Am Donnerstag, 6. Januar, veröffentlichte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) eine neue Studie zur Beschäftigung in der untersten Entgeltgruppe, also zu den Niedriglöhnern in Deutschland. Eine Studie, die durchaus auch deutlich macht, warum gerade der Osten noch immer so viele Billigjobs hat – und warum sie gerade hier besonders stark zurückgehen.

Auch wenn es der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) vor allem für eine politische Frage hält, dass Billigjobs überhaupt existieren und ein flächendeckender Mindestlohn gerade in Sachsen ein Gebot der Zeit ist. Die Veröffentlichung der Studie jedenfalls veranlasste den sächsischen DGB–Vorsitzenden Markus Schlimbach zu der Mahnung, dass niedrige Monatsentgelte kein Markenzeichen von Sachsen sein dürfen. Die Studie zeige neben Licht auch viel Schatten und den enormen Handlungsbedarf in Sachsen.„Der Rückgang des Anteils von Beschäftigten mit niedrigen Monatsentgelten in Ostdeutschland um 10 Prozentpunkte ist ein gutes Signal. Dafür sind vor allem steigende Tariflöhne, die Angleichung der meisten Tariflöhne Ost an West und die Einführung des Mindestlohns die Ursache“, sagte Schlimbach am Donnerstag.

„Es lohnt sich aber ein genauer Blick und da steht Sachsen nicht gut da. In Sachsen liegt der Anteil der Beschäftigten in der untersten Entgeltgruppe mit 32,6 % deutlich höher als in Westdeutschland mit 16,4 %. Und das Erzgebirge hat mit einem Anteil von 43,2 % bundesweit den negativen Spitzenplatz erreicht.“

Die Rolle von Gastgewerbe, Zeitarbeit und Billigpreisen in der Landwirtschaft

Neben den regionalen Unterschieden spielten weitere Merkmale eine Rolle für die Betroffenheit von niedrigen Löhnen. Das gilt für das Geschlecht, die Qualifikation, das Anforderungsprofil der Tätigkeit, die Branche und die Betriebsgröße.

„Im Gastgewerbe und bei der Leiharbeit sind geringe Monatsentgelte eher die Regel, als die Ausnahme. In Sachsen arbeiten fast 82 % der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten im Gastgewerbe im Niedriglohnbereich. Negativer Spitzenreiter ist auch hier der Erzgebirgskreis mit fast 90 %. Es ist skandalös, dass DEHOGA Sachsen nicht bereit war, mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten einen ordentlichen Tarifabschluss zu vereinbaren“, kritisiert Schlimbach den Branchenverband des Gastgewerbes.

Quelle: WSI Policy Brief Nr. 64, Januar 2022, eigene Darstellung. Daten Bundesagentur für Arbeit, Stichtag 31.12.2020.

In größeren Betrieben seien niedrige Löhne hingegen eher selten anzutreffen.

„Das liegt vor allem an der Tarifbindung und den Mitbestimmungsstrukturen. Tarifverträge schützen vor Niedriglöhnen und die Betriebsräte sorgen für eine ordentliche Eingruppierung der Beschäftigten. Tarifverträge und gute Mitbestimmungsstrukturen sind der beste Schutz vor niedrigen Löhnen und müssen in Sachsen flächendeckend in allen Betrieben zur Normalität werden“, interpretiert Schlimbach die Ergebnisse aus Gewerkschaftssicht.

Doch die Studie zeigt auch, dass auch andere Verwerfungen unserer Wirtschaft dazu führen, dass ganze Branchen nicht mehr in der Lage sind, attraktive Löhne zu zahlen. Allen voran die Landwirtschaft, die massiv unter der Macht der riesigen Einzelhandelsketten leidet.

Obwohl unter diesem Druck immer größere Betriebe mit immer weniger Beschäftigten entstanden sind, ist die Landwirtschaft nach dem Gastgewerbe mit 68,9 % und der Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung) mit 67,9 % der Wirtschaftsbereich, der mit 52,7 % den größten Niedriglohn-Anteil hat.

Womit man auch einen der Gründe vor sich sieht, der dazu beigetragen hat, dass viele wichtige Arbeitsplätze im ländlichen Raum verloren gingen und junge Leute dort schon deshalb abwandern müssen, weil es für sie schlicht keine auskömmlichen Arbeitsangebote gibt.

Warum die großen Städte wachsen

In der vom WSI vorgelegten Studie untersuchen die Autoren mehrere Ursachen für die regionale Verteilung von Niedriglohnschwerpunkten.

„Dicht besiedelte, großbetrieblich strukturierte Regionen mit einem niedrigen Anteil Geringqualifizierter und dementsprechend hoher Produktivität sollten einen niedrigen Anteil von Geringverdienern aufweisen. Ein solcher negativer Zusammenhang ist schon allein deshalb zu erwarten, weil eine große Zahl Gutverdienender den Anteil derjenigen, die wenig verdienen, senkt“, ist so ein Interpretationsansatz.

Der aber auch noch eine Verschärfung kennt: „Ein wichtiger Punkt sind jedoch die Wohnkosten: Im Zuge des Immobilienbooms der vergangenen Jahre sind die Kaltmieten in den Kreisfreien Großstädten stärker gestiegen als in dünnbesiedelten ländlichen Regionen. Steigende Mieten drängen aber die Geringverdiener, höhere nominale Monatslöhne zu erwirtschaften, um mit ihrem Geld auszukommen. Dementsprechend sollte der Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit einem Bruttoarbeitsentgelt unterhalb der (nominalen) Schwelle des unteren Entgeltbereichs sinken.“

Was dann wesentliche Effekte der Gentrifizierung auch in Leipzig erklärt.

Quelle: WSI Policy Brief Nr. 64, Januar 2022, eigene Darstellung. Daten Bundesagentur für Arbeit, Stichtag 31.12.2020.

Der Osten als Niedriglohnsektor

Dass freilich gerade Sachsen beim Niedriglohnsektor so hervorsticht, ist aus Sicht des wirtschaftspolitischen Sprechers der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Nico Brünler, ein Skandal.

„Diese Zahlen sind ein bleibender Skandal. Es kann nicht sein, dass auch in Sachsen so viele Menschen mit einem Bruttolohn von weniger als 2.284 Euro abgespeist werden, obwohl sie 40 Stunden und mehr pro Woche schuften – zumal am Ende dann die Armutsrente droht. Ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten kann also nicht oder kaum von der eigenen Hände Arbeit leben. Damit können wir uns nicht abfinden“, kommentiert er die Zahlen.

„Wir stehen solidarisch an der Seite der Beschäftigten, die mit Streiks und Aktionen für eine gerechte Bezahlung kämpfen, zumal dann, wenn ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen für dieselbe Arbeit deutlich mehr Geld bekommen.“

„Die Kreise, in denen sich der untere Entgeltbereich auf mehr als vier von zehn sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erstreckt, liegen alle im Osten. Dabei handelt es sich um den Erzgebirgskreis (43,2 %), Görlitz (42,5 %), den Saale-Orla-Kreis (41,2 %), Vorpommern-Rügen (40,8 %) und den Vogtlandkreis (40,2 %)“, kann man in der Studie lesen.

Tatsächlich aber sinkt der Anteil im Osten, wie die Studie feststellt: „Auffällig ist jedoch, dass sich dieser Rückgang allein aus der Entwicklung im Osten speist. Der prozentuale Anteil der Geringverdiener hat sich unter den sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigen zwischen 2011 und 2020 im Westen kaum verändert und liegt aktuell bei 16,4 %. Gleichzeitig ist jedoch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten deutlich gestiegen, sodass die absolute Zahl der Geringverdiener im Westen um gut 200.000 zugenommen hat. Im Osten sank hingegen im gleichen Zeitraum nicht nur der Anteil der Geringverdiener von 39,9 % auf 29,1 %, sondern auch ihre absolute Zahl um mehr als 320.000.“

Die wachsenden Probleme der ländlichen Räume

Ein Effekt, der direkt mit dem zunehmenden Fachkräftemangel zu tun hat: Die Konjunktur ab 2011 hat diesen Fachkräftemangel, erhöht und dafür gesorgt, dass Tausende Beschäftigte aus prekären Arbeitsbereichen verstärkt in besser bezahlte Vollzeitstellen wechselten.

Auch in Leipzig ist der Niedriglohnbereich mittlerweile unter 30 Prozent gesunken und liegt damit wie der Dresdner Wert schon spürbar unterm sächsischen Durchschnitt. Was wiederum die Attraktivität der großen Städte für junge Arbeitsuchende betont und damit die innersächsischen Wanderungsbewegungen erklärt.

Was dann freilich neue demographische und politische Probleme für die abgehängten ländlichen Räume mit sich bringt.

Nico Brünler (Linke). Foto: DiG/trialon
Nico Brünler (Linke). Foto: DiG/trialon

„Die Regierenden dürfen die Gewerkschaften im Kampf für höhere Löhne aber nicht alleinlassen. Die sächsische Staatsregierung muss endlich Druck machen für höhere Löhne! Ein wichtiges Mittel ist das Vergabegesetz: Öffentliche Aufträge und damit Steuergeld dürfen nur an Unternehmen fließen, die eine tarifliche Entlohnung und tarifgerechte Arbeitsbedingungen gewährleisten. Wann liefert die Koalition endlich?“, fragt Brünler.

Und betont: „Es ist ferner überfällig, dass der gesetzliche Mindestlohn erhöht wird – allerdings werden auch die von der Ampel-Koalition angestrebten 12 Euro niemanden zuverlässig vor Armut trotz Arbeit schützen. Die Staatsregierung muss wenigstens dafür sorgen, dass kein Unternehmen den Mindestlohn unterschreiten kann. Dazu ist ein stetig hoher Kontrolldruck notwendig. Um die Tarifbindung wieder zu steigern, müssen Tarifverträge wieder leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Dafür muss sich Sachsen im Bund stärker einsetzen.“

Ob das jetzt noch hilft, ist eine durchaus brisante Frage. Denn die Folgen der sächsischen Niedriglohnpolitik sind ja in den ländlichen Regionen längst zu besichtigen. Hier sind nicht nur die Lohnniveaus geringer – es fehlt auch an Arbeitskräften, die die Ansiedlung größerer Unternehmen überhaupt sinnvoll erscheinen ließen. Sachsen hat mit der Niedriglohnpolitik auch die Leuchttürme gestärkt und die ländlichen Räume geschwächt.

„Es ist bis heute kein Ruhmesblatt für Sachsen, dass in keinem anderen Bundesland so viele Menschen per Mindestlohn aus extremer Lohndrückerei gerettet werden mussten“, sagt Brünler. „Ohne Die Linke, die als erste Partei das Projekt Mindestlohn auf die Tagesordnung gesetzt hat, wäre auch das nicht zustande gekommen.“

Den Mindestlohn hat ja in gewisser Weise die SPD dem politischen Konkurrenten gemaust und dann in der Bundesregierung nach und nach durchgesetzt.

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