Leipzigs Statistiker werden so langsam ratlos, was nun die ganzen immer wieder zu aktualisierenden Bevölkerungsprognosen für Leipzig betrifft. Im letzten Quartalsbericht Nr. IV/2021 machte sich Michael Naber ausführlich Gedanken darüber, was bei der zurückliegenden Prognose eigentlich für die gravierenden Abweichungen gesorgt haben könnte. Und nun meldet das Ordnungsamt gleich zum Jahresauftakt 2022 einen kräftigen Wachstumsschub.
„Als weiterer Faktor für einen Bevölkerungsverlauf entlang des unteren Szenarios wurden im Arbeitskreis ein Rückgang des regionalen Zuzugspotentials sowie eine zunehmende Suburbanisierung bzw. ein Ausweichen auf Wohnstandorte im Umland identifiziert“, versucht Naber zu erklären, warum selbst die unterste Wachstumsprognose für Leipzig in den letzten beiden Jahren von der tatsächlichen Entwicklung nicht erreicht wurde.
„Eine Zunahme der Abwanderung in die Umlandgemeinden lässt sich für die ersten Prognosejahre nachweisen. Auffällig ist außerdem, dass sich die Arbeitskräftezuwanderung aus dem Ausland – vermutlich als Effekt der COVID-19-Pandemie – verringert hat.“
Mit einer weltweiten Pandemie, die zwei Jahre lang das Zuzugsgeschehen massiv ausbremsen würde, konnten Leipzigs Statistiker natürlich auch 2019 nicht rechnen. So etwas kann man ja nicht planen und nicht hochrechnen. Genauso wenig, wie die ab 2015 registrierten großen Flüchtlingszahlen zu erwarten gewesen waren.
Die Grundannahmen, mit denen die Bevölkerungsprognosen sowohl im Leipziger Amt für Statistik und Wahlen als auch im Statistischen Landesamt erstellt werden, gehen von einem relativ geschlossenen Modell der Einflussfaktoren aus.
Was auf den ersten Blick nur logisch ist: Man kann nicht voraussehen, ob es weltweit zu Pandemien, Kriegen und anderen Großereignissen kommt, die die Wanderungsbewegungen Richtung Deutschland massiv beeinflussen.
Zweimal zu hoch angesetzt?
Aber genau das ist eigentlich die Lehre sowohl aus der viel zu hoch angesetzten Prognose von 2016, als die Statistiker Leipzig bis 2030 bis zu 720.000 Einwohner vorhersagten, als auch die der Prognose von 2019, deren untersten Wert Leipzig zum Jahresende 2021 um 5.400 Personen verfehlte, wie Naber feststellt.
War der erste Wert zu hoch, weil man die Zuwanderung (auch aus dem Ausland) zu hoch ansetzte, so war der zweite Wert zu hoch, weil man mit zwei Pandemiejahren nicht gerechnet hat, die die Zuwanderung ebenfalls drosselten.
Und nun?
Nun meldet das Leipziger Melderegister, nachdem die Stadt zum Jahresende 2021 doch noch einen merklichen Zuwachs auf 609.869 Einwohner verzeichnen konnte (von 605.407 im Dezember 2020), per 31. März eine neue Einwohnerzahl von 615.342. Ein Sprung, den Leipzig im ersten Quartal seit einigen Jahren nicht verzeichnen konnte.
Und auf einmal ist Leipzig wieder mittendrauf auf der Prognoselinie von 2019.
Die Vermutung liegt nahe, dass die niedrigen Zuwachszahlen der letzten beiden Jahre tatsächlich direkt mit den Auswirkungen der Pandemie und des deutlich gebremsten Umzugsgeschehens zu tun hatten und sich die Rahmenbedingungen von vor der Pandemie wieder einpegeln.
Gentrifizierung in blau und rot
Und dass das etwas mit Leipzig als Arbeitsort zu tun hat, das machte Naber ja bei seiner Untersuchung auf Ortsteilebene deutlich (Karte oben). Denn während die innerstädtischen Ortsteile so ziemlich alle deutlich hinter den Prognosen zurückblieben, gab es in den Ortsteilen in Randlage so einige Überraschungen, wie Naber schreibt:
„Die größte Überschätzung ergab sich dagegen in Plaußig-Portitz, wo Ende 2021 rund 440 Personen mehr gemeldet sind als prognostiziert (+14 Prozent). Insbesondere in Teilen Grünaus, in Paunsdorf sowie den Ortsteilen des südlichen und nördlichen Stadtrandes entwickelte sich die Einwohnerzahl in den ersten drei Prognosejahren positiver als prognostiziert. Ortsteile im Innenstadtbereich, am Innenstadtrand sowie im Stadtbezirk Ost blieben dagegen hinter der erwarteten Einwohnerentwicklung zurück.“
Und das sind nicht nur Ortsteile, in denen neue Eigenheimsiedlungen bezugsfertig wurden. Es sind mit Paunsdorf, Gohlis-Nord, Mockau-Nord und Grünau auch einige der prägnanten Großwohnsiedlungen, in die meist Menschen ziehen, die sich das hohe innerstädtische Mietniveau nicht (mehr) leisten können.
Was nicht bedeutet, dass sie von sozialen Transferleistungen abhängig sind, denn die Arbeitslosigkeit ist ja in Leipzig wieder deutlich gesunken. Trotzdem arbeitet nach wie vor ein Großteil der Leipziger in Beschäftigungsverhältnissen, die besondere Spielräume bei der Wahl einer Mietwohnung nicht zulassen.
Diese Menschen ziehen dann (oft nicht ganz freiwillig) in die etwas außerhalb gelegenen „billigeren“ Quartiere, zu denen im Norden auch Wahren und Möckern gehören, Schönefeld-Ost im Osten und Großzschocher im Südwesten.
Das heißt: Die Gentrifizierung in Leipzig ist auf dieser Karte eigentlich deutlich zu sehen. Und zwar in den roten Ortsteilen, wo das Wachstum größer war als erwartet, als auch in den blauen Ortsteilen, aus denen so mancher Haushalt gezwungen war, in Stadtrandlage umzuziehen.
Familienfreundlich? Pustekuchen
Dass Statistiker manchmal auch zu viel erwarten, macht der Blick auf Meusdorf deutlich: „Die deutlichste Überschätzung ergibt sich für den Ortsteil Meusdorf (-310 Personen bzw. -9 Prozent). Diese Abweichung erklärt sich durch die verzögerte Fertigstellung von 450 Wohnungen im Areal des ehemaligen Parkkrankenhauses Dösen, die als Neubauerstbezüge in die Prognosejahre 2019 bis 2021 der Hauptvariante eingeflossen sind“, schreibt Naber.
Dass die Prognosen auch deshalb abwichen, weil die Geburtenziffer sich nicht so prächtig entwickelte, wie noch 2019 angenommen, hat ja im Quartalsbericht ja Christoph Bein schon diskutiert.
Auch das ist ja ein demografischer Aspekt, mit dem die ökonomische Lebenswirklichkeit der jungen Leipziger/-innen direkte Auswirkungen auf die Bevölkerungszahlen hat.
Wozu man eigentlich nur das trockene Fazit ziehen kann: Die deutsche Arbeitsmarktpolitik ist nach wie vor familienfeindlich.
Was übrigens noch mehr Effekte hat. Und zu denen gehören eben auch die vielen noch immer prekären und mies bezahlten Jobs gerade in Dienstleistungsbranchen. Ohne die zwar nichts funktionieren würde. Aber so lange die sogenannte systemrelevante Arbeit weiterhin so betrachtet wird, als wären die dort Beschäftigten allesamt jederzeit austauschbar, wird sich auch an den prekären Verhältnissen in vielen Familien nichts ändern.
Und während Naber noch auf die verstärkten Umzüge von jungen Familien ins Umland verweist, gibt es hier einen prägnanten Unterschied: Den Umzug ins Eigenheim im Umland muss man sich leisten können. Das sind nicht wirklich die prekär Beschäftigten, die hier mit Kind und Kegel „aufs Land“ ziehen.
Während der Umzug in die Großwohnsiedlungen meist einer Einkommenssituation entspringt, die andere Möglichkeiten gar nicht zur Wahl stellt.
Was dann natürlich auch Fragen wie eine gerechte Mobilität auf die Tagesordnung bringt, erst recht, seit die Spritpreise so massiv steigen. Das ist dann natürlich ein anderes Mega-Thema.
Die Zuwachszahlen im 1. Quartal erzählen freilich auch davon, dass Leipzig als funktionierende Metropole nicht nur für Akademiker, Studierende und Hochqualifizierte attraktiv ist, sondern auch für tausende von Menschen, die hier wenigstens eine leidlich bezahlte Arbeit in einer wachsenden Dienstleistungsbranche finden. Und die dann oft froh sind, wenn sie in Grünau oder Paunsdorf noch eine bezahlbare Wohnung finden.
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