Es gibt Aussagen, die lassen schon beim Lesen stutzen. So wie in der Einladung der Leipziger Linken zur Teilnahme an der nรคchsten Demonstration โGenug ist genugโ am Montag, 12. Dezember, um 18 Uhr, auf dem Kleinen Wilhelm-Leuschner-Platz. Ein berechtigtes Anliegen, das vor allem die Nรถte der wirklichen Armutsgefรคhrdeten und Niedriglรถhner in Leipzig in Zeiten rasant steigender Lebensmittel- und Energiepreise auf die Tagesordnung setzt. Aber seit wann gehรถren Haushalte, die bis zu 3.600 Euro im Monat zur Verfรผgung haben, dazu?
Aber genau so klang das: โLaut Berechnung der Sparkasse mรผssen Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 3.600 Euro immer hรคufiger am Ende des Monats aus ihren Ersparnissen leben. Das betrifft 60 Prozent der Bevรถlkerung. Wรคhrenddessen haben allein in diesem Jahr die Stromkunden rund 50 Milliarden Euro den Energiekonzernen als รbergewinne gezahlt.โ
Hat die Sparkasse so eine Behauptung tatsรคchlich aufgestellt?
Es geht sogar noch heftiger.
Auf einer Website mit dem Name โForschung und Wissenโ wird sogar die Armutsgrenze schnell mal auf 3.600 Euro hochgelegt. โFolgen der Inflation. Sparkassen warnen: 3.600 Euro netto ist die neue Armutsgrenzeโ lautet dort die knallende รberschrift.
Clickbaiting mit Armutsquote
Und lesen kann man dazu:
โAktuell warnen die Sparkassen vor den gravierenden Folgen, welche die inflationsbedingten Preissteigerungen in Deutschland fรผr die meisten Bundesbรผrger haben werden. Man kam zu dem Ergebnis, dass bereits jetzt rund 60 Prozent der privaten Haushalte in Deutschland mehr als ihre gesamten monatlichen Einkรผnfte fรผr die alltรคglichen Ausgaben aufbringen mรผssen.
Im Wortlaut sagte Helmut Schleweis, der Prรคsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes kรผrzlich auf einer Pressekonferenz, dass nach Berechnungen der Sparkassen Haushalte mit einem Nettoeinkommen von weniger als 3.600 Euro derzeit am Monatsende kein Geld mehr รผbrig haben und finanziellen Differenzen aktuell nur durch Ersparnisse ausgleichen kรถnnen.โ
Wenigstens das mit dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband stimmt. Da haben wir natรผrlich nachgefragt, denn an der erwรคhnten Pressekonferenz haben wir ja nicht teilgenommen. Was hat Helmut Schleweis da aber wirklich gesagt?
Jedenfalls nichts mit Armutsgrenze, wie uns Stefan Marotzke, Pressesprecher des Deutschen Sparkassen- und Giroverband, mitteilt: โGanz wichtig erscheint uns zunรคchst der Hinweis: Der DSGV hat niemals die Begrifflichkeit โArmutsgrenzeโ verwendet.โ
Das war also bei โForschung und Wissenโ nur reines Clickbaiting.
Aber mit einem irritierenden Hintergrund, denn auch die Formulierung โam Monatsende kein Geld mehr รผbrig habenโ fรผhrt in die Irre.
Kein Geld mehr da am Monatsende?
Stefan Marotzke: โUnsere Aussagen beziehen sich ausschlieรlich auf die Sparfรคhigkeit der Haushalte in Deutschland! Unsere Berechnungen dazu greifen zurรผck auf offizielle Daten des Statistischen Bundesamtes zu Einkommens- und Verbrauchspositionen der Haushalte in Deutschland (ohne Transferleistungen). Diese zeigen, dass bei Haushaltsnettoeinkommen bis zu 3.600 Euro die monatlichen Ausgaben die laufenden Einnahmen รผbersteigen. Da sich in den letzten zwei Monaten zum Teil noch stรคrkere Preiserhรถhungen ergeben haben, ist nicht auszuschlieรen, dass sich die Situation auch noch verschรคrfen kรถnnte.โ
Zu beachten ist also: Der DSGV hat bei seinen Berechnungen die Transferleistungen herausgerechnet. Die natรผrlich gerade bei geringen Einkommen und Renten besonders hoch sind. Lรคsst man diese Transferleistungen (Renten, Arbeitslosengeld, Grundsicherung, Kindergeld, Mutterschaftsgeld, Bafรถg usw.) drin, kommen sรคmtliche Einkommensklassen auf einen positiven Durchschnittswert.
Es bleibt am Monatsende mehr รผbrig, als ausgegeben wurde. Statistisch betrachtet.
Denn das sind natรผrlich alles nur Durchschnittswerke, die vom Statistischen Bundesamt in grรถรere Abstรคnden im Rahmen eine Befragung stichprobenartig erhoben und dann hochgerechnet werden. Die letzte Befragung dieser Art fand 2020 statt. Da wurden insgesamt 7.513 Haushalte zu ihren Einnahmen und Ausgaben befragt. Und die Ergebnisse wurden dann auf die Grundgesamtheit von 38 Millionen Haushalten hochgerechnet.
Jรผngere Daten gibt es also gar nicht, sodass weder die Folgen der Corona-Pandemie noch die steigenden Lebenshaltungskosten von 2022 erfasst werden konnten. Also auch keine Auswirkung dieser Kostenentwicklung auf die Einkommenssituation der Haushalte.
Weshalb eben auch der alarmierende Tonfall der Linken deplatziert wirkt.
Die Transferleistungen gehรถren dazu
โDie betroffenen Haushalte mรผssen zur Deckung der entstehenden Lรผcken auf Reserven und Ersparnisse, aber auch auf staatliche Transfers zurรผckgreifen. Das betrifft auch Einkommensgruppen von 2.500 bis 3.600 EUR, die bisher in aller Regel keine staatlichen Transferleistungen erhalten haben und sich aus eigener Kraft finanzieren konntenโ, betont Stefan Marotzke diesen Aspekt.
โUnsere Empfehlung wรคre, sich bei etwaigen Entlastungen auf diese besonders betroffenen Einkommensgruppen sowie auf die Deckelung der Energiepreise zu konzentrieren โ was ja auch geschehen soll!โ
Und dem DSGV ging es eben um ein vรถllig anderes Thema โ die Sparfรคhigkeit.
Stefan Marotzke: โHerr Schleweis hat bereits im Mรคrz im Rahmen der Bilanzpressekonferenz des DSGV gesagt, dass bestimmte Szenariorechnungen ergeben, โdass wenn nicht signifikant gegengesteuert wรผrde, perspektivisch rund 60 % der deutschen Haushalte nur noch wenig oder gar nicht mehr sparfรคhig sein kรถnntenโ.
Inzwischen wurde in einigen Medien daraus eine Armutsgrenze gemacht. Wir legen Wert darauf, dass wir diese Begrifflichkeit niemals benutzt haben, sie ist auch in diesem Zusammenhang schlicht falsch!โ
Es geht also schlichtweg darum, ob die betroffenen Haushalte am Monatsende noch Geld รผbrig haben, um es zum Beispiel auf ein Sparkonto zu legen und damit fรผr grรถรere Ausgaben in der Zukunft zu sparen. Oder um Wikipedia zu zitieren: โSpart ein Wirtschaftssubjekt (Privathaushalt, Unternehmen oder Staat), verbraucht es also weniger, als es verbrauchen kรถnnte, entsteht eine Leistungsreserve.โ
Was dann wieder zur so gern zitierten Vermรถgensbildung und zur Sparquote fรผhrt. Das heiรt: Wenn sie monatlich mehr Geld ausgeben mรผssen, haben die Haushalte weniger Geld zum Sparen zur Verfรผgung.
Ja, warum sparen sie denn?
Ausgerechnet die Haushaltsbefragung von 2020 aber fiel in eine Zeit, in der die deutschen Haushalte mehr sparten als in den Vorjahren. Corona fรผhrte ganz unรผbersehbar dazu, dass die Deutschen weniger Geld ausgaben. Die Sparquote stieg.
โIm 1. Halbjahr 2021 erreichte sie bedingt durch die Corona-Einschrรคnkungen mit 18,2 % einen historischen Hรถchstwertโ, schrieb das Statistische Bundesamt zum Weltspartag am 25. Oktober.
โWรคhrend die privaten Haushalte in den ersten anderthalb Jahren seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang 2020 weniger konsumierten und mehr sparten als gewรถhnlich, fรผhrte die Aufhebung vieler pandemiebedingter Einschrรคnkungen im 2. Halbjahr 2021 zu deutlich steigenden Konsumausgaben und einem Rรผckgang der Sparquote auf 12,1 %.โ
Was einen weiteren Aspekt deutlich macht. Denn die Zahlen aus der Haushaltsbefragung zeigen eben nicht, ob die Leute mit ihrem monatlich zur Verfรผgung stehenden Geld auskommen und โam Monatsendeโ noch was รผbrig haben. Sie zeigen nur, was die Menschen tatsรคchlich eingenommen und ausgegeben haben.
Darin stecken auch Luxusanschaffungen, Urlaube, Weihnachtsgeschenke, Hochzeitsfeiern, Gesundheitsausgaben, Gerรคteneuanschaffungen wie Laptops, Handys, Waschmaschinen oder Einbaukรผchen usw. Alles Dinge, fรผr die man gewรถhnlich spart und die man dann aus dem Ersparten bezahlt.
Was fรผr Haushalte sind das eigentlich?
Und da wir nun gerade die Erhebung von 2020 auf dem Bildschirm haben, schauen wir mal bei der Einkommensgruppe nach, fรผr die jetzt augenscheinlich auch die Linke Alarm schlรคgt.
Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen der Haushalte in der Einkommensklasse 2.600 bis 3.600 Euro betrug 3.073 Euro im Jahr 2020. Die Gesamteinnahmen betrugen sogar 4.634 Euro, was dann sogar Gesamtausgaben von 4.468 ermรถglichte.
Man ahnt schon, dass hier vรถllig verschiedene Haushalte und Haushaltsmodelle zusammengeworfen sind.
Dass die Einnahmen so deutlich รผber den Nettoeinkommen liegen, hat zum Beispiel damit zu tun, dass Haushalte dieser Einkommensgruppe auch noch durchschnittlich 1.194 Euro an รถffentlichen Transferzahlungen pro Monat bekommen. Hier fallen staatliche Renten besonders stark ins Gewicht.
Aber spannend ist auch der Blick auf die Ausgaben, denn natรผrlich wird das ganze Geld nicht in Konsum gesteckt. Auch nicht in dieser Einkommensgruppe.
Allein 827 Euro geben diese Haushalte monatlich zur Bildung von Geldvermรถgen aus.
Autsch.
Sie sparen also. Und zwar nicht zu knapp.150 Euro geben sie auch noch zur Tilgung und Verzinsung von Krediten aus, 99 Euro zur Bildung von Sachvermรถgen. Alles Summen, die natรผrlich deutlich รผber denen der geringeren Haushaltseinkommen liegen โ und andererseits wieder deutlich unter denen der hรถheren Einkommen.
Wenn dann also am Monatsende eine Null da steht, bedeutet das eben nicht, dass โam Monatsende kein Geld mehr รผbrigโ ist. Eher das Gegenteil.
Diese Haushalte leben nicht von ihren Ersparnissen, wie die Linke aus den ganzen konfusen Meldungen herausgelesen haben will. Auch wenn sie sich mehr leisten und mehr Kredite aufhalsen als รคrmere Haushalte.
Und da auch in Leipzig viele Paare mit Kindern darunter sind, bekommen sie auch staatliche Transferleistungen, die mit dafรผr sorgen, dass am Monatsende in der Regel ein kleines Plus dasteht und eben kein Minus.
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