Was bedeutet das eigentlich, wenn eine Gesellschaft sich entsolidarisiert, ganze Bevölkerungsschichten in schlecht bezahlte Jobs abdrängt und damit auch schlechter ausgestattete Stadtquartiere, schlechtere Wohnungen, überlastete Schulen? Genau das, was deutschlandweit zu beobachten ist: Die Summen, die die Kommunen für die „Hilfen zur Erziehung“ ausgeben, steigen deutschlandweit. Nicht nur in Leipzig. Auch wenn die Leipziger Kosten atemlos machen.
„Hilfen zur Erziehung sind Reaktionen auf bestimmte Lebenslagen von jungen Menschen und ihren Familien, die vor allem durch sozioökonomische Verhältnisse (Armut) und deren Folgeerscheinungen bedingt sind. Dies reicht von schwierigen Lebenskonstellationen von Alleinerziehenden bis hin zum Transferleistungsbezug, eingeschränkter sozialer Teilhabe und mangelnder Bildungsaspiration“, beschreibt Leipzigs Familienbürgermeisterin Vicky Felthaus das Phänomen. Das durchaus – so schien es nach diversen Medienberichten – in Sachen Kindeswohlgefährdung im Corona-Lockdown eine neue Verschärfung erfahren haben könnte.Aber die Leipziger Zahlen unterstützen diese Vermutung erst einmal nicht, so Felthaus: „Entgegen der Annahmen gingen Kindeswohlmeldungen während der Pandemie zurück, die Bedarfe an Hilfen zur Erziehung pendelten sich in Leipzig, wenn auch auf relativ hohem Niveau, ein. Valide Prognosen zur zukünftigen Entwicklung von Kindeswohlgefährdungen sowie zu Bedarfen zu Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen in Folge der Pandemie liegen derzeit noch nicht vor.“
Bleibt also das riesige Arbeitsfeld, das Leipzig ja nach der Stadtratsentscheidung am Donnerstag, 22. Juli, zur integrierten Kinder- und Jugendhilfeplanung, mal völlig anders anpacken möchte. Nicht einfach abwarten, bis die Kinder und Jugendlichen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) aufschlagen und zur eigenen Sicherheit aus der Familie genommen werden müssen, sondern in einem integrierten Ansatz und präventiv.
Also auch schon bei den Eltern. Denn wenn das Ziel einer guten Jugendhilfe sein soll, dass die Kinder in ihre Familien zurückkehren können, dann brauchen zuallererst die Eltern echte Unterstützerangebote, um ihre Probleme gelöst zu bekommen, bevor sie in der Familie eskalieren.
Denn nur so tut sich überhaupt ein Weg auf, erstens die Fallzahlen innerhalb der „Hilfen zur Erziehung“ zu senken und damit auch die Kosten dafür wieder auf ein Maß zu bringen, das den Stadthaushalt nicht zu sprengen droht. Ganz zu schweigen davon, dass wirklich belastbare Familienangebote auch den Aufwand der Kommune senken und das Geld dafür frei wird, das Lebensumfeld der benachteiligten Familien zu verbessern.
Über die dramatisch gestiegenen Zahlen in den „Hilfen zur Erziehung“ hat ja der Stadtrat schon mehrfach debattiert. Und sie haben genau den Druck erzeugt, der vor vier Jahren die Erarbeitung eines integrierten Hilfekonzepts auf den Weg brachte.
Gab es in Leipzig vor zehn Jahren im Durchschnitt noch rund 1.800 Kinder und Jugendliche, die jeweils in Betreuung waren, so hat sich diese Zahl 2020 auf über 3.600 verdoppelt. Sie ist also deutlich stärker gestiegen als die Zahl der Minderjährigen insgesamt.
Entsprechend sind die Aufwendungen der Hilfen zur Erziehung deutlich angestiegen – von etwa 40 Millionen Euro im Jahr 2010 auf rund 149,7 Millionen Euro im Jahr 2020.
Bei den stationären Hilfen zur Erziehung, die die kostenintensivsten Hilfen darstellen, stiegen die Kosten im Zeitraum von 2011 bis 2020 um etwa 74,4 Millionen Euro an.
Im gleichen Zeitraum stiegen die Aufwendungen für ambulante Hilfen um etwa 26,4 Millionen Euro.
Aber es kommt auch hinzu: Je später man eingreift, umso höher ist der Aufwand. Die durchschnittlichen Fallkosten beliefen sich im Jahr 2020 auf 39.923 Euro. Dies stellt eine deutliche Steigerung zu den Jahren 2014 (26.870 Euro, 48,6 % Steigerung) und 2010 (22.242 Euro, 79,5 % Steigerung) dar.
Die Kurve ist auch deshalb interessant, weil im gleichen Zeitraum die Zahl der Arbeitslosen und damit auch die der Bedarfsgemeinschaften deutlich sank. Alle Zahlen erzählen von einem richtigen Wirtschaftsaufschwung in Leipzig. Auch die Zahl der Kinder bis 15 Jahre, die Sozialhilfe empfingen, sank deutlich.
Das will also so überhaupt nicht passen zum massiven Anstieg der Hilfen zur Erziehung. Aber es sind eben nicht nur Kinder aus finanziell schwachen Familien, die in Nöte geraten. Der Druck auf Eltern lässt ja nicht unbedingt nach, wenn sie wieder in Arbeit kommen.
Oft bleibt dann erst recht keine Zeit, sich um die Kinder und die Partnerschaft zu kümmern, bleiben auch die Existenznöte, die ja nicht aufhören, solange man nicht zum gutverdienenden oberen Drittel gehört. Und auch dort gibt es Probleme mit Konfliktbewältigung, Sucht und Gewalt.
Man ahnt eher nur, wie komplex das Thema ist und wie Kinder und Jugendliche darunter leiden, dass der soziale Druck in unserer Gesellschaft immer weiter zunimmt.
Dem kann man nur mit einem integrativen Ansatz begegnen, niedrigschwelligen Angeboten auch für Eltern, die sich sonst schämen würden, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, und einem Verständnis dafür, wie sehr gerade Familien in einer auf Wettbewerb getrimmten Gesellschaft unter Stress gesetzt sind, der sich ganz am Schluss natürlich auf die Schwächsten in dieser Reihe entlädt – die Kinder.
Und deshalb ist es auch falsch, nur vorwurfsvoll nach Grünau, Paunsdorf oder in den Leipziger Osten zu schauen: Die Probleme köcheln auch dort, wo die heile Wettbewerbswelt scheinbar noch in Ordnung ist.
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