In ihrem Beitrag zur „Bevölkerungsentwicklung in Leipzig und seinen Ortsteilen 2020“ im neuen Quartalsbericht 4/2020 betrachtet Ulrike Hofmann nicht nur das gesamtstädtische Bevölkerungswachstum. Denn Leipzig ist ja auch im Corona-Jahr 2020 weiter gewachsen. Sie schaut sich auch die Ortsteile genauer an. Und da ist das stärkste Wachstum diesmal erstaunlicherweise in den Norden gewandert.
Andere Zeitungen machen dann Quatsch-Hitlisten daraus, als wären die Ortsteile irgendwie in einem Wachstumswettbewerb. Dass 2020 Ortsteile wie Möckern (+ 477 Einwohner), Altlindenau (+ 336) und Schönau (+ 278) am stärksten wuchsen, hat eher nichts mit ihrer Attraktivität zu tun, sondern mit der simplen Tatsache, dass hier noch am ehesten eine Wohnung zu finden war oder auch das ein oder andere Bauprojekt wie am Lindenauer Hafen bezugsfertig wurde.Eine Stadt, in der die Ortsteile tatsächlich im Wettbewerb miteinander stünden um Attraktivität und Zuzug, sähe anders aus. Dann würden sich Vermieter und Verwaltung gemeinsam anstrengen, hier die besten Wohnbedingungen für alle Einkommensschichten zu schaffen. Aber in Deutschland hat Privateigentum einen durch nichts zu erschütternden Vorrang. Und so zählen weder Mieter noch Attraktivität, sondern vor allem Rendite und Verkaufswert.
Wie können eigentlich Städte funktionieren, in denen das Denken derart auf den Kopf gestellt ist?
Für die Zuzugswilligen jedenfalls wird das Ganze zu einem Suchen nach Lücken und immer abgelegeneren Angeboten. Selbst dann, wenn sie eigentlich gern da wohnen würden, wo die Stadt wirklich alle Infrastrukturen kompakt vorhält.
Deswegen unterscheiden sich die beiden Karten, die Ulrike Hofmann ihrem Beitrag beigegeben hat. „40 Ortsteile hatten am 31.12.2020 mehr Einwohner als ein Jahr zuvor, davon verzeichneten 19 Ortsteile einen Bevölkerungszuwachs von mehr als 100 Personen. Wie bereits im Vorjahr wiesen die Ortsteile Möckern (+477 Personen) sowie Altlindenau (+336 Personen) die größte Bevölkerungsentwicklung auf“, schreibt sie zu dieser aktuellen Entwicklung.
„Der Zuwachs von 278 Personen im Ortsteil Schönau speist sich vorwiegend aus Zuzügen in das neu entstandene Wohnquartier am Lindenauer Hafen. Der Trend der Verlagerung des Einwohnerzuwachses von den zentralen Ortsteilen in innenstadtfernere Ortsteile mit verkehrsgünstiger Anbindung setzte sich fort. Von den 23 Ortsteilen mit negativer Einwohnerentwicklung zeigten die Ortsteile Grünau-Ost (-135 Personen), Lößnig (-125 Personen) und Zentrum-Südost (-115 Personen) die höchsten Bevölkerungsrückgänge.“
Womit sie das Problem ja benannte: Wer heute Wohnraum sucht, muss immer weiter an den Rand der Stadt ausweichen. Und verliert damit nicht nur die Nähe zum Stadtzentrum. Denn hier werden alle Wege weiter – die zum Einkaufen, zur Kita, zur nächsten Schule und erst recht die zur Arbeit oder medizinischer Versorgung. Die Probleme der verfügbaren ÖPNV-Anbindungen und Radwege haben wir ja schon mehrfach benannt.
Wem es gelingt, innenstadtnah zu wohnen, bekommt all diese Dinge quasi direkt vor der Haustür. Und genau das wollen eigentlich die meisten Leipziger/-innen. Das macht nämlich die Einwohnerentwicklung auf Ortsteilebene seit 2010 sichtbar.
Ulrike Hofmann: „Im Zehn-Jahres-Trend erkennt man deutlich, dass sich der Bevölkerungsanstieg stark auf innerstädtische Ortsteile konzentrierte. Die größten Einwohnerzuwächse hatten Altlindenau (+5.967 Personen), Volkmarsdorf (+5.581), Reudnitz-Thonberg (+5.511), Plagwitz (+4.433), Möckern (+4.234) und Neustadt-Neuschönefeld (+4.192). Allein diese sechs Ortsteile wiesen fast ein Drittel des Gesamtwachstums von 96.632 Personen auf.“
Nur darf man nicht vergessen: Vor zehn Jahren hatten alle diese Ortsteile noch einen geradezu formidablen Leerstand. Sie standen quasi mit offenen Haustüren bereit, als sich die ersten westlichen Ortsteile gefüllt hatten und die Wohnungssuchenden nun auswichen auf Ortsteile, die bislang kaum vom Wachstum profitiert hatten.
Gerade im Leipziger Osten war noch richtig viel Freiraum. Das hat sich inzwischen geändert. Davon erzählt ja die Entwicklung im Jahr 2020. Die Ortsteile am Rand füllen sich zunehmend. Und das wird auch den Druck auf die dort befindlichen – oder eben fehlenden – Infrastrukturen erhöhen. Was ja unter anderem in der Diskussion um den Nahverkehrsplan 2019 deutlich wurde.
Und es deutet sich an, dass die seit Jahren diskutierten neuen Wohnquartiere im Stadtinneren wohl um Jahre zu spät kommen werden. Und möglicherweise auch nicht den Bedarf abdecken. Denn dass so viele Einwohner/-innen jetzt eher in die Randlage ausweichen, hat ja auch damit zu tun, dass Einkommen und Miethöhe irgendwie noch unter einen Hut gebracht werden müssen.
Schon seit 2011 ist die Wohnfläche pro Einwohner stetig gesunken. Kamen damals noch 44,5 Quadratmeter Wohnraum auf jeden Einwohner, sank der Wert bis 2019 auf 40,0 Quadratmeter, also etwa auf den Stand von 1997. Die Zeit der üppigen Flächenzuwächse ist vorbei. Wer mit kleinem Einkommen in Leipzig über die Runden kommen muss, versucht die Wohnfläche möglichst kleinzuhalten.
Sofern das geht. Aber es fehlen ja nicht nur preisgünstige Wohnungen für Familien, sondern auch für Singles. Hier findet also gar kein Rennen zwischen den Ortsteilen statt, sondern eine permanente Ausweichbewegung derer, die irgendwo nach einer noch bezahlbaren Wohnungen suchen.
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