Eigentlich ist es nicht mehr neu. Und eigentlich müsste es im Bundestagswahlkampf 2021 eine ganz wichtige Rolle spielen, dass jedes siebente Kind in einer Familie lebt, die auf SGB-II-Unterstützung angewiesen ist. Bundesweit 13 Prozent aller Kinder, im Osten sogar 16 Prozent. Das liegt deutlich über der offiziellen Arbeitslosenquote, erzählt aber von einer Gesellschaft, die Kinder nur zu gern ignoriert.

Natürlich passt das zur Klimapolitik, in der sich ältere Menschen, die zu faul sind, ihren klimazerstörenden Lebensstil zu ändern, immer wieder eine Regierung zusammengewählt haben, die genau an dieser fossilen Lebenshaltung nichts geändert hat. Damit aber haben die Regierungen genau jenen wertvollen Zeitpuffer aufgebraucht, den wir gebraucht hätten, um unsere Gesellschaft klimaneutral zu machen.

Und das geht natürlich alles auf Kosten der Kinder, die in einer Welt leben werden, in der klimatische Extremereignisse immer häufiger vorkommen und nicht nur unsere ökonomischen Grundlagen in Gefahr geraten, sondern auch die gesamte gesellschaftliche Stabilität.

Quote bedürftiger Kinder steigt

Aber dass die Phlegmatischen und so von ihrem Besitz Eingenommenen auch in anderen Politikfeldern auf Kinder und Familien pfeifen, zeigt eben auch die Lage im Hartz-IV-Wald. Denn längst steigen die Quoten der bedürftigen Kinder dort in vielen Großstädten wieder an. Und wo man selbst in Leipzig noch vor wenigen Jahren meinte, mit der Arbeitslosenquote würde auch die Zahl der Bedarfsgemeinschaften fallen und damit die Zahl der Kinder in Hartz IV, hat sich die Zahl der Minderjährigen in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften bei 18 Prozent festgehängt und sinkt nicht mehr.

Das hat eben nicht nur mit Arbeitslosigkeit zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass gerade Alleinerziehende überproportional häufig in Hartz IV landen, weil Kinderbetreuung und ein entsprechend familiengerechter Job nicht zusammenkommen.

Coronakrise machte Probleme noch deutlicher

Und die Corona-Zeit hat es ja ebenfalls noch einmal in aller Krassheit gezeigt, dass Kinder in der modernen Arbeitswelt immer wieder nur als Störfaktor begriffen werden. Ohne viele Gedanken wurde die Hauptlast der Lockdowns auf die Familien abgeladen und erlebten viele Eltern (auch in sogenannten „systemrelevanten“ Berufen), dass sie auf einmal vor der Wahl standen, in Hartz IV zu gehen (die Leipziger Billigjobs lassen grüßen) oder ihre Kinder zu vernachlässigen, wenn Kitas und Schulen geschlossen waren.

Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat jetzt die SGB-II-Quoten für Kinder und Jugendliche in Deutschland Ende 2020 noch einmal neu berechnet.

Die Riesenkluft zwischen Bayern und Bremen

Mit Wertungen hält er sich – wie immer – zurück, wenn er schreibt:

„Ende 2020 reichten die SGB II-Quoten in der Altersgruppe unter 18 Jahre von 31,2 Prozent im Land Bremen bis 6,4 Prozent in Bayern. In der Altersgruppe unter 15 Jahre reichten die SGB-II-Quoten Ende 2020 von 32,3 Prozent im Land Bremen bis 6,7 Prozent in Bayern. Die SGB II-Quoten u3 (Kinder unter drei Jahre alt) reichten Ende 2020 von 33,2 Prozent im Land Bremen bis 6,7 Prozent in Bayern.

Die SGB-II-Quoten 3-u6 (drei bis unter sechs Jahre) reichten von 34,7 Prozent im Land Bremen bis 7,2 Prozent in Bayern. Die SGB-II-Quoten 6-u15 (sechs bis unter 15 Jahre) reichten von 31,0 Prozent im Land Bremen bis 6,5 Prozent in Bayern. Und die SGB II-Quoten 15-u18 (Jugendliche im Alter von 15 bis unter 18 Jahre) reichten von 26,2 Prozent in Berlin bis 4,8 Prozent in Bayern.“

Man merkt schon in der trockenen Aufzählung, dass von gleichen Lebensverhältnissen in Deutschland keine Rede sein kann. Und da geht der Riss nicht nur zwischen West und Ost, sondern zwischen dem reichen Bayern im Süden und dem armen Norden mit dem Stadtstaat Bremen.

Zwischen Erwerbslosigkeit und Billigjob

Was natürlich Gründe hat. Denn Großstädte (wie Bremen) sind nicht nur die Jobmotoren für ganze Regionen, die Arbeitssuchende aus nah und fern anlocken. Sie sind auch die Orte, wo sich die Dienstleister der Republik ansiedeln, die dann auch die ganzen oft genug prekären Dienstleistungsjobs anbieten.

Jobs, die meist Menschen ausüben, die sich eine Wohnung im Speckgürtel der Großstädte gar nicht leisten können, die Fahrerei mit eigenem Auto schon gar nicht. Sie leben zumeist in den Peripherie-Siedlungen der Großstädte, wo sich dann billige Beschäftigungsmodelle mit erhöhter Arbeitslosenquote treffen.

Weshalb Schröder natürlich auch Großstädte und Kreise extra auswertet. Denn München mit 10,8 Prozent Kindern und Jugendlichen in SGB-II-Familien liegt sichtlich deutlich über dem bayerischen Durchschnitt, auch wenn die Stadt im Vergleich mit den anderen Großstädten deutlich besser dasteht. Dresden mit 12,3 und Stuttgart mit 12,9 Prozent folgen.

Paul M. Schröder: „In den 15 Großstädten (einschließlich Region Hannover) wohnten Ende 2020 insgesamt 18,2 Prozent (2,502 Millionen) der 13,744 Millionen Kinder und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren. Je älter die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen, je geringer ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in diesen Großstädten wohnen. (…) Von den Kindern und Jugendlichen im Alter von unter 18 Jahren, die in Familien lebten, die auf SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Hartz IV) angewiesen waren, wohnten 29,1 Prozent in den 15 Großstädten (einschließlich Region Hannover).“ Ende 2019 waren es noch 28,5 Prozent. Der Anteil ist also im Corona-Jahr gestiegen.

Großstädte tragen die Folgen

„Anders als bei den Kindern insgesamt, nimmt dieser Anteil nicht mit dem Alter ab. Die durchschnittlichen SGB II-Quoten in der Summe der 15 Großstädte sind demzufolge wesentlich höher als die durchschnittlichen SGB II-Quoten in der ‚Bundesrepublik ohne Großstädte‘“, schreibt Schröder. „In der Altersgruppe unter 18 Jahre betrug die SGB II-Quote in den Großstädten Ende 2020 durchschnittlich 21,5 Prozent, in der ‚Bundesrepublik ohne Großstädte‘ 11,7 Prozent.“

Was natürlich daran liegt, dass viele ländliche Regionen sich zusehends entvölkern und die jungen Arbeitsuchenden in die Großstädte ziehen, wo sie Familien gründen. Gäbe es wirklich eine handfeste Politik für ländliche Regionen, wären die Zahlen ausgeglichener. Was eben auch heißt: Die sozialen Probleme ballen sich zusehends in den Großstädten und lassen dort logischerweise die Sozialetats anwachsen, also die Geldbudgets, die zur Bewältigung sozialer Probleme aufgewendet werden müssen.

Fachkräftemangel sorgt für leidliche Entspannung

Und das, obwohl die Wirtschaft nicht wirklich spürbar familienfreundlicher wird. Gerade jüngere Arbeitnehmer müssen oft mit niedrigen Löhnen und noch öfter mit befristeten Arbeitsverträgen vorlieb nehmen, wenn sie nicht gar bei einem der neuen StartUps landen, die ihr Geschäftsmodell ganz und gar auf immer flexiblen und mobilen jungen Arbeitnehmern aufgebaut haben.

„Entspannt“ wird die Lage nur dadurch, dass es in einigen Regionen längst einen akuten Fachkräftemangel in vielen Branchen gibt, sodass auch junge Leute in der Familiengründungsphase eher in leidlich gut bezahlte Anstellungsverhältnisse kommen. Dazu zählt auch Leipzig, das mit einer Quote von 18,4 Prozent Minderjähriger in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften noch unterm Durchschnitt der deutschen Großstädte liegt (dafür deutlich überm sächsischen Durchschnitt von 11,4 Prozent).

Kein reines Ostproblem

Noch größere Probleme, gerade Familien mit Kindern in den Arbeitsmarkt zu integrieren, haben inzwischen einige westdeutsche Städte. Man denke nur an die Großstädte im Ruhrpott, die ihren Transformationsprozess nach dem Ende vor allem der Schwerindustrie noch lange nicht bewältigt haben. In Duisburg sind 30,6 Prozent der Minderjährigen in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften registriert, in Essen 31,7, in Dortmund 29,5 Prozent.

Und dass Leipzig ganz und gar nicht die Spitze des Eisbergs im Osten ist, zeigt der Blick nach Halle, wo es 28 Prozent sind, oder nach Magdeburg, wo es 22 Prozent sind. Die Werte in den Landkreisen sind allesamt niedriger.

Im Landkreis Leipzig sind es zum Beispiel nur 9 Prozent und in Nordsachsen 10,8 Prozent. Deutschlandweit findet man im Grunde dasselbe Bild, das eben auch davon erzählt, dass Deutschland den europaweit größten Niedriglohnsektor hat. Und der zeigt seine Folgen vor allem in den Großstädten.

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