„Babyboomer machen eifrig von Rente mit 63 Gebrauch“, behauptete am 10. Dezember eine Meldung der Nachrichtenagentur AFP mit Berufung auf das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). Dieses hatte gleich mal gewarnt: „Die Stagnation des Anstiegs ist angesichts der Größe der Babyboomer-Jahrgänge von hoher Bedeutung. Der vorzeitige Austritt aus dem Erwerbsleben wirkt bei dieser Generation besonders stark auf das volkswirtschaftliche Arbeitsangebot und verstärkt den Mangel an erfahrenen, qualifizierten Arbeitskräften.“
Beim „Spiegel“ wurde daraus die Formulierung: „Die Menschen in Deutschland scheiden nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung immer häufiger vorzeitig aus dem Berufsleben aus. Viele gehen aktuell bereits mit 63 oder 64 Jahren in Rente. Der noch Anfang des Jahrtausends beobachtete rasante Anstieg der Erwerbstätigenquote bei den über 60-Jährigen sei in den letzten fünf Jahren weitgehend zum Stillstand gekommen, teilte das Institut in Wiesbaden mit.“
Da klang der Alarmton schon etwas schriller.
„Für das Institut gibt die Entwicklung ‚aus finanz- und arbeitsmarktpolitischer Sicht Anlass zur Sorge‘. Aufgrund der Größe der Babyboomer-Jahrgänge verstärke deren Austritt aus der Erwerbstätigkeit den Mangel an erfahrenen, qualifizierten Arbeitskräften“, drückte der „Spiegel“ auf den Alarmknopf und verstärkte damit den Sirenengesang des BiB.
„Die stagnierenden Zahlen zeigen, dass die Ausweitung der Erwerbstätigkeit in höhere Alter kein Selbstläufer ist“, ließ sich Dr. Elke Loichinger, Forschungsgruppenleiterin am BiB, zitierten. Um Arbeitskräfte länger im Erwerbsleben zu halten, müssten Anreize deutlich vor dem Eintritt in den Ruhestand erfolgen. „Wenn der Ruhestand erst einmal erfolgt ist, kommen nur wenige ins Erwerbsleben zurück.“
Kein Zeichen für Ansturm auf Frühverrentung
All das suggeriert die schon falsche Wortwahl in der Meldung des „Spiegel“, die Babyboomer „machen eifrig von Rente mit 63 Gebrauch“ und nähmen dabei sogar noch freiwillig Abschläge auf ihre Rente hin. Oder würden gar durch mehr Werbung für einen längeren Verbleib in der Arbeit gewonnen werden können.
Als wären das alles wohlversorgte Vielverdiener, die selbst entscheiden können, wann sie in Rente gehen wollen. Oder eben müssen.
Doch die Formulierungen führen allesamt in die Irre, was auch eine neue Aufarbeitung der Zahlen durch das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) deutlich macht. Denn wenn von Stagnation der Zahlen die Rede ist, bedeutet das wohl eher, dass sich der Anteil der Rentner, die trotz Rentenanspruch weiter arbeiten (müssen), auf einem recht hohen Niveau eingependelt hat. Und dass keine staatliche Behörde davon ausgehen kann, dass der Anteil der berufstätigen Rentner immer weiter gesteigert werden kann. Viele sind dazu gesundheitlich gar nicht mehr in der Lage. Und viele gehen auch nicht freiwillig früher in Rente.
„Immer mehr ältere Menschen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt“, stellt Paul M. Schröder vom BIAJ trocken fest. „Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Bevölkerung im Alter von 60 bis unter 65 Jahren (Beschäftigungsquote 60 bis unter 65) stieg von 28,0 Prozent Ende 2011 auf 47,8 Prozent Ende 2021. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis unter 65 Jahren stieg von 1,351 Millionen Ende 2011 um 1,514 Millionen (112,1 Prozent) auf 2,865 Millionen Ende 2021.“
Während das BiB in seinen Grafiken seit 2018 „weitgehende Stagnation“ feststellen will, zeigen die Zahlen, die Paul M. Schröder anhand der Statistiken der Bundesarbeitsagentur und des Bundesamtes für Statistik errechnet hat, dass insbesondere der Anteil der über 60-Jährigen an den sozialversicherungspflichtig Tätigen auch bis 2021 immer weiter gewachsen ist – absolut und prozentual.
Und das in einer Zeit, in der die Zahl der 50- bis 55-Jährigen unter den Erwerbstätigen schon sinkt.
Besonders stark steigt die Zahl der 60- bis 65-Jährigen, die weiter arbeiten. Und genau das erzwingt ja die Bundesgesetzgebung gerade für jene Erwerbstätigen, die mit niedrigen Löhnen abgespeist werden und ganz und gar keine Rentenabschläge riskieren können. Etwas, was das BiB geradezu lässig und nebenbei anmerkt: „Zum einen steigen die Altersgrenzen auch für besonders langjährig Versicherte dynamisch an. Hierdurch müssen nachfolgende Geburtsjahrgänge für diesen Rentenzugang etwas länger arbeiten als vorherige.“
Genau das ergibt den Effekt der weiterarbeitenden Rentenberechtigten.
Bitte weiterschuften!
Aber die Interpretation, die in der Meldung des BiB dominiert, ist eine völlig andere: „Bei den stark besetzten Babyboomer-Jahrgängen, die aktuell auf den Ruhestand zugehen, lassen sich in den letzten Jahren hingegen kaum noch Anstiege bei der Erwerbstätigenquote verzeichnen. Aktuell scheiden viele bereits mit 63 oder 64 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus und damit deutlich vor der Regelaltersgrenze.
Eine wichtige Rolle spielt hierbei die seit 2014 bestehende Möglichkeit des frühzeitigen Rentenbezugs ohne Abschläge für besonders langjährig Versicherte, die sogenannte ‚Rente mit 63‘. Im Jahr 2021 erfolgte fast jeder dritte Zugang zur Altersrente über diesen Weg. Darüber hinaus zeigen aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung, dass in den letzten Jahren vermehrt Personen vor der Regelaltersgrenze in den Ruhestand gehen und hierfür Abschläge bei der Rentenhöhe in Kauf nehmen.“
Das darf man schon eine amtliche Attacke auf die „Rente mit 63“ nennen.
Und dabei gibt selbst die vom BiB bereitgestellte Grafik nicht ansatzweise Grund für eine dermaßen überspitzte Darstellung. Im Gegenteil: Bei den 63-Jährigen sieht man weiterhin einen Anstieg der Erwerbsarbeit. Nur bei den 64-Jährigen gibt es einen leichten Knick nach unten, der möglicherweise tatsächlich durch die „Rente mit 63“ hervorgerufen wurde.
Wenn der Körper nicht mehr mitspielt
Der Fehler in der BiB-Meldung ist der Versuch, alle „Babyboomer“, egal, was sie in ihrem Beruf verdienen und wie der gesundheitlich auf die Knochen geht, in einen Topf zu schmeißen. Auch Dr. Elke Loichinger, Forschungsgruppenleiterin am BiB, bestätigt diese Sichtweise, wenn sie meint, um Arbeitskräfte länger im Erwerbsleben zu halten, müssten Anreize deutlich vor dem Eintritt in den Ruhestand erfolgen.
Das gilt aber eben nur für Menschen, die einen Beruf ausüben, den man auch noch im höheren Alter bewältigen kann. Und die noch gesund genug sind, ein paar Arbeitsjahre dranzuhängen.
Nirgendwo taucht auch nur der Gedanke auf, dass viele Menschen auch deshalb früher in Rente gehen, weil der Körper nicht mehr mitmacht und ihr Beruf Beeinträchtigungen mit sich bringt, die ein Weiterarbeiten im Rentenalter unmöglich machen.
Aber damit zeigt das BiB eben auch, wie die Bundespolitik auf die Rente und die Menschen schaut, die ihr Leben lang dafür eingezahlt haben. Und wie schwer sich Beamte tun, eine andere Arbeitswelt überhaupt nur zu denken als ihre gut versorgte, in warmen Amtsstuben am Computer.
Keine Kommentare bisher