der Renten Ost-West bis hin zur Entrümpelung der Mehrwertsteuer – die Regierung hat davon nichts gemacht. Die Situation ist in Deutschland nicht durch diese Bundesregierung besser geworden, sie erntet, wo wir Sozialdemokraten gesät haben. Die Bilanz von Frau Merkel und CDU/CSU und FDP für die letzten vier Jahre ist peinlich.
Worüber haben Sie sich am meisten gefreut?
Mich hat am meisten gefreut, dass Joachim Gauck Bundespräsident geworden ist. Hier in Leipzig, dass sich die Ansiedlungen, die ich mit befördern durfte – BMW, Porsche, DHL – so hervorragend entwickelt haben. Viele, viele tausend Arbeitsplätze sind entstanden. Außerdem, dass der RB Leipzig aufgestiegen ist, was sicher nicht zuletzt auf den wunderschönen Stadionbau zurückzuführen ist.
Welche Projekte werden Sie für Leipzig in Angriff nehmen, wenn Sie gewählt werden?
Mir geht es als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und ehemaliger Oberbürgermeister darum, gute wirtschaftliche Kompetenz in die Waagschale zu werfen. Höchste Priorität hat bei mir Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist uns jetzt gelungen bei Nokia Siemens Network und bei Siemens in Böhlitz-Ehrenberg. Die SIAG ist ein besonders gutes Beispiel. Hier habe ich mich gemeinsam mit der IG Metall massiv dafür eingesetzt, die Arbeitsplätze zu erhalten, das Unternehmen entwickelt sich inzwischen hervorragend. Außerdem durfte ich mithelfen, dass Nextbike den Zuschlag für einen Großauftrag im Ausland bekommen hat.
Zudem ist die Frage wichtig, wie wir die vorhandenen Unternehmen weiterentwickeln können. Ich kann mit meiner Erfahrung und meinen Netzwerken eine Menge bewegen. So knüpfe ich an die Ansiedlungen von Porsche, BMW, DHL und Amazon an. Vielleicht gelingt es uns auch mal wieder ein größeres Unternehmen nach Leipzig zu holen. Mit Zalando habe ich den Ernstkontakt hergestellt, als sie auf der Suche nach einem neuen Standort waren. Leider hat die Ansiedlung nicht geklappt, da Zalando nach Erfurt gezogen ist.
Was mir ganz besonders am Herzen liegt ist: wir dürfen nicht immer nur auf die Großunternehmen schauen, wenn wir über Wirtschaft reden. Gerade in Ostdeutschland ist viel wichtiger, die kleinen und mittelständischen Unternehmen im Blick zu haben. Sie bieten den Großteil der Arbeitsplätze. Ich habe mich damals als Oberbürgermeister zum Beispiel um den Einzelhandel in der Eisenbahnstraße gekümmert, bin in die kleinen Handwerksbetriebe gegangen und das soll auch weiter so sein. Ich möchte eine Lanze brechen für diejenigen, die selbstständig sind mit zwei, drei Beschäftigten, die im Bilde gesprochen immer auf dem Drahtseil über Beton laufen.
Was müssen wir also machen? Wir müssen erstens die gesellschaftliche Anerkennung stärken. Zweitens, wir müssen das Steuersystem durchschaubarer machen und Bürokratie abbauen. Zum dritten, wir müssen dafür sorgen, dass die Fachkräfte, insbesondere die, die aus der Arbeitslosigkeit kommen, tatsächlich den Sprung in ordentlich bezahlte Arbeit schaffen. Und wir müssen diejenigen, die sich auf den Sozialleistungen ausruhen, aktivieren.
Im sozialpolitischen Bereich möchte ich für Jugendliche, die keinen Schulabschluss haben, in unserer Stadt weiter Chancen eröffnen. Ich habe mich deshalb intensiv um die Produktionsschulen gekümmert, das will ich auch weiter tun. Es gibt vom internationalen Bund das Projekt Zweite Chance, die Joblinge bei BMW. Es gibt bei der Freiwilligenagentur die Großmütterpaten, die sich um diese Jugendlichen kümmern – eine großartige Arbeit, die ich weiter unterstützen möchte.
Ich möchte außerdem, dass wir das Rentensystem Ost und West schrittweise bis 2019 angleichen. Das ist ein Riesenvorhaben, steht bei uns im Regierungsprogramm und will natürlich durchgesetzt werden. Wir haben das begleitet von der Fraktion, vom Forum Ostdeutschland, dessen Vorsitzender ich gerade wieder geworden bin. Ich möchte das weiter vorantreiben, damit wir Altersarmut verhindern. Denen, die Kinder erzogen haben, die schlecht bezahlte Jobs hatten, die teilweise in der Arbeitslosigkeit waren, möchte ich ermöglichen, dass auch sie gut in unserer lebenswerten Stadt leben können.
Das sind drei wichtige Schwerpunkte: Wirtschaft unterstützen, die Arbeitsplätze schafft. Chancen der Jugendlichen auf ein selbstbestimmtes Leben verbessern. Rentensystem Ost-West schrittweise angleichen.
Warum sollten die Leipziger Sie wählen?
Ich kann nur um das Vertrauen bitten. Vertrauen in einen Mann, der mit seiner ganzen Kraft und Leidenschaft unsere Stadt weiter voranbringen will. Ich bringe meine Erfahrung ein als Familienvater, als Ingenieur in der DDR, der in Industrie und Hochschule gearbeitet hat. Als Oberbürgermeister, Präsident des Europäischen Städtetages und Minister habe ich weitere wichtige Erfahrungen sammeln können. Das alles bringe ich ein, um die Anliegen der Leipzigerinnen und Leipziger nach Berlin zu tragen und dort für ihre Anliegen zu kämpfen.
Mir ist es aber auch wichtig, Politik zu erklären und Interesse für Politik zu wecken. Wir müssen etwas zur Stärkung der Demokratie tun. Wir reden allgemein von der Politik- oder Politikerverdrossenheit – und ich setze noch eins drauf: Es gibt einige Menschen, die die Politiker geradezu verachten. Diese Distanz, die sogar ganz rechtes Gedankengut aufleben lässt, gilt es entschieden entgegenzutreten. Indem man authentisch ist, in dem man sich mit all seiner Kraft für seinen Wahlkreis einsetzt. Das will ich weiterhin tun.
Was planen Sie, falls Sie den Einzug nicht schaffen?
Die Wähler allein haben am Sonntag die Entscheidung. Dennoch muss ich sagen, dass ich mich nicht mit dieser Alternative beschäftige. Seit ich 1990 an den Runden Tisch gegangen bin weiß ich, dass wir immer, egal ob als Wahlbeamte oder als Abgeordnete, nur für eine begrenzte Zeit das Mandat bekommen. Wenn man so will, eine geborgte Zeit. Ich bin guten Mutes und voller Zuversicht, dass die SPD an Stimmen gewinnt, dass der Kanzler Peer Steinbrück heißt und ich eine Chance habe, weiter politisch zu gestalten und mich für Leipzig in Berlin einzusetzen.
Was sind Leipzigs drängendste drei Probleme?
Punkt eins: Bildung. In Leipzig gibt es nicht genug Kita- und Schulplätze. Das hemmt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist vor allem für Alleinerziehende ein großes Problem. Ich habe bei vielen Gesprächen auf der Straße Menschen kennengelernt, die sagen: Herr Tiefensee, ich würde gerne arbeiten gehen, aber ich habe drei Kinder und bin alleinerziehend, ich weiß gar nicht, wie ich das logistisch schaffen soll.
Punkt zwei, der mir als ehemaliger Oberbürgermeister wichtig ist: Wir müssen die Finanzkraft der Kommunen stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass der Bund in Infrastruktur investiert. Die Kommunen sind chronisch unterfinanziert. Der Bürger erwartet eine Leistung, eine Qualität von der öffentlichen Hand und eine adäquate Finanzausstattung dafür. Die SPD hat ihre Ideen hierfür auf den Tisch gelegt.
Punkt drei: Gut ist, dass heute so viele Menschen wie noch nie eine Arbeit haben. Aber schlecht ist, dass viele von ihrer Arbeit nicht leben können. Sie müssen zum Jobcenter gehen und ihr Gehalt mit Hartz IV aufstocken. Das ist ein Riesenproblem, auch in Leipzig. Deshalb wird die SPD nach dem Regierungswechsel einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro einführen. Die CDU will das nicht. Doch wer arbeitet, muss davon leben können.
Beamen Sie sich gedanklich ins Jahr 2030. Wie hat sich die Stadt verändert?
Die Stadt hat an Bedeutung gewonnen, weil sie mittlerweile 580.000 Einwohner hat, weil die Nachfrage nach Studienplätzen von jungen Leuten aus allen Teilen Deutschlands, aus allen Teilen Europas, extrem zugenommen hat. Die Stadt wird ihren Ruf als Kulturmetropole im Ranking der 600.000er Städte gefestigt haben und wird so zu einem Schmelztiegel für junge Leute. Leipzig wird eine Stadt, die wirtschaftlich gut dastehen wird mit einem starken Standbein in der Kreativ- und digitalen Wirtschaft. Und auf der anderen Seite hat sie eine ganz hohe Lebensqualität, was Umwelt und das Flair in der Innenstadt betrifft, so dass sie für Kinder und ihre Eltern genauso attraktiv ist wie für Senioren. Eine lebenswerte, liebenswerte Stadt und insbesondere mit liebenswerten Bürgerinnen und Bürgern.
Wie stehen Sie zum Vorschlag, ein Großbundesland Mitteldeutschland zu schaffen?
Ich bin nicht dafür, dass wir jetzt über eine Fusion der Länder reden. Das halte ich für den zweiten Schritt vor dem ersten. Wenn die drei – im Vergleich zu NRW oder Bayern – kleinen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu einem Großbundesland Mitteldeutschland verschmolzen werden sollen, dann gibt es jede Verwaltung, jede Behörde drei Mal. Ehe wir also über ein Großbundesland Mitteldeutschland reden, müssen wir die Verwaltungen Schritt für Schritt zusammenlegen, zum Beispiel die Schul- und Finanzämter oder die Wirtschaftsförderung.
Wenn das der Fall ist, wenn sich das eingespielt hat, ohne dass wir den lokalen Bezug, die lokale Identität verletzt haben, dann – und nur dann – wird man darüber neu debattieren können, ob man auch die politische Ebene zusammenbringt. Also ob man aus drei Ministerpräsidenten und aus drei Landtagen einen macht. Das Pferd von hinten aufzuzäumen, ist der falsche Weg.
Würden Sie Ihren Kindern den Job als Bundestagsabgeordneter empfehlen?
Mein Sohn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem SPD-Kollegen im Bundestag. Er kennt den Betrieb und wer weiß, vielleicht möchte er später auch einmal die Seite wechseln. Meine drei anderen Kindern haben sich schon dazu entschieden, andere berufliche Wege zu gehen. Das muss jeder selbst entscheiden – ich kann es aber jedem empfehlen. Es macht großen Spaß.
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