Sicher ist es jedem schon mal passiert, dass er sich zu etwas hat überreden lassen, um es später bitter zu bereuen. Nun habe ich mich allerdings freiwillig in das Abenteuer "Verdiene schnell viel Geld" gestürzt und darf mich nicht beklagen. Kurz: Ich folgte der Einladung einer Bekannten zu einem Vortragsabend einer amerikanischen Firma, die sich auf den Direktvertrieb von Pflege-, Reinigungs- und Lifestyle-Produkten spezialisiert hat. Mancher ahnt bereits, wovon ich rede.
Das Erste, was mich an dem Abend erstaunte, war die Tatsache, dass so viele Leute gekommen waren. Der Saal, in dem der Vortrag stattfinden sollte, war rappelvoll. Sicher 300 Teilnehmer hatten sich hier versammelt. Und die waren ganz unterschiedlich, was Alter, soziale Zugehörigkeit oder Geschlecht betraf. Hier durfte ich einen schönen Querschnitt durch die Gesellschaft bewundern. Dabei waren auch Zeitgenossen, die beileibe nicht so aussahen, als würden sie es nötig haben, ganz schnell, ganz viel Geld zu verdienen. Das nämlich hatte meine Bekannte steif und fest behauptet, als sie mich zu jenem Abend einlud. Sie hätte, so versicherte sie mir glaubhaft, Leute kennengelernt, die innerhalb eines Jahres einen Umsatz von 100.000 Euro gemacht hätten. Nur mit dem Vertrieb der formidablen und famosen Produkte dieser amerikanischen Firma, die sich den vielzitierten American Way of Life eingekürzt in ihr Firmenlogo gewählt hatte.
“Das,” so dachte ich, “klingt wieder mal höchst verdächtig und bedarf der Recherche.” Also saß ich eines Abends neben meiner Bekannten inmitten jener bunten Schar, die erwartungsvoll murmelnd und mit den Füßen scharrend im Saal versammelt war, um sich im Handumdrehen reich machen zu lassen. Was dann folgte, werde ich sicher mein Leben lang nicht vergessen. Denn schon nach kurzer Zeit wusste ich, was es bedeutet, wenn man von Massensuggestion spricht. Der von zahlreichen Scheinwerfern auf der Bühne vor uns angestrahlte und viel Dynamik ausstrahlende Herr erinnerte mich eher an einen Prediger in einer amerikanischen Kirchgemeinde. Mit dem Unterschied, dass er nicht Gott pries, sondern den Erfolg. Halleluja!
Selbstverständlich war der “Prediger” gut gekleidet und strahlte einen Optimismus aus, der offenbar ansteckender war als ein Ebola-Virus. Denn schon nach kurzer Zeit hatte er den Saal fest im Griff. Meine Bekannte neben mir folgte seinem Sermon wie alle anderen mit glänzenden Augen und eifrigem Applaus. In dem ganzen Brimborium schien bisher niemandem aufgefallen zu sein, dass bisher noch kein einziges Wort dazu gefallen war, um was es konkret überhaupt ging. Stattdessen feuerte der Kerl die Massen an und stellte am laufenden Band rhetorische Fragen wie “Wollt auch ihr Erfolg im Leben?” oder “Wollt ihr endlich unabhängig sein?” und “Wer will sein eigener Chef sein und nicht mehr nach der Pfeife anderer tanzen?”
Fragen, die mich in der Regel ermüdeten, schienen die willige Truppe um mich herum förmlich zu elektrisieren. Arme reckten sich hoch, wenn der Redner die Menge aufforderte, sich zu melden, sollte man die Absicht haben, sein Leben von Grund auf zu ändern, um endlich (zum gefühlten eintausendsten Mal) erfolgreich zu sein. Münder wurden aufgerissen, um zu einem frenetischen “Jaaaa….” anzuheben, wenn der Prediger wieder zu einer seiner subtilen Fragen ansetzte. Nachdem der Saal durch den geschickten Redner dergestalt angeheizt und die Menge entsprechend enthusiastisch und ungehindert über die Kritikschwelle befördert worden war, hielt der Redner endlich den Zeitpunkt für gekommen, um zu des Pudels Kern zu kommen. Schnell stellte sich heraus, dass der amerikanische Traum wie viele andere Firmen in diesem Segment auch auf dem Prinzip “Multi-Level-Marketing”, kurz MLM, basierte.
Der Kunde “A” kauft Waren – Lebensmittel, Kosmetik, Reinigungs-Wellness-Produkte und so weiter – für sich selbst und freut sich über einen angeblichen Preisnachlass von zum Beispiel 50 Prozent. Gleichzeitig schreibt er sich als Mitarbeiter ein, ersteht also noch mehr Ware, um sie weiterzuverkaufen. Die so gefundenen Neukunden steigen dann wiederum als Mitarbeiter auf Ebene (Level) “B” ein und werben weitere Kunden. Mitarbeiter “A” bekommt zusätzlich Provisionen auf die Verkäufe, die die von ihm geworbenen neuen Mitarbeiter erzielen. Das wird in der Branche als sogenanntes “Passiv-Einkommen” bezeichnet, die “Wunderwaffe” des Direktvertriebes und gleichzeitig das Dauerargument aller Super-Erfolgreichen. Niemand ist sich aber anscheinend darüber im Klaren, dass man zumindest einen schier unüberschaubaren Bekanntenkreis haben muss, damit das funktioniert.
Prinzip dieses Pyramidensystems ist, dass Wenige an Vielen sehr viel verdienen. Die Masse kommt laut Wirtschaftsstudien bei dieser Firma über ein Durchschnittsverdienst von rund 300 Euro im Monat nicht hinaus. Und das trotz hohen persönlichen und materiellen Einsatzes. Das meiste Geld geht dabei für Fahrt- und Seminarkosten drauf, weil man unermüdlich dem vielzitierten Erfolg hinterher hechelt, ohne ihn jemals wirklich einzuholen.
Womit wir schon bei einem weiteren Punkt angelangt wären. Fast nahtlos wurde auf die “Möglichkeit” zur Teilnahme an Wochenend-Seminaren in irgendwelchen Hotels hingewiesen. Das immerhin zu saftigen Preisen von bis zu mindestens 400 Euro pro Wochenende. Damit dabei aber nicht etwa die Motivation flöten ging, betrat als nächstes ein erfolgreiches Beispiel, diesmal in weiblicher Gestalt, die Bühne.
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Die Dame stellte sich als selbständige Mitarbeiterin der amerikanischen Firma nebst ihrer Erfolgsgeschichte vor. “Seit ich mich mit dem Erfolgsmodell dieser tollen Firma selbständig gemacht habe, hat sich mein Leben zum Positiven verwandelt”, teilte die schicke Dame dem vor Spannung atemlosen Publikum mit. Um es kurz zu machen: Mit viel Fleiß, Ehrgeiz und dem Willen zum Erfolg hatte es die Dame innerhalb von zwei Jahren zu einer vom Erfolg verwöhnten Unternehmerin gebracht. Da blieb es nicht aus, dass mit dem üblichen “mein Haus, mein Auto, mein Boot, mein Pferd” hausieren gegangen wurde. Das bedeute allerdings, so die Erfolgreiche, “harte Arbeit, aber harte Arbeit, die sich lohnt. Was heutzutage durchaus nicht üblich ist.”
Ich glaube, das war das erste Mal an diesem Abend, dass etwas, was von da oben auf der Bühne abgesondert wurde, meine Zustimmung fand. Es war allerdings auch das letzte Mal. Am Schluss der Erfolgsstory folgte tosender Applaus, Pfiffe, Füßetrampeln. “Ok,” dachte ich, “Bei Scientology kann es auch nicht wirklich anders sein.” Am Ende des Gottesdienstes, Entschuldigung, der Veranstaltung, hatte man vor dem Ausgang des Saales unbemerkt einen Tisch mit Unterlagen aufgestellt. Dort hatte sich schon eine lange Schlange gebildet. Eifrig wurden Unterschriften geleistet. Auf Anfrage teilte man mir mit, dass man hier sogenannte Starterpakete erwerben konnte. Das fing bei rund 50 Euro an. Nach oben war natürlich keine Grenze gesetzt. Zusätzlich konnte man sich schon für eines der schon erwähnten Seminare eintragen.
Auch ohne eines der tollen Reinigungsprodukte erworben zu haben fühlte ich mich einer Gehirnwäsche unterzogen und verließ die Veranstaltung mit einer gewissen Leere im Kopf. Meine Bekannte neben mir war dagegen ganz euphorisch. Sie hatte neben einem Starterpaket gleich noch ein Seminar erworben. Das fand ich irgendwie wieder faszinierend. Da lief neben mir ein gut gelaunter Mensch, der mit dem Ziel ausgezogen war, viel Geld zu verdienen, um als erstes erstmal viel Geld auszugeben. Zeit vergeudet, Geld ausgegeben und noch nichts verdient. Das amerikanische Erfolgsmodell funktionierte einwandfrei. Allerdings in die umgekehrte Richtung. Nun, jeder muss selber aus seinen Fehlern lernen, dachte ich mir, während ich neben meiner munter vom Erfolg plappernden Bekannten nach Hause spazierte. Unfreiwillig sollte ich später doch noch zum Opfer des amerikanischen Verkaufstraums werden.
Meine Bekannte nervt mich seit diesem Abend damit, dass sie mir Zahnbürsten, Shampoos, Vitaminzusatz-Präparate und andere “unglaublich effektive aber preiswerte” Produkte anzudrehen versucht, die sich zu Hause bei ihr stapeln und Staub ansetzen. Ihr eigentlich einst recht ansehnlicher Freundeskreis hat sich seitdem nicht gerade erweitert. Nicht alle haben so gestählte Nerven wie ich. Ich gehöre noch zu ihrem jetzt sehr verengten Freundeskreis, weil ich mit ihr fühle. Schließlich war ich Zeuge gewesen, wie sie Opfer einer Massenhysterie wurde. Ich hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen. Und Freunde lässt man schließlich auch in schwierigen Zeiten nicht im Stich. Dazu muss man nicht unbedingt eine Zahnbürste oder ein Shampoo kaufen. Manchmal reicht es, wenn man einfach zuhört. Irgendwann wird sie den ganzen Kram dieser Firma schon los geworden sein. So wie die meisten ihrer Freunde, bei denen dafür nun Shampoos, Zahnbürsten und Vitaminpräparate herumstehen. Dann können wir wieder unbeschwert unsere Freundschaft pflegen. Ganz ohne Erfolgsdruck.
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