Eine Leipziger Bürgerumfrage kann auch sehr irritierende Ergebnisse bringen. Etwa wenn die Teilnehmer der Befragung zu einem wichtigen Instrument wie dem Wohnberechtigungsschein (WBS) befragt werden. „Der WBS ist demnach ein Instrument zur Sicherung von bezahlbarem Wohnraum für einkommensschwache Haushalte. Die Stadt Leipzig erteilt je nach Förderart vier verschiedene WBS, die jeweils für ein Jahr Gültigkeit besitzen“, erläutern die Autor/-innen des Beitrags zur Einführung.

Es ist also eindeutig ein soziales Instrument, das nur klar definierten Einkommensgruppen zusteht.

Aber in der Befragung werden dann zwei Effekte deutlich. Der erste ist jener der Informiertheit. Und die Menschen, die gar keinen WBS brauchen, sind darüber besser informiert als jene, die ihn eigentlich brauchen.

Oder mit den Worten aus dem Bericht: „Für das Beziehen einer mit öffentlichen Mitteln geförderten Wohnung (Sozialwohnung) bedarf es eines Wohnberechtigungsscheins (WBS). Über zwei Dritteln (69 Prozent) der Leipziger Haushalte ist dies bekannt (vgl. Abbildung 6–1). Der Bekanntheitsgrad ist in den letzten zwei Jahren deutlich angestiegen (+14 Prozentpunkte im Vergleich zu 2020), obwohl der Anteil der Haushalte, die im Besitz eines WBS sind, im Vergleich zum Vorjahr unverändert bei drei Prozent liegt.

Das entspricht rund 12.000 Haushalten. Obgleich der WBS für einkommensschwache Haushalte konzipiert ist, ist das Wissen, dass für den Bezug einer Sozialwohnung ein WBS erforderlich ist, bei den Leipziger Haushalten dieser Einkommensgruppe am geringsten (62 Prozent). Bei Haushalten der oberen Mittelschicht sind es 12 Prozentpunkte mehr.“

Wer besser verdient, ist also besser informiert. Und viele Bedürftige erreicht die Information, dass sie einen WBS beantragen können, scheinbar nicht.

Hilfe in der Not

Was nicht bedeutet, dass sie ihn tatsächlich brauchen. Denn begriffen, dass man aus einer bezahlbaren Wohnung in Leipzig nicht einfach auszieht, haben auch die Leute mit den niederen Einkommen. Gebraucht wird er ja nur, wenn man dringend eine bezahlbare Wohnung sucht und nur mit WBS noch bekommt.

Was sich auch in Zahlen ausdrücken lässt: „Entsprechend der gesetzlichen Vorgaben sinkt der Anteil der Haushalte, die im Besitz eines WBS sind, mit zunehmendem Haushaltsnettoeinkommen. 10 Prozent der einkommensarmen Haushalte und fünf Prozent der zur unteren Mittelschicht zugeordneten Haushalte haben einen WBS. Haushalte, in denen Kinder leben, sind doppelt so häufig (6 Prozent) im Besitz eines Wohnberechtigungsscheins wie Haushalte ohne Kind.“

Der letzte Satz zeigt dann das besondere Problem, das einkommensarme Haushalte mit Kindern haben. Sie haben es am schwersten, noch bezahlbare Wohnungen zu finden.

Stiller Stolz

Aber es wird geradezu kurios, wenn dann gefragt wird, ob die Befragten einen WBS beantragen würden.

Wobei das, was die Autoren des Berichts hervorheben, gar nicht einmal so kurios ist: „Von denjenigen Haushalten, die keinen Wohnberechtigungsschein besitzen, würden 11 Prozent einen beantragen, um eine Sozialwohnung beziehen zu können. 29 Prozent würden dies möglicherweise tun. Auch hier sinkt der Anteil mit steigendem Haushaltsnettoeinkommen. Erstaunlich ist, dass der Anteil der Haushalte, die kein Interesse an einem WBS bekunden, bei den einkommensarmen Haushalten am höchsten ist (24 Prozent).“

Das kann verschiedene Gründe haben. Entweder leben sie in einer bezahlbaren Wohnung, bei der ihnen auch keine saftige Mieterhöhung oder Entmietung droht – was bei vielen älteren Menschen der Fall sein wird. Da denkt man dann auch nicht mehr ans Umziehen.

Oder hier kommt wieder das zum Tragen, was auch bei anderen sozialen Leistungen bemerkbar wird: Menschen halten es für unter ihrer Würde, betteln zu gehen. Auch um soziale Vergünstigungen, die ihnen eigentlich zustehen. Da sparen sie sich lieber die Miete vom Munde ab, lassen aber möglichst niemanden merken, dass sie arm sind.

Und die andere Seite ist eine Gesellschaftsgruppe, die sich selbst dann eine soziale Wohltat „gönnt“, wenn sie diese gar nicht nötig hat. Das sieht man in der Gruppe der Einkommensreichen, in der tatsächlich 15 Prozent angegeben haben, dass sie einen WBS beantragen würden. Obwohl sie eindeutig nicht antragsberechtigt und auch nicht bedürftig sind. In der oberen Mittelschicht sind es sogar 30 Prozent, die diese Frage bejaht haben.

Was möglicherweise auch von der Unkenntnis erzählt, wo sich die befragten Menschen mit ihrem Einkommen einsortieren. Denn ganz offensichtlich halten sich auch in Leipzig viele Menschen, die gut verdienen, trotzdem für armutsgefährdet und einer gesellschaftlichen Gruppe zugehörig, zu der sie tatsächlich nicht gehören.

Und noch etwas zugespitzt: Wie es sich in Armut und Einkommensknappheit in Leipzig wirklich lebt, können augenscheinlich etliche gutverdienende Menschen nicht nachempfinden. Sie verwechseln ihren – zumindest nach Einkommen sichtbaren – Wohlstand mit Armut.

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