Warum stellt man eigentlich Menschen, die keine Ahnung von Wirtschaft haben, jedes Jahr Fragen zum wirtschaftlichen Zustand der Stadt Leipzig? Jedenfalls waren Leipzigs Statistiker/-innen weidlich verblüfft, als sie nun mit den Daten aus der Bürgerumfrage 2020 feststellen konnten (wieder einmal), dass selbst Leute, die gut verdienen, keine Ahnung davon haben, wie es ihrer Stadt wirtschaftlich wirklich geht.

Das ist nicht neu. Schon in der Vergangenheit – bis 2010 – klaffte zwischen der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage und der Einschätzung der Wirtschaftssituation in der Stadt eine riesige Lücke. Die Befragten brachten ihre eigene ökonomische Lage einfach nicht mit der Gesamtstadt in Deckung.Irgendwie scheint das im menschlichen Denken so angelegt: Man glaubt lieber den medialen Alarmnachrichten und regelmäßigen Unkenrufen, mit denen ja diverse „Wirtschaftsinstitute“ gern so tun, als könnten sie Wirtschaft regelrecht prophezeien.

Das Ergebnis ist dann eine Schieflage der Wahrnehmung. Und erst mit Verzögerung akzeptiert die Mehrheit dann, dass vielleicht nicht die Unkenrufer recht haben könnten, sondern die realen Statistiken zu Beschäftigung, Bruttoumsatz, Steuereinnahmen und sinkender Arbeitslosigkeit. Und dazu kommt natürlich, dass die Finanzkrise von 2008/2009 tatsächlich nachwirkte und die Skepsis unter den „Wirtschaftsexperten“ noch lange die Tonlage bestimmte.

Dabei hatte sich Leipzig seit 2005 längst stabilisiert. Ein Jahr, das eng verbunden ist mit der Produktionsaufnahme im neuen BMW Werk. Und während das ebenfalls 2005 eingeführte „Hartz IV“ den Druck auf Arbeitslose und prekär Beschäftigte massiv erhöhte, ging die Arbeitslosigkeit seitdem ständig zurück, während die Beschäftigtenzahlen immerfort stiegen. Auch in prekären Jobs, keine Frage.

Aber dass es aufwärts ging, akzeptierte das Unterbewusstsein der Befragten tatsächlich erst ab 2011. Was auch damit zu tun haben könnte, dass die Stadt seit 2005 auf Druck der Landesdirektion immerfort über ihren „riesigen Schuldenberg“ diskutierte, obwohl dieser Schuldenberg seitdem Jahr um Jahr um zweistellige Millionenbeträge abgebaut wurde. Es war also auch genug Geld in der Kasse, um den Haushalt der Stadt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Entwicklung der Einkommen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2020
Entwicklung der Einkommen in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2020

Es sind nicht nur die Stadtbewohner, die sich schwertun, an eine positive Entwicklung zu glauben. Sächsische Landesbehörden sind in dieser Kunst noch viel geübter. Was nicht nur die Landesdirektion betrifft, die den Leipziger Doppelhaushalt 2021/2002 im September 2021 mit einem ganzen Paket von Ängsten und Befürchtungen genehmigte und den Finanzbürgermeister geradezu in Panik versetzte.

Obwohl schon der Finanzbericht des Finanzbürgermeisters just aus dem September zeigte, dass Leipzig keinesfalls die Corona-Schulden bekommen würde, die noch Planungsgrundlage für den Doppelhaushalt waren. Im Gegenteil: Die beschworene Verdoppelung der Stadtschulden erwiesen sich als reines Traumszenario.

Wenn ausgerechnet die Gutverdienenden zu Pessimisten werden

Aber solche in einigen Blättern der Stadt breit ausgewalzten Angstszenarien bestimmen natürlich das Bild, das sich die Leipziger von der wirtschaftlichen Lage ihrer Stadt machen. Und so überrascht auch nicht, dass in der Bürgerumfrage 2020 die wirtschaftliche Einschätzung der Stadt in den Keller rauscht, während fast alle Befragten bekunden, dass sich ihre eigene wirtschaftliche Lage nicht verschlechtert, teilweise sogar verbessert hat.

Und die Statistiker/-innen der Stadt wundern sich zu Recht:

„Bereits im Jahr 2019, also vor Beginn der Pandemie, verschlechterte sich das Fremdbild auf die wirtschaftliche Lage der Stadt (-8 Prozentpunkte). Während zwischen 2018 und 2019 vor allem die mittleren Einkommensbezieher/-innen im mittleren Erwerbsalter eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage wahrnahmen, änderte das Pandemie-Jahr 2020 die Sichtweise der Gruppen.

Aktuell sind es vornehmlich die jungen Erwachsenen im Ausbildungsalter (unter 25 Jahre), aber auch die Gutverdiener/-innen (2.000 Euro und mehr Personeneinkommen), die den starken Rückgang bei der Bewertung der wirtschaftlichen Lage der Stadt antreiben. Nur noch 43 Prozent aller Befragten schätzen die wirtschaftliche Lage in der Stadt als (sehr) gut ein. Erstaunlich ist, dass sowohl die jungen Erwachsenen als auch die Gutverdiener ihre persönliche wirtschaftliche Lage (Selbstbild) als unverändert gut erachten. Insofern steht die negativere Lageeinschätzung in der Stadt (Fremdbild) nicht im Einklang mit einer eigenen Betroffenheit (Selbstbild).“

Das Ergebnis ist ein geradezu seltsamer Effekt: „Die schlechtere Lageeinschätzung in der Stadt (Fremdbild) wird demnach von jenen Bevölkerungsgruppen verursacht, die ihre eigene Lage gut bzw. sogar überdurchschnittlich gut einschätzen. Die Bewertungen der jungen Erwachsenen fügen sich ein in die insgesamt gedämpftere Zukunftssicht dieser Gruppe. Insgesamt nahm die wirtschaftliche Lageeinschätzung 2020 um 8 Prozentpunkte ab und sank damit im zweiten Jahr in Folge.“

Pessimistische junge Berufstätige

Wobei der Bericht zur Bürgerumfrage auch zeigt, dass die Einschätzung der aktuellen Situation oft gravierend abweicht von der Zukunftssicht. Von den jungen Erwachsenen beurteilen 48 Prozent ihre Situation als gut bis sehr gut und nur 10 Prozent als schlecht bis sehr schlecht. Aber wenn es um die Erwartungen mitten in der 2. Corona-Welle für die Zukunft geht, haben 32 Prozent negative Erwartungen.

Gehabt, muss man sagen. Denn parallel hat sich der Fachkräftemangel in Leipzig weiter verschärft. Die jungen, gut ausgebildeten Leute werden in allen Wirtschaftsbereichen dringend gebraucht. Die Ängste im Herbst 2020 waren unbegründet. Aber genau so funktionieren so ziemlich alle Prognosen für wirtschaftliche Entwicklungen in der Zukunft. Das geht den „Wirtschaftsinstituten“ genauso wie den unkenden Tageszeitungen.

Man bläst die negativen Zeichen auf, bis sie zum erschreckenden Schatten an der Wand werden. Und das versetzt dann auch die Konsumenten dieser Nachrichten in Schrecken. Und man projiziert diese (falschen) Erwartungshaltungen dann auch noch auf den aktuell gefühlten Zustand der Stadt, ihrer Wirtschaft und ihres Haushalts.

Hinterher kann man zu Recht fragen: Wovor haben sich diese Menschen eigentlich gefürchtet?

Die Schatten an der Wand

In einer Fußnote bringt es der Bericht auch noch so auf den Punkt: „Junge Erwachsene schätzten ihre persönliche wirtschaftliche Lage 2019 zu 62 Prozent als (sehr) gut ein, 2020 waren es 61 Prozent. Gutverdiener bewerteten 2019 ihre Lage zu 87 Prozent als (sehr) gut, 2020 zu 85 Prozent. Dennoch sank die Einschätzung der gesamtstädtischen wirtschaftlichen Lage (Fremdbild) bei den jungen Erwachsenen im Pandemiejahr um 14 Prozentpunkte und bei den Gutverdiener/-innen um 11 Prozentpunkte.“

Und hinter all dem steckt sogar noch in Corona-Jahr ein Einkommensanstieg in fast allen Alters- und Berufsgruppen.

„Die Einkommen in Leipzig steigen auch im Jahr 2020 weiter an: Das mittlere persönliche Nettoeinkommen in Leipzig liegt 2020 bei rund 1.480 Euro, 3,1 Prozent höher als im Vorjahr. Verglichen mit dem Jahr 2008 liegen die realen (preisbereinigten) Einkommen der Leipzigerinnen und Leipziger im Mittel um 31 Prozent höher. Die Lücke zwischen den Einkommen von Männern und Frauen verkleinert sich gegenüber dem Vorjahr leicht. Das mittlere Haushaltsnettoeinkommen steigt um 3,2 Prozent auf rund 1.970 Euro. In realen Größen verfügt der mittlere Leipziger Haushalt damit über ein um 27 Prozent höheres Einkommen als 2008“, liest man im Bericht.

Die Befragten nahmen also an, dass sich für Andere die wirtschaftliche Lage massiv verschlechtert haben muss. Und im Corona-Jahr traf das ja vor allem auf Selbstständige und Beschäftigte der Gastronomie zu. Aber es trifft nicht auf die Gesamtwirtschaft zu, auch wenn kurzzeitig jede Menge Kurzarbeit verordnet wurde und das Gewerbesteuereinkommen 2020 deutlich zurückging.

Ob die negative Einschätzung zur wirtschaftlichen Lage der Stadt auch 2021 noch so schlecht ausfiel, werden wir freilich erst erfahren, wenn die Bürgerumfrage 2021 ausgewertet ist. Mit ersten Ergebnissen ist im Frühsommer zu rechnen.

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