Anhand der Diskussionen um die (Nicht-)Umbenennung etwa der Arndtstraße und der Jahnallee haben wir uns an dieser Stelle immer wieder auch mit der Behauptung der Leipziger Stadtverwaltung auseinandergesetzt, Straßennamen seien so etwas wie das Gedächtnis der Stadt. Und deshalb auch dann eher beizubehalten, wenn Namensgeber wie Arndt in die öffentliche Diskussion geraten. Erstmals diskutiert auch ein Beitrag im Quartalsbericht die Frage Gedächtnis oder nicht.
Geschrieben haben ihn Isabelle Buchstaller, Seraphim Alvanides und Malgorzata Fabiszak, aufbauend auf einem Forschungsprojekt „Erinnerung und Ideologie in der sprachlichen Landschaft: Kommemorative Umbenennung von Straßennamen in Ostdeutschland und Polen“.
Denn bei Umbenennen von Straßen sind sich Stadtväter in der Regel immer gleich. Denn es gibt – wie die Autoren so ganz beiläufig feststellen – immer mehrere Versionen von Geschichte. Und manche Stadtväter sind dann sehr bemüht, ihre Version von Geschichte auch im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Als Denkmal oder eben auch als Platz- und Straßenbenennung.
Freilich haben die drei Verfasser/-innen nur den Zeitraum ab 1916 beleuchtet, klammern damit den ebenfalls stark politisch konnotierten Zeitraum ab 1870 aus, in den ja unter anderem die Würdigung von Ernst Moritz Arndt fällt.
Aber trotzdem stellen sie fest, dass einige Regierungsformen bei der Besetzung von Straßen und Plätzen eifriger sind als andere.
Wenn Straßen für Ideologien rekrutiert werden
„(Um-)Benennungen, die nicht zur Zurschaustellung einer Ideologie oder politischen Weltanschauung führen, treten überwiegend in historischen Epochen auf, die nach heutiger zeitgeschichtlichen Klassifikation als demokratisch bezeichnet werden.
Aus der Perspektive einer Person, die durch die Straßen geht oder fährt, bedeutet dies, dass die ideologische Wirkung des ‚Gewandes der Stadt‘ (Zieliński 1994) in diesen demokratischen Perioden nicht zunahm. Nichtdemokratische oder autoritäre Regierungsformen neigen hingegen dazu, Straßenumbenennungsprozesse zu rekrutieren, um politischen Ideologie in die Sprachlandschaft einzubringen“, heißt es im Beitrag zum Quartalsbericht 2/2022.
Weshalb man mit älteren Adressbüchern für Leipzig schon gewaltig in Verwirrung geraten kann.
„Die (relativ kurze) Nazi-Zeit erweist sich hierbei mit 18,8 (Um-)Benennungen mit ideologischer Semantik/Jahr als besonders aktiv“, kann man im Beitrag lesen.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete eine DDR-Ministerratsverordnung vom 30. März 1950 ‚zur Beseitigung nicht mehr tragbarer Benennungen von Straßen, Wegen und Plätzen‘’ eine massive Umbenennungswelle ein, mit dem Ziel, Benennungen zu entfernen, die ‚militaristischen, faschistischen oder antidemokratische‘ Charakter hatten.“
Da gab es dann so schöne Namensungetüme wie Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, aber auch jede Menge Straßen, die sozialistische Idole und vor allem kommunistische Widerstandskämpfer würdigten.
Was dann nach der Friedliche Revolution wieder störte.
„40 Jahre später tobte erneut ein Kampf um die Umbenennung vieler ideologisch belasteter Straßen. Was diese Namenskämpfe vereint ist, dass politische Zäsuren mit Debatten über Kommemoration in der Sprachlandschaft einhergehen“, schreiben die Autor/-innen.
„Die Beseitigung früherer, diskreditierter Ideologie führt zur Beseitigung öffentlicher und somit für alle sichtbarer geografischer Spuren ‚der Erinnerung [und des Vermächtnisses] … eines früheren [Weltbildes und/oder] Regimes‘ (Azaryahu 2012:387).“
Da ist es nämlich, das Wort, das Leipzigs Verwaltung so gern nutzt in er Diskussion um heiß umstrittene Straßenbenennungen: Kommemoration, was schlicht Gedächtnis bedeutet. Straßennamen als Stadtgedächtnis.
Nur: Was bleibt im Gedächtnis, wenn Straßenbenennungen immer wieder als politische Platzbesetzung verstanden wird: Wessen Gedächtnis ist das dann?
Wer verfügt über die Deutung von Geschichte?
Da taucht nämlich die so gern vergessene Tatsache auf, dass man es gerade bei politisch gewollten Benennungen immer mit der manchmal sehr speziellen Version der gerade Verfügungsberechtigten zu tun hat. Was auch auf die ganzen Straßenbenennungen in der Leipziger Südvorstadt zutrifft, zu denen die Arndtstraße gehört.
Es ist das politische Selbstbild des konservativen Bürgertums in Zeiten des Wilhelminischen Bereiches, das dort abgebildet ist. Was man nur deshalb nicht mehr so deutlich sieht, weil Straßenbenennungen wie Kaiser-Wilhelm-Straße (die heutige August-Bebel-Straße), Kronprinzenstraße (die heutige Kurt-Eisner-Straße) oder Molktestraße (die heutige Alfred-Kästner-Straße) aus dem Stadtbild verschwunden sind.
„Die Tatsache, dass verschiedene Versionen der Geschichte existieren – und in der städtischen Textualität im Laufe der Zeit ersetzt werden – veranschaulicht das subversive Potenzial von öffentlichen Benennungen (Fairclough 2003)“, stellen die drei Autor/-innen beinah schelmisch fest.
„Mehr als ein ‚Barometer‘ für politische Veränderungen wird textuelle Erneuerung im Straßenbild als wirkungsstarkes Instrument zur Schaffung einer hegemonialen, öffentlich zur Schau gestellten, soziopolitischen Identität rekrutiert (Kaltenberg-Kwiatkowska 2011:165).“
Es geht um Deutungshoheit über Geschichte.
Was nun einmal heißt: „Straßennamen sind Träger von Adressen und Orientierungshilfe. Gleichzeitig markieren sie als Orte der Erinnerung die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Somit sind Straßennamen ein Politikum, da sie zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines hegemonialen Bildes der derzeitigen Staatsform beitragen.“
Abgrenzung im öffentlichen Straßenraum
Das gilt auch für die Zeit nach 1990. Auch wenn hier die Spitze der Umbenennungen in den Jahren1991 und 1992 war. Zwar zeigt die Grafik auch eine Spitze um das Jahr 2000.
Aber das war die Zeit der letzten Eingemeindungswelle, als mit den eingemeindeten Ortsteilen auf einmal Dutzende Doppelungen bei Straßennamen entstanden.
Da mussten dann etliche Straßen schon deshalb umbenannt werden, damit sich die Postboten bei der Suche nach der richtigen Adresse nicht im falschen Ortsteil verliefen.
Das Fazit, das die drei dann ziehen, hinterfragt recht deutlich die Schablone vom Stadtgedächtnis.
Straßenbenennungen sind in den letzten 150 Jahren zum Politikum geworden.
„Unsere Analyse zeigt, dass jedes politische System versucht, sich von dem vorhergehenden durch Umbenennungen im sprachlichen Raum abzugrenzen“, heißt es im Beitrag. „Wie Lefevbre (1991:54) feststellt, ist eine politisch-ideologische Erneuerung erst dann vollständig vollzogen, wenn ihre semantischen Spuren in der städtischen Textualität getilgt sind.“
Wenn also die Idole der Vergangenheit von den Straßenschildern verschwunden sind.
Aber Ruhe ist bei dem Thema nicht zu erwarten, denn auch Demokraten sehen in Straßenumbenennungen eine Möglichkeit, Geschichte neu zu verorten und zu gewichten.
„Während unser Beitrag komplexe und oft lokalisierte Prozesse der Namensgebung im letzten Jahrhundert untersucht, sind Umbenennungen weiterhin im Gange“, schreiben die drei.
„Hier sei nur an die Verewigung der Capastraße in Leipzig im Jahr 2015 nach dem Fotojournalisten Robert Capa gedacht, der in dieser Straße einen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs getöteten amerikanischen Soldaten fotografierte und die Kommemoration im Jahr darauf des Soldaten Bowman. Wie unsere quantitative historische Analyse des Leipziger Straßenbildes zeigt, sind staatlich sanktionierte Veränderungen des Stadttextes ein ‚Fenster‘ in den Charakter einer Kultur (Huebner 2006), das Erinnerungsprioritäten und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit in den Vordergrund rückt.“
Also kein starres Gedächtnis, sondern immer auch ein Setzen von Prioritäten. Manchmal mit erstaunlichem Beharrungsvermögen, manchmal heiß umstritten, manchmal auch wie selbstverständlich, weil Würdigungen wie für Capa und Bowman auch ein klares Zeichen sind, ein Bekenntnis zu einer Version der Geschichte, die die meisten Leipziger teilen.
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