Die EU-Kommission hatte 2019 die Bรผrger in รผber 80 europรคischen Stรคdten nicht nur nach ihrer Lebenszufriedenheit gefragt, sondern auch konkrete Aussagen zum stรคdtischen Leben abgefragt. Auch das ein Topos, bei dem Leipzigs Statistiker/-innen ein โ€žรผberwiegend positives Bild von der Stadtโ€œ erkennen kรถnnen. Und trotzdem sieht man, wo es gewaltig klemmt.

โ€žBesonders ins Auge fรคllt dabei der deutlich gestiegene Anteil derer, die angeben, dass es leicht sei, in Leipzig eine Arbeitsstelle zu finden (+20 Prozentpunkte im Vergleich zu 2015)โ€œ, schreibt Falk Abel in der Auswertung der Befragung.โ€žBei allen auch schon 2012 und 2015 abgefragten Aussagen liegt Leipzig aktuell unter den Top-20-Stรคdten. Bei der Aussage ,Im Allgemeinen kann man den Menschen in der Nachbarschaft trauenโ€˜ liegt Leipzig nun auf Platz 8 unter den 83 Stรคdten bzw. Regionen in Europa. Die Plรคtze 1 bis 7 belegen dabei ausschlieรŸlich Stรคdte in skandinavischen Lรคndern. Einen besonders groรŸen Sprung macht Leipzig auรŸerdem beim Ranking bezogen auf die Aussage ,Es ist leicht, eine Arbeitsstelle zu findenโ€˜. Mit Platz 19 von 83 liegt die Stadt hier mittlerweile im obersten Viertel der befragten Stรคdte bzw. Stadtregionen und lรคsst damit Stรคdte wie Wien, Paris, Amsterdam und Brรผssel zum Teil deutlich hinter sich.โ€œ

Schรถn formuliert. Aber genau da hat die Befragung ihre Grenzen. Denn tatsรคchlich wurde nur gerade mal ein Drittel der groรŸen Stรคdte abgefragt. In Deutschland waren das Berlin, Mรผnchen, Essen, Dortmund, Hamburg, Rostock und Leipzig. Und wรคhrend sich die Stรคdte, in denen man relativ leicht eine bezahlbare Wohnung findet, eher in Griechenland, Italien und Finnland befinden, hat es die deutsche Politik nicht geschafft, die GroรŸstรคdte vor einer dramatischen Verknappung des bezahlbaren Wohnraums zu bewahren.

In den Kรถpfen der vom โ€žMarktโ€œ begeisterten Politiker hat die Erkenntnis, dass Wohnen eigentlich ein Menschenrecht sein sollte, bislang keinen Platz. Ihnen ist das Gewinnstreben groรŸer Immobilienkonzerne wichtiger als die Gewรคhrleistung eines MindestmaรŸes an bezahlbaren Wohnungen fรผr all jene Menschen, die entweder auf staatliche Beihilfen angewiesen sind oder in den Millionen Biligjobs arbeiten โ€“ und das sind allein in Deutschland 7 Millionen Menschen.

Wenn 54,8 Prozent der Befragten in Leipzig sagen, dass es leicht sei, eine bezahlbare Wohnung zu finden, dann ist das unter den erfassten deutschen Stรคdten tatsรคchlich noch ein ausgesprochen guter Wert. In den anderen Stรคdten hat sich die Lage schon lรคngst dramatisch verschรคrft. In Essen sagen das nur noch 38,9 der Befragten, in Dortmund 35,4 und auch in Rostock ist es schon deutlich schwerer, etwas Bezahlbares zu finden. Dort sagen nur noch 26,8 Prozent, dass es leicht sei.

Von Hamburg (6,4 %), Mรผnchen (6,2 %) und Berlin (12,5 %) muss man gar nicht mehr reden. Das Wort โ€žengโ€œ fรผr den dortigen Wohnungsmarkt ist schlicht untertrieben. Es รผberrascht keinesfalls, dass Mรผnchen und Hamburg zur europรคischen Spitzengruppe gehรถren, wenn es um einen vรถllig aus dem Lot geratenen Wohnungsmarkt geht.

Und man versteht die Berliner besser, wenn sie mittlerweile auch Enteignungen privater Wohnungskonzerne ins Gesprรคch bringen.

Arbeitsplรคtze โ€“ aber nicht immer hochbezahlte

Denn dieser knappe Wohnungsmarkt trifft nun einmal Menschen mit unterschiedlichen Einkommen vรถllig verschieden. Wer kein Spitzengehalt bekommt, hat im Grunde keine Chance mehr, in solchen Stรคdten eine Wohnung zu finden. Der ist zum Pendeln verdammt. Und das, obwohl diese Stรคdte tatsรคchlich die wirtschaftlichen Motoren ihrer jeweiligen Region sind.

Leipzig ist zwar stolz darauf, mittlerweile auf Platz 19 aufzutauchen bei der Frage, ob es leicht ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Aber gerade Mรผnchen (72,7 %) und Hamburg (70,3 %) liegen hier ebenfalls in der europรคischen Spitzengruppe. Logisch, dass die tรคglichen Pendlerstrรถme das Stadtbild dominieren.

Was derzeit die Rolle des Automobils stabilisiert, denn keine der Stรคdte hat ein derart ausgebautes ร–PNV-Netz, das in der Lage wรคre, die kompletten Pendlerstrรถme aufzunehmen. Im Gegenteil: In Mรผnchen รคchzt das S-Bahn-Netz unter einer permanenten รœberlastung. So gesehen ist Leipzig โ€“ sogar im Vergleich mit Berlin โ€“ noch in einer halbwegs komfortablen Lage, auch wenn hier ebenso die Unfรคhigkeit deutscher Politik zuschlรคgt, Entwicklungen frรผhzeitig zu erfassen und gegenzusteuern.

Die deutschen GroรŸstรคdte sind ja nicht รผber Nacht in diese Zwickmรผhle geraten, sondern seit 20 Jahren sehenden Auges hineingerauscht. Die Erkenntnis der 1920er Jahre, dass man der Wohnungsnot allein mit preiswerten Wohnquartieren gerade fรผr die schlechter Bezahlten begegnen kann, wurde einfach vom Tisch gewischt. Auch in Sachsen hat man lieber das Wohneigentum des Mittelstandes gefรถrdert, als wirklich tatkrรคftig in den gefรถrderten Wohnungsbau wieder einzusteigen, als aus Leipzig und Dresden die ersten Signale kamen.

Sicherheitsgefรผhl und Polizei

Dabei sind die GroรŸstรคdte auch deshalb attraktiv, weil sie Vielfalt und Offenheit bieten. Und โ€“ im Fall von Leipzig โ€“ als recht sicher erlebt werden. Falk Abel: โ€žBei den neuen Aussagen zum Sicherheitsgefรผhl in der Stadt geben jeweils mehr als zwei Drittel der Befragten an, dass sie sich sicher fรผhlen (nachts in der Stadt: 71 Prozent, nachts in der Wohngegend: 86 %). Im europรคischen Vergleich liegt Leipzig allerdings nur auf Platz 59 (Sicherheitsgefรผhl nachts) bzw. 30 (Sicherheitsgefรผhl tagsรผber).โ€œ

Die abgefragten Sicherheitsaspekte. Grafik: Stadt Leipzig, Quartalsbericht 4/2020
Die abgefragten Sicherheitsaspekte. Grafik: Stadt Leipzig, Quartalsbericht 4/2020

Dass dieses Sicherheitsgefรผhl auch viel mit der medialen Berichterstattung (bzw. Angstmache) zu tun hat, zeigt die Frage nach der tatsรคchlichen Betroffenheit von Kriminalitรคt.

โ€ž82 Prozent der Leipzigerinnen und Leipziger geben an, dass sie der Polizei in ihrer Stadt vertrauen. Im europaweiten Vergleich ist dies ein mittlerer Platz. Das hรถchste Vertrauen in die Polizei besteht im รœbrigen in Zรผrich (97 %), das niedrigste in Athen (33 %)โ€œ, schreibt Falk Abel.

โ€žIn Leipzig geben 81 Prozent der Befragten an, dass weder sie selbst noch ein Mitglied ihres Haushalts in den letzten 12 Monaten Opfer eines Diebstahls geworden ist. In 58 anderen Stรคdten lag dieser Anteil noch hรถher, sodass Leipzig hier knapp im hinteren Drittel rangiert. Am geringsten ist die Betroffenheit in Valletta (Malta, 94 Prozent), am hรถchsten in Skopje (Nordmazedonien, 56 Prozent). Schwerwiegendere Delikte wie Angriffe oder รœberfรคlle sind in Leipzig im Vergleich zu den รผbrigen europรคischen Stรคdten hingegen seltener.โ€œ

Natรผrlich wurde nicht gefragt, warum 18 Prozent der Polizei kein Vertrauen entgegenbringen. Waren es schlechte Erfahrungen? Gehรถrt man zu einer diskriminierten Gruppe (Stichwort: racial profiling)? Hat man erlebt, dass eine Anzeige keinen Erfolg brachte? Immerhin hat ja Leipzig zehn lange Jahre einer personellen Unterbesetzung der Polizei hinter sich. Und wirklich auf den notwendigen Stand aufgefรผllt ist die Polizei bis heute nicht. Und solche Dinge wie das โ€žFahrradgateโ€œ und die jรผngste Geschichte um verschwundene Munition haben dem Ruf der Polizei nicht wirklich gut getan.

Transparenz und vermutete Korruption

Aber da ist ja auch noch das kleine Stichwort Transparenz. Denn wer genau hinschaut, merkt, wie schwer sich deutsche Politik mit Transparenz tut. Und dazu gehรถren nicht nur die jรผngsten Skandale um korrupte CDU-Abgeordnete.

Auch Leipzigs Verwaltung tut sich meist gerade an den Punkten, bei denen es um die gehรผteten Geheimnisse schwergewichtiger Wirtschaftsakteure geht, schwer, auch nur ansatzweise Transparenz herzustellen.

Und dass Leipzigs Verwaltung da ein Problem hat aus Sicht der Bรผrger, bestรคtigt die Umfrage. โ€žVergleichsweise positiv fรคllt das Bild der Leipzigerinnen und Leipziger zur Stadtverwaltung aus. Bei der Frage zur schnellen und unkomplizierten Hilfe belegt Leipzig einen Platz unter den ersten zehn Stรคdten/Regionen europaweit. Auch bei der Integritรคt der stรคdtischen Verwaltung ist Leipzig im ersten Drittel (Platz 21)โ€œ, schreibt Falk Abel.

Beurteilung der Stadtverwaltung. Grafik: Stadt Leipzig / Quartalsbericht 4/2020
Beurteilung der Stadtverwaltung. Grafik: Stadt Leipzig / Quartalsbericht 4/2020

Mit der Integritรคt meint er die Aussage โ€žEs gibt keine Korruption in der Stadtverwaltungโ€œ. Aber der Platz 21 trรผgt, denn dahinter stecken nur 65 Prozent Ja-Antworten. Was eben auch bedeutete, dass 35 Prozent der Befragten der Verwaltung tatsรคchlich so etwas wie Korruption zutrauen. Der Grat ist schmal, das wissen die Verwaltungsmitarbeiter. Ab wann kippt ein berechtigtes Interesse โ€žder Wirtschaftโ€œ in eine Vorteilsnahme? Drรผcken Beamte ein Auge zu, wenn der Antragsteller nur genug Druckmittel hat? Oder mit Arbeitsplรคtzen lockt oder mit netten Folgeauftrรคgen?

Ein Thema, das mit der nรคchsten Aussage direkt korrespondiert: โ€žDie Ablรคufe bei der Stadtverwaltung sind unkompliziert und einfach zu verstehen.โ€œ Dem haben ebenfalls nur 64 Prozent der Befragten zugestimmt, was dann in der Liste Rang 29 ergab. In vielen anderen Stรคdten scheint es mit der Transparenz also noch viel heftiger im Argen zu liegen.

Gerade dieser Fragekomplex deutet an, dass Europas Stรคdte gerade beim Thema Transparenz umdenken und lernen mรผssen. Denn mit ihnen haben die Bรผrger jeden Tag zu tun. Sie schauen der Verwaltung quasi beim Arbeiten zu und merken es sehr schnell, wenn herumgedruckst wird und Dinge nicht mehr erklรคrt werden. Dann wรคchst das Misstrauen. Und ob Politik Vertrauen gewinnt, das entscheidet sich genau hier: in den Stรคdten. An den Orten, wo auch in Leipzig 99 Prozent der Befragten sagen, dass sie zufrieden sind, hier zu wohnen.

Die Lรผcke zwischen dieser Zufriedenheit und dem sichtbaren Misstrauen in Verwaltungshandeln sollte man ernst nehmen. Abel lobt zwar die vielen vorderen Plรคtze, die Leipzig belegt und merkt quasi mahnend an: โ€žLediglich bei der subjektiven Bewertung der Bezahlbarkeit des ร–PNV belegt Leipzig einen der letzten Plรคtze.โ€œ Aber selbst dieses in der Regel รผber die Kรถpfe der Betroffenen hinweg entschiedene Thema erzรคhlt von Transparenz bzw. Intransparenz im Verwaltungshandeln.

Denn nach einem hat die EU-Kommission natรผrlich nicht gefragt โ€“ wie kรคme sie auch auf so einen Gedanken? โ€“, nach der Klimavertrรคglichkeit der Stรคdte und was die Verwaltungen dabei tun. Und der Umgang mit dem ร–PNV und seinen Nutzern ist dabei ja ein ganz zentrales Thema. Genauso zentral wie das Angebot an bezahlbaren Wohnungen fรผr alle, die unterm Durchschnitt verdienen. Jener gar nicht so kleine Gruppe, die gelernt hat, wie man sparsam lebt und ohne Puffer.

Danach hat die EU-Kommission nรคmlich wieder gefragt. Und das sagt mehr als die Frage nach Armut, wenn 15 Prozent der Befragten bestรคtigen, dass sie โ€žwรคhrend der letzten 12 Monate am Ende des Monats Schwierigkeiten beim Bezahlen ihrer Rechnungenโ€œ hatten. Das dรผrfte es in einer reichen Gesellschaft, in der Menschen auskรถmmlich fรผr ihre Arbeit bezahlt werden, eigentlich nicht geben. Gibt es aber doch. Man blendet es nur leider viel zu oft aus im falschen Denken รผber Wirtschaft und Systemrelevanz.

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