Die Zahlen steigen und steigen. Aber sie liegen noch lange nicht auf dem Niveau westdeutscher Stรคdte. Was sogar Paul M. Schrรถder vom Bremer Institut fรผr Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) verblรผfft, auch wenn er seine Verblรผffung eher in einen kleinen statistischen Anhang packt. Denn bei beantragter Grundsicherung belegen westdeutsche Stรคdte alle vorderen Plรคtze.

Und zwar reiche Stรคdte wie Offenbach, Frankfurt, Hamburg, Dรผsseldorf und Kรถln. รœber 8 Prozent der dortigen รผber 65-Jรคhrigen haben 2021 Grundsicherung beantragt. Eine Quote, die man eigentlich eher im Osten erwartet hรคtte, wo ja die sogenannte Armutsgefรคhrdungsquote deutlich hรถher liegt als im Westen.

Aber wo Frankfurt am Main mit 11.200 Empfรคngern auf eine Antragsquote von 9,74 Prozent kommt, also fast jeder zehnte Rentenempfรคnger Anspruch auf Grundsicherung hat, kommt Dresden bei 2.125 Empfรคngern von Grundsicherung gerade einmal auf 1,8 Prozent der Senioren.

In Leipzig bedeuten 3.215 Empfรคnger von Grundsicherung im Alter immerhin 2,75 Prozent.

Dass die Zahlen ihre Tรผcken haben, beschreibt Schrรถder ganz zurรผckhaltend, denn eine Frage kann niemand beantworten: Warum beantragen Menschen keine Grundsicherung?

โ€žIn der Bundesrepublik Deutschland betrug die durchschnittliche Empfรคngerquote 3,22 Prozent (564.110 von 17.495.154) โ€“ unter den Mรคnnern 3,26 Prozent (249.465 von 7.646.761) und unter den Frauen 3,19 Prozent (314.645 von 9.848.394). Die Zahl derer, die Ihr Recht auf Grundsicherung im Alter nicht in Anspruch nahmen, ist nicht bekanntโ€œ, kommentiert Schrรถder die jรผngsten Zahlen, die er zur Grundsicherung im Alter zusammengetragen hat.

โ€žIm Kreisvergleich des BIAJ reicht der Anteil der Leistungsempfรคngerinnen und -empfรคnger Ende 2020 von 9,83 Prozent in Offenbach am Main bis 0,51 Prozent im Erzgebirgskreis. (Mรคnner: von 10,60 Prozent in Frankfurt am Main bis 0,60 Prozent im Saale-Orla-Kreis; Frauen: von 9,61 Prozent in Offenbach am Main bis 0,38 Prozent im Landkreis Greiz)โ€œ, stellt Schrรถder fest. โ€žWie stark die Nicht-Inanspruchnahme die Hรถhe der Empfรคngerquoten in den einzelnen Kreisen beeinflusst hat, ist dem BIAJ nicht bekannt. Dies gilt auch fรผr die Grรผnde der gegebenenfalls stark voneinander abweichenden Quoten der Nicht-Inanspruchnahme.โ€œ

Dabei steigen die Zahlen auch in Leipzig weiter, wie eine Antwort des Sozialdezernats auf eine Anfrage der Linksfraktion hin ergab. Schien die Zahl der Empfรคnger/-innen von Grundsicherung im Alter 2019 noch auf demselben Weg wie 2018 bei 2.971zu stagnieren, verzeichnete das Sozialdezernat ab 2020 wider einen deutlichen Anstieg.

Keine Stagnation in Leipzig

Im โ€žSozialreport 2021โ€œ suggerierten die dort verรถffentlichten Zahlen auch weiterhin eine Stagnation.

Dort kommentierte das Sozialdezernat die Zahlen so: โ€žIm Dezember 2020 erhielten in Zustรคndigkeit der Stadt Leipzig 2.951 Menschen รผber 65 Jahre Grundsicherung im Alter. Das waren 2,4 % aller ab 65-jรคhrigen Leipziger/-innen. Die Zahl der Empfรคnger/-innen von Grundsicherung im Alter und der Anteil an allen รผber 65-Jรคhrigen ist seit dem Jahr 2017 auf รคhnlichem Niveau. Etwa die Hรคlfte der Leistungsempfรคnger/-innen ist weiblich. Der leichte Rรผckgang in diesem Leistungsbereich ist auf die Wohngeldreform zum 1. Januar 2020 zurรผckzufรผhren, denn dadurch haben mehr รคltere Menschen einen hรถheren Anspruch auf Wohngeld und mรผssen damit keine Grundsicherungsleistung mehr in Anspruch nehmen.โ€œ

Aber augenscheinlich ist die Wohngeldreform ziemlich bald wieder verpufft. Denn wo der โ€žSozialreport 2021โ€œ fรผr Dezember 2020 noch 2.951 Empfรคnger/-innen von Grundsicherung im Alter ausweist, steht in der Auskunft an die Linksfraktion jetzt die Zahl 3.050. Was doch wieder ein Zuwachs gegenรผber 2019 war โ€“ und das trotz eines spรผrbaren Rรผckgangs zum November 2020, als 3.131 Antragsteller gezรคhlt wurden.

Anstieg auch in der Corona-Zeit

Und das Jahr 2021 hat noch deutlicher gemacht, dass immer mehr Menschen ins Rentenalter kommen, die nach einer ziemlich zerstรผckelten Erwerbsbiografie keine auskรถmmliche Rente zu erwarten haben. Im Dezember 2021 ist die Zahl der Antragsteller auf 3.329 gestiegen.

Was trotzdem die Frage offen lรคsst, ob tatsรคchlich alle, die ein Anrecht auf die Grundsicherung hรคtten, auch einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Denn natรผrlich kratzt es an der Wรผrde, wenn man ein Leben lang gearbeitet hat und dann trotzdem nicht mal das Niveau der Grundsicherung als Rentenanspruch erreicht, was fรผr immer mehr รคltere Leipziger/-innen der Fall ist.

Steigende Ausgaben im Sozialamt

Natรผrlich verursacht das Kosten. Die beziffert das Sozialdezernat im โ€žSozialreport 2021โ€œ: โ€žDie Ausgaben im Jahr 2020 betrugen 33,7 Mio. Euro und stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 6,3 Mio. Euro an. Die Ausgaben je Empfรคnger/-in sind, trotz leichtem Rรผckgang bei der Anzahl der Leistungsempfรคnger/-innen, um 392 Euro angestiegen. Durch die COVID-19-Pandemie sind fรผr viele Leistungsempfรคnger/-innen die zusรคtzlichen Einkommen weggefallen und die Kosten der Unterkunft wurden ohne Berรผcksichtigung von Vermรถgen fรผr sechs Monate รผbernommen. Auch die gestiegenen Mieten und das Familienentlastungsgesetz fรผr Leistungsempfรคnger/-innen in der stationรคren Pflege (Hilfe zur Pflege) fรผhren zu einer Kostensteigerung.โ€œ

Aber sind das wirklich โ€žKostenโ€œ und โ€žAusgabenโ€œ? Oder macht man mit der Bezeichnung die Betroffenen nicht schon wieder zu โ€žAlmosenโ€œ-Empfรคngern, als stรผnde ihnen nach einem arbeitsreichen Leben nicht ganz selbstverstรคndlich eine existenzsichernde Rente zu?

Ein Grund dafรผr, dass Leipziger Rentner noch keine Grundsicherung beantragen, kรถnnte darin liegen, dass gerade รคltere Rentner noch Gelegenheit hatten, hรถhere Rentenansprรผche zu erwerben, was das Durchschnittseinkommen alleinlebender Rentner in Leipzig im Jahr 2020 immerhin bei 1.399 Euro liegen lieรŸ. Rentnerpaare kamen im Schnitt auf 2.474 Euro im Monat, was in der Regel genรผgt, um deutlich รผber der Leipziger Armutsgefรคhrdungsschwelle von 955 bzw. 1.433 Euro zu bleiben.

Was auch in anderen ostdeutschen Kommunen der Fall sein dรผrfte. Erst fรผr die nรคchsten Jahre erwartet auch das Sozialdezernat deutlich steigende Zahlen von Rentnerinnen und Rentnern, die dann die Grundsicherung in Anspruch nehmen mรผssen.

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