Leipzig hat in der kommenden Bundestagswahl wieder zwei Direktmandate zu vergeben: eines im Norden (Wahlkreis 152) und eines im Süden (Wahlkreis 153). Um diese bewerben sich zwölf Kandidaten der etablierten Parteien. Im Interview erzählen diese, warum sie gewählt werden möchten, wie sie die Stadt sehen und was sie im Falle eines Wahlsiegs in Angriff nehmen wollen. In der letzten Folge äußert sich Stefanie Gruner, die für die Grünen im Leipziger Norden kandidiert. Die gebürtige Thüringerin ist Anwältin und sieht ihre Steckenpferde in Verkehrsthemen und Sozialpolitik.
Frau Gruner, wie viel haben Sie zuletzt für eine Fahrt mit der Straßenbahn bezahlt?
Ich bin zuletzt, dank der von den Leipziger Verkehrsbetrieben eingeführten Babycard, ein Jahr lang kostenlos Straßenbahn gefahren, was ich toll fand. Ansonsten kostet es 2,30 Euro pro Fahrt und ich werde mir jetzt, da meine Babycard ausläuft, ein Abo holen, was ich mit 50 Euro im Monat relativ teuer finde. Dabei ist es quasi unmöglich, bei diesen Einzelpreisen in Leipzig mit der Familie Straßenbahn zu fahren. Also wenn wir mit beiden Kindern in die Stadt fahren und 6,60 Euro und das Gleiche für den Rückweg, also 12, 13 Euro zahlen ist einfach absurd. Das sind Preise, an denen man etwas ändern müsste.
Was hat Sie denn in der vergangenen Legislaturperiode am meisten geärgert?
Da waren so einige Sachen. Allgemein gesprochen, werden immer wieder Neuerungen angekündigt, großartig besprochen und am Ende passiert wenig. Weder im Rentenbereich, noch im Steuerbereich, noch sonst irgendwo passiert überhaupt etwas. Das lächelt die Kanzlerin jedoch weg. Speziell war ärgerlich, dass man sich so vom Verfassungsgericht treiben lassen muss, was Familienformen angeht, was Gleichstellung von Frauen angeht oder die Frauenquote. Mit solchen Projekten kommt man keinen Schritt vorwärts, obwohl man sieht, dass es nötig wäre. Es herrscht Stillstand, aber es wird der Anschein erweckt, dass viel passiert.
Die Behandlung der Eurokrise ist ausgesprochen ärgerlich. Natürlich lässt sich das aus der Außenperspektive leicht sagen, doch viele Entscheidungen waren nicht mehr demokratisch legitimiert. Es gab Prozesse, die im Hinterzimmer ausgehandelt wurden. Ob sie am Ende richtig oder alternativlos oder sonst was waren, sie waren zumindest nicht transparent und nicht wirklich legitimiert, was letzten Endes nicht nur an der Bundespolitik, sondern auch an der Europapolitik liegt. All das ist sehr schade, denn die Demokratie erodiert. Ich habe den Eindruck, die Menschen sagen sich: Wir dürfen nur alle vier Jahre wählen und dann ist es egal wen, denn die machen alle das Gleiche. Die ganze Eurokrise hat negative Auswirkungen auf die Demokratie im Allgemeinen.
Und was hat Sie am meisten gefreut?
(Schweigt). Über die Regierung habe ich mich wenig gefreut, eher hin und wieder mal über das Bundesverfassungsgericht, welches das ein oder andere richtiggestellt hat. Lassen Sie mich überlegen, es muss ja auch irgendwas Positives gewesen sein…
Tendenziell hat man die Vielfalt der Lebensentwürfe in den Blick bekommen und wird nach und nach aufgeschlossener. Wir als Grüne waren da immer schon Vorreiter, doch auch in der CDU werden die konservativen Hardliner – für die nur ein Lebensmodell zählt, in welchem der Mann das Geld nach Hause bringt und die Frau den Kindern, die elf Uhr aus der Schule nach Hause kommen, ein Mittagessen kocht – immer weniger. Über diese Entwicklung bin ich froh.
Wenn sich die Gesellschaft wandelt, muss die Politik dies begleiten. In der Energiefrage zum Beispiel sind die Menschen schon viel weiter. Für die Energiewende sind sie sogar bereit, etwas höhere Strompreise in Kauf zu nehmen, wenn sie fair verteilt werden und nicht große Unternehmen ausgenommen werden und alles auf kleine Handwerker und Privathaushalte verteilt wird. Die Bevölkerung findet, Atomenergie geht gar nicht und Braunkohle hat langfristig keine Zukunft. Da die Gesellschaft hier weiter voraus denkt, muss die Politik nacharbeiten. Damit wir das tun dürfen, möchten wir wieder in die Bundesregierung eintreten.
Welche Projekte werden Sie für Leipzig in Angriff nehmen, wenn Sie gewählt werden?
Für Leipzig, für den Osten und unsere Lebenswirklichkeit sind die Themen Steuern und Ehegattensplitting wichtig, dass wir das den Realitäten anpassen, wie sie eben sind. Wichtig ist, Familien mit Kindern gleichzustellen, egal ob die Eltern verheiratet sind oder nicht. Das entspricht hier noch mehr der Realität jetzt als in Bayern oder anderswo. Die Steuerpläne der Grünen sehen vor, dass in Sachsen 95 Prozent der Bevölkerung entlastet wird. Die Last würde auf andere Schultern verteilt werden und damit eine gewisse Gerechtigkeit einher gehen, gerade für die nicht übermäßig hohen Löhne, die wir in Leipzig haben.
Für Leipzig konkret sind auch Verkehrsthemen wichtig. Öffentlicher Verkehr muss vom Bund besser gefördert werden, es muss mehr investiert werden, nicht so sehr in neue Straßen, sondern in den Erhalt von Straßen und in den Erhalt und Ausbau von öffentlichem Nahverkehr. Auch für Fußgänger und Radfahrer. Ich bin ein Verfechter des, wenn es auch nicht populär ist, Tempo-30-Limits. Es würde für mehr Verkehrssicherheit sorgen, gerade für Kinder und Radfahrer.
Dann liegen mir die Gleichstellung von Frauen sowie die Frauenquote am Herzen. Wenn man auf den Arbeitsmarkt schaut, dort sind Minijobs in der Regel weiblich besetzt. Das führt zu verschiedenen sozialen Problemen. Da Änderungen herbei zu führen, wäre mir ganz wichtig.
Warum sollten die Leipziger Sie wählen?
Im Gegensatz zu den anderen Kandidaten im Leipziger Norden, die doch mehrheitlich bereits im Parlament vertreten sind, habe ich frischere Ideen, die für Leipzig Verbesserungen bringen könnten. Anders als Bettina Kudla, die, entgegen der überwiegenden Meinung in ihrem Wahlkreis, einfach den Flughafen immer wieder verteidigt und befördert, und die auch in der Familienpolitik einige etwas schräge Ansichten vertritt, bin ich, durch meinen Beruf und durch meine Kinder, näher am Leben der Menschen dran. Zudem war ich in der Stadtpolitik aktiv, war Sprecherin der Grünen vor Ort. Ich könnte im Parlament die Standpunkte der Leipziger besser vertreten und versuchen, etwas für die Menschen hier zu tun. Am Herzen liegt mir auch die Frage der direkten Demokratie, bei der die etablierteren Parteien immer noch erhebliche Vorbehalte haben. Um mehr Vertrauen in die parlamentarische Demokratie zu schaffen, brauchen wir direktdemokratische Elemente.
Was planen Sie, wenn Sie den Einzug nicht schaffen sollten?
Dann werde ich weiter Anwältin sein. Meinen Beruf übe ich gerne aus, denn das Familienrecht ist kein reines trockenes Aktenstudium, man ist an den Geschichten der Menschen dran und manchmal ein bisschen ihr Therapeut. Politisch werde ich weiter in der Kommunalpolitik tätig sein, vielleicht für den Stadtrat kandidieren. Und auch die Bundesthemen werde wir als Leipziger Grüne immer aufgreifen und kommentieren.
Was sind Leipzigs drängendste drei Probleme?
Es ist schwierig, die Probleme in Platz eins, zwei und drei zu ordnen, da so viele Dinge drängen.
Ein Problem ist die immer noch sehr überschaubare Lohnentwicklung. Sie führt dazu, dass es viele Aufstocker gibt, deren Löhne nicht zum Leben reichen und staatlich bezuschusst werden müssen. Es braucht mehr innovative Unternehmen, die gute Löhne zahlen und den Menschen eine Perspektive bieten, das wäre das erste.
Zweitens sehe ich die Verkehrsproblematik. Die Zahl der in Leipzig zugelassenen Autos steigt. Nun habe ich nichts gegen Autos, nur leidet die Lebensqualität in einer Großstadt unter zu viel Individualverkehr. Das ist ein Lärmproblem, ein Verschmutzungsproblem und letztlich ein Umwelt- und Klimaproblem. Hier sollten wir ansetzen und einen anderen Lebensstil entwickeln. In Leipzig herrscht ein Anhängen an den Wachstumsbegriff, den unser Oberbürgermeister immer hofiert: Leipzig muss wachsen, wir brauchen mehr Menschen und mehr Wirtschaft, mehr, alles mehr. Vielleicht sollten wir nicht immer nur in Quantität, sondern in Qualität messen. Und da wäre die Verkehrsthematik ein guter Anfang.
Drittens steht der Wunsch, ein Umfeld für Kinder zu haben, in dem man sie gerne hier groß zieht. Ich sehe das unter dem Überbegriff der Generationengerechtigkeit, also dass man den Kindern eine lebenswerte Stadt hinterlässt. Gut ist, dass der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz durchgesetzt wurde. Doch den Kommunen wurde nicht gleichzeitig das Geld zugewiesen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Diese Tendenz ist häufig zu beobachten: Die Aufgaben werden nach unten weitergereicht, ohne für eine Finanzierung zu sorgen. Dabei sind die Kommunen viel näher an der Lebenswirklichkeit und sie brauchen größeren Spielraum, um wirklich Einfluss nehmen zu können und nicht mehr nur den Mangel verwalten zu müssen, weil kein Geld da ist. In Leipzig erleben wir dieses Kuriosum mit den Kita-Plätzen. Zum Teil werden neue Plätze geschaffen werden durch Tricksereien, zum Beispiel, dass man neue Gruppengrößen einführt und so weiter.
Dann die intransparente Vergabe: Eltern werden durch die Gegend gescheucht, ohne dass sie einen Platz bekommen und stiehlt ihnen und dem Kita-Personal die Zeit. Dieses Vergabechaos ist schwer in den Griff zu kriegen. Finanziell braucht es für die Schaffung der Kitaplätze und für viele andere Aufgaben eine stärkere Unterstützung von Seiten des Bundes.
Beamen Sie sich gedanklich in das Jahr 2030. Wie hat sich die Stadt verändert?
Meine Wunschvorstellung wäre, dass man wirklich eine höhere Lebensqualität hat. Da denke ich zum Beispiel an mehr Radverkehr, also mehr Verkehr abseits von Autos. Des Weiteren wünsche ich, dass man Quartiere hat, also Stadtviertel, wo es sich zu leben lohnt und wo man auch mit Kindern gerne lebt. Zu dieser Lebensqualität gehört für mich auch politische Transparenz und der Wille, die Bürger einzubeziehen.
Wie stehen Sie zum dem Vorschlag, ein Großbundesland Mitteldeutschland zu schaffen?
Ich stehe dem grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Zum Teil hat unsere mitteldeutsche Region, also Halle und Leipzig, mehr miteinander zu tun als Leipzig und Dresden. Kooperation ist immer gut und über Bundeslandgrenzen hinaus würde es die Entwicklung aller drei Länder begünstigen, wenn man sich zusammenschließt. Generell befürworte ich, dass Entscheidungen möglichst auf der unteren Ebene getroffen werden, dass Kommunen viel Entscheidungsspielraum bekommen und die Länder beschneidet. Insofern ist gegen ein großes Bundesland nichts einzuwenden, zumal Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen viele Gemeinsamkeiten haben, die man als Großbundesland noch besser entwickeln könnte.
Es könnte auch dabei helfen, in Sachsen bestimmte Verkrustungen aufzulösen. In Sachsen-Anhalt und Thüringen gab es hin und wieder Regierungswechsel, in Sachsen scheint seit Menschengedenken die CDU zu regieren. Da mal etwas Wind reinzubringen und die Gefüge ein bisschen durcheinander zu wirbeln, kann positive Wirkungen haben. Doch Dinge, welche die Menschen konkret betreffen, dürfen nicht in 200, 300 Kilometer Entfernung entschieden werden. Da setze ich klar auf die Kommunen, dass sie die Menschen vor Ort und die politischen Prozesse sehen können und konkrete Auswirkungen beobachten. Den Rest kann man auch von einer entfernteren Landeshauptstadt aus regeln.
Würden Sie Ihren Kindern den Job als Bundestagsabgeordnete empfehlen?
Bei mir ist es eine hypothetische Frage, da ich noch nicht Abgeordnete war. Meine Töchter sind bisher mit einer Kanzlerin Angela Merkel aufgewachsen. Abgesehen von der Person Angela Merkel finde ich es schon mal gut, dass zum Beispiel meine Große, die jetzt zwölf Jahre alt ist und beginnt, sich für Politik zu interessieren, eine Bundeskanzlerin sieht. Das hatten alle Generationen davor nicht und so wird Mädchen klarer bewusst: Ich kann Bundeskanzlerin werden.
Ich würde meine Kinder immer ermutigen, in die Politik zu gehen und ihre Interessen zu vertreten. Das muss nicht im Bundestag sein, es gibt auch andere Wege, zum Beispiel habe ich als Studentin beim Studentenrat mitgeholfen. Wir haben die Elterninitiative an der Uni gegründet, die für studierende Eltern eintritt. Es gibt viele Möglichkeiten des Engagements und ich würde auch empfehlen, vorher in andere Bereiche des Lebens hineinzuschnuppern. Von vornherein das Berufsziel zu formen, Bundestagsabgeordnete zu werden, halte ich für eher schwierig. Ich selbst bin erst mit 29 in eine Partei eingetreten. Politisch war ich immer schon interessiert, aber das strukturierte “Politik machen” ist mir eher später begegnet und das finde ich auch nicht ganz schlecht.
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