Leipzig hat in der kommenden Bundestagswahl wieder zwei Direktmandate zu vergeben: eines im Norden (Wahlkreis 152) und eines im Süden (Wahlkreis 153). Um diese bewerben sich zwölf Kandidaten der etablierten Parteien. Im Interview erzählen diese, warum sie gewählt werden möchten, wie sie die Stadt sehen und was sie im Falle eines Wahlsiegs in Angriff nehmen wollen. In der neunten Folge äußert sich Mike Nagler.
Der Parteilose tritt für Die Linke im Leipziger Süden an. Im Jahr 2009 schnitt er als Zweitbester ab, dicht hinter Mandatsgewinner Thomas Feist. Nagler ist diplomierter Bauingenieur und engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich, jüngst beim Bürgerbehren der Privatisierungsbremse.
Wie viel haben Sie denn zuletzt für eine Fahrt mit der Straßenbahn bezahlt?
1,60 Euro habe ich bezahlt für die Kurzstrecke. Normalerweise bin ich mit dem Fahrrad unterwegs, nur im Winter, wenn es richtig kalt ist, mit der Bahn. Aber meistens mit dem Fahrrad und das geht relativ gut.
Was hat Sie in der vergangenen Legislaturperiode am meisten geärgert?
Ziemlich vieles. Zum einen, dass der Bundestag – und es ist egal, welche Regierung da gerade an der Macht ist – die Rüstungsexporte einfach so durchwinkt. Die Rüstungsexporte sind in den letzten Jahren immer gestiegen. Zum anderen, dass in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Es war eine Reihe von Gesetzen, die dazu geführt haben. Die Abschaffung beziehungsweise Aussetzung der Vermögenssteuer im Jahr 1997 oder die Hartz-Gesetze, welche nachfolgend die prekäre Beschäftigung gefördert haben.
Und drittens, womit wir uns in Leipzig in verschiedenen Bürgerinitiativen beschäftigen: die Unterfinanzierung von Städten und Gemeinden. Leipzig ist stark betroffen, aber es betrifft auch viele andere Städte. Das führt wiederum dazu, dass Kommunalpolitiker kurzfristige Entscheidungen treffen und städtisches Eigentum verkaufen. Das zu verhindern war mein Hauptansatz, damals nach dem erfolgreichen Bürgerentscheid, weswegen ich in die Bundespolitik will: für eine bessere Stellung der Gemeindefinanzen. Dafür ist es aber auch nötig, die Einnahmen-Seite zu verbessern, sprich auch hohe Vermögen wieder stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Was hat Sie am meisten gefreut?
(Schweigt.) Ich muss echt nachdenken. Es gibt nichts, worüber ich mich von Seiten der Bundesregierung gefreut hätte. Aber in der Zivilbevölkerung gibt es durchaus jetzt mehr Bürger, die der Meinung sind, dass es so nicht weitergehen kann. Sie vertrauen nicht mehr nur den Politikern, im Sinne von, die machen das schon, sondern sie werden selbst aktiv. Ob das jetzt im Kleinen ist, durch Bürgerbegehren, oder im Größeren, durch Demonstrationen, wie jetzt in Frankfurt oder Berlin die Blockupy- oder Umfairteilen-Demonstrationen. Also das würde ich positiv bewerten, wenn Bürger nicht mehr sagen: Das ist die Bundespolitik und das macht die Regierung und dafür sind die Parteien zuständig. Sondern sie sagen: Demokratie bedeutet, dass wir alle Verantwortung tragen, dass wir alle uns einbringen.
Welche Projekte werden Sie für Leipzig in Angriff nehmen, wenn Sie gewählt werden?
Ganz wichtig, wie schon gesagt, ist die Gemeindefinanzierung. Leipzig hat mehr als 700 Millionen Euro Schulden, und das sehen parteiübergreifend alle Kommunalpolitiker als großes Problem. Einer Menge kleinerer und mittlerer Städte geht es so. Sie können, so unterfinanziert, wichtige Aufgaben, die sie von Seiten der Bundespolitik aufgebürdet bekommen, wie zum Beispiel die Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Empfänger, nicht mehr bezahlen. Wenn durch bundespolitische Entscheidungen zusätzliche Aufgaben für die Kommunen entstehen, dann muss auch gewährleistet sein, dass die Städte und Gemeinden finanziell in diese Lage gebracht werden, diese Aufgaben leisten zu können. Man könnte ihnen beispielsweise einen größeren Anteil an der Einkommensteuer zusprechen oder die Vermögenssteuer wieder einführen und ihnen daraus Einnahmen zukommen lassen.
Durch diese kontinuierliche Entwicklung in den letzten 20 Jahren nimmt die Demokratie Schaden. Wenn immer mehr Leute nicht wählen gehen, hängt es auch daran, dass sie in der Kommunalpolitik keinen Unterschied mehr sehen zwischen den Parteien. Da ist es relativ egal, welche Partei man wählt, am Ende sind aufgrund von Haushaltszwängen allen irgendwie die Hände gebunden und sie überlegen, wie können wir das ganze Ding irgendwie günstig am Laufen halten. Dem könnte man entgegen wirken, indem man den Handlungsspielraum für die Städte und Gemeinden wieder herstellt. Aber das fordert der Städte- und Gemeindetag bereits seit vielen Jahren.
Ein weiterer Punkt ist, dass noch viel zu wenig über Friedenspolitik diskutiert wird. Deutschland ist momentan in elf Ländern mit der Bundeswehr an Auslandseinsätzen beteiligt, dazu kommen die ganzen Rüstungsexporte und dann auch – wir sind hier in der Stadt der Friedlichen Revolution – dass der Flughafen von der Nato als Umschlagpunkt für die Transporte nach Afghanistan und in den Irak benutzt wird. So etwas muss thematisiert werden, auch wenn diese Konflikte nicht direkt hier vor der Haustür stattfinden, weshalb es wohl nicht so tief im Bewusstsein der Bevölkerung ist. Militäreinsätze lösen keine Konflikte.
Dann die generelle Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Hier müsste umverteilt werden. Und da gibt es vieles, was zu einer gerechteren Verteilung führt: Vermögenssteuer, Mindestlohn, bedingungsloses Grundeinkommen, um nur einige zu nennen.
Warum sollten die Leipziger Sie wählen?
Wegen meiner Inhalte. Ich bin zwar nicht der typische Parteinachwuchs, aber ich engagiere mich seit vielen Jahren politisch, in Bürgerinitiativen, in verschiedenen Netzwerken, und mir geht es eben nicht darum, jetzt in den Bundestag zu gehen und weg zu sein und da ein bisschen mitzustimmen. Mir liegt daran, das ganze außerparlamentarische Engagement, was ich den letzten Jahren gemacht habe, mit parlamentarischen Mitteln weiter zu führen und zu stärken. Mit den Mitteln, die der Bundestag mir bietet, etwa Informationszugänge, die man dadurch hat, aber auch durchaus Finanzen, diese ganzen Aktivitäten, die kleinen Bewegungen und Initiativen, stärker voranzubringen.
Der Hauptpunkt, auch wenn ich ihn schon genannt habe, bleibt, der Privatisierung etwas entgegen zu setzen. Deshalb habe ich auch 2009 bereits kandidiert: Wir haben zwar das Bürgerbegehren erfolgreich zu Ende gebracht, also Verkäufe von Wasserwerken, Stadtwerken, Krankenhäusern und so weiter vorerst verhindert, aber natürlich wurde die chronische Unterfinanzierung der Städte und Gemeinden nicht geregelt. Und so lange man das nicht angeht, wird es alle paar Jahre eine solche Privatisierungsdebatte geben – wir haben sie gerade wieder. Die Bindewirkung des Bürgerentscheids ist 2011 ausgelaufen. Zwar haben wir keine Debatte über einen möglichen Gesamtverkauf der Stadtwerke oder der Wasserwerke mehr, aber seitdem wird kontinuierlich städtisches Eigentum in einer Art Salami-Taktik verkauft. Auf kommunaler Ebene führt man nur Abwehrkämpfe, um tatsächlich etwas zu ändern, ist es wichtig, dass aus den Bewegungen Leute in den Bundestag kommen.
Was planen Sie, falls Sie den Einzug nicht schaffen?
(Lacht) Ich engagiere mich weiter politisch, so wie bisher auch. Es würde nicht bedeuten, dass ich mich wieder von der Politik verabschieden würde. Ich würde es eben gern stärker tun, da wäre es sinnvoll, wenn man nicht nebenbei noch schauen müsste, von was lebt man eigentlich? Ich habe die Priorität schon länger auf die Politik gelegt, weil ich etwas verändern möchte in der Gesellschaft. Dafür stecke ich auch bei anderen Sachen zurück, was den Job angeht. Diese Tätigkeiten sind mir zwar sehr wichtig, doch auf Dauer wird es nicht gehen.
Was sind Leipzigs drängendste drei Probleme?
Nummer eins: die Unterfinanzierung. Nummer zwei: Dass immer mehr Menschen von der sozialen, kulturellen und demokratischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Leider werden noch immer Floskeln wiederholt wie, dass Arbeitslose nicht arbeiten wollen. Aber das stimmt so nicht und darin begründet sich ein großes Problem. Grundsätzlich müssen wir debattieren, wie Arbeit in dieser Gesellschaft gerechter zu verteilen ist und auch das erwirtschaftete Vermögen. Wir brauchen einen Mindestlohn, brauchen auch eine Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Da sind wir, zumindest was die jetzige Bundesregierung angeht, noch nicht weit. Ständig werden Statistiken rausgepulvert, die besagen, die Arbeitslosigkeit sei weiter zurückgegangen. Das ist alles Schönrechnerei. Eine Vielzahl meiner ehemaligen Mitstudenten – viele davon Diplomingenieure, wirklich kompetente Leute – arbeitet, egal ob an der Uni oder anderswo, in prekären Jobs. Und das trifft man in allen möglichen Bereichen an.
Nummer drei: Städtisches Eigentum wird zunehmend verkauft. Die politischen Entscheidungsträger dieser Stadt scheinen in Wahlperioden zu denken, also in vier Jahren sind sie nicht mehr Stadtrat und in zehn Jahren schon gar nicht mehr. Ich erwähne das im Zusammenhang mit dem KWL-Skandal und den Crossborderleasing-Geschäften. Es muss mehr Transparenz in städtische Unternehmen gebracht werden. Sie müssen städtisch bleiben, doch das darf nicht dazu führen, dass zwei Manager am Stadtrat und am Aufsichtsrat vorbei machen können, was sie wollen und am Ende die Bürger der Stadt mit 300 Millionen Euro belastet werden.
Beamen Sie sich gedanklich mal ins Jahr 2030. Wie hat sich die Stadt verändert? Was sehen Sie?
Vom Leipziger Flughafen gehen keine Kriegstransporte mehr ab, die Bürger organisieren die Energieversorgung und die Wasserversorgung und vieles andere selbst, demokratisch und transparent. Es gibt keine Arbeitslosigkeit, weil Arbeit und Einkommen gerecht verteilt sind. Es gibt keine Menschen, die 60, 70 Stunden pro Woche arbeiten müssen und dann keine Freizeit haben. Und auf der anderen Seite gibt es auch keine, die ausgeschlossen werden, weil sie aufgrund von Arbeitslosigkeit stigmatisiert werden. Jeder hat genügend Zeit, um seine Interessen zu verwirklichen und sich weiterzubringen. Das klingt jetzt natürlich alles sehr utopisch. (Lacht) Naja, man muss positiv denken.
Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, ein Großbundesland Mitteldeutschland zu schaffen?
Dazu habe ich keine grundsätzliche Position. Prinzipiell fände ich es gut, bestimmte Bereiche zu vereinheitlichen. Ich war früher in der Studentenvertretung aktiv und eines der großen Probleme, das immer wieder an uns herangetragen wurde, war, dass wir in Deutschland 16 verschiedene Bundesländer haben und demzufolge 16 verschiedene Hochschulgesetze. Das führt dann dazu, wenn man aus Sachsen nach Sachsen-Anhalt wechselt oder nach Thüringen oder nach Bayern, dass viele Studienleistungen nicht anerkannt werden. Umgekehrt übrigens ebenso. Da könnte man eine ganze Menge vereinheitlichen. Das müsste man durchaus abwägen. Ich bin kein Freund von einer Zentralregierung. Ich halte eine möglichst hohe Autonomie der kleinteiligen Strukturen, also der Kommunen, für wichtig. Möglichst viel Entscheidungshoheit sollte auf der städtischen Ebene bleiben. Aber diese Debatte gibt es schon lange und sie wird immer mal bemüht.
Würden Sie Ihren Kindern den Job als Bundestagsabgeordneter empfehlen?
Ich habe keine Kinder und ich kann nicht so viel dazu sagen, weil ich noch kein Bundestagsabgeordneter bin. Doch bin ich nicht der Politiker, wie man sich klassisch einen vorstellt – mit Schlips und Anzug in den Parlamenten unterwegs. Ich mache Politik in den Bürgerinitiativen, und es ist wichtig, dass nicht jeder sagt: Ja alle vier Jahre machst du dein Kreuz und überlässt das denen, die du da gewählt hast.
In den letzten Jahren haben wir beobachten können, dass die Entscheidungen im Bundestag nicht unbedingt repräsentativ sind für den Willen der Bevölkerung. Egal was es ist, ob das Bestrebungen zur Privatisierung der Bahn oder zum Umbau im Gesundheitswesen oder der Renten sind. Auch was Auslandseinsätze und die Rettungspakete anbelangt, hätte man das Volk gefragt, also würde es Volksentscheide bundesweit geben, dann würde das ganz anders aussehen. Von daher, um auf die Frage zurückzukommen, würde ich zu meinen Kindern sagen: Engagiert Euch politisch und delegiert das nicht weg. Ihr seid ein Teil dieser Demokratie und deshalb mitverantwortlich. Ihr müsst nicht zwangsweise ins Parlament gehen, denn das ist nicht alles – es ist nur eine Möglichkeit von vielen, etwas zu tun.
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