Nein, Armut ist nicht relativ. Aber wie kann man sie statistisch darstellen? Die Statistiker versuchen es mit errechneten Quoten. Denn natรผrlich wird das Armsein greifbarer, wenn man weiรŸ, was in einer Stadt wie Leipzig das Normaleinkommen ist. Und wenn man das dann noch mit den anderen 14 groรŸen Stรคdten in Deutschland vergleicht, bekommt man zumindest eine Ahnung davon, ob Leipzig nun besonders arm ist oder vielleicht sogar ganz gut dasteht.

Den entsprechenden Beitrag im neuen Quartalsbericht Nr. 4/2020 hat Dr. Andrea Schultz, Abteilungsleiterin Stadtforschung im Amt fรผr Statistik und Wahlen, geschrieben. Und wie schon in vorhergehenden Quartalsberichten konnte sie auf eine Erhebung des Bundesinstituts fรผr Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zurรผckgreifen, die die Armuts- und Reichtumsquoten fรผr die 15 grรถรŸten deutschen Stรคdte ermittelt hat.Vor zehn Jahren noch hรคtte man Leipzig ganz am Ende der Liste gefunden. Da galt Leipzig als Armutshauptstadt und lag auch deutlich hinter Dresden und Berlin.

Manchmal braucht man solche Statistiken, um zu sehen, wie viel sich da eigentlich verรคndert hat. Denn wรคhrend Leipzig ab 2010 spรผrbar Teil hatte am wirtschaftlichen Aufschwung, leiden gerade Ruhrgebietsstรคdte immer stรคrker darunter, dass sie ganze Bevรถlkerungsgruppen nicht mehr integrieren kรถnnen, die Arbeitslosenquote steigt und damit auch die Armutsquote.

Ein Blick nur auf Leipzig zeigt ein durchwachsenes Bild. Wรคre da nicht der verknappte Wohnungsmarkt mit seinen ausufernden Neumieten, wรผrde es sich fรผr die meisten Leipziger/-innen ganz gut leben lassen in dieser Stadt, deren Lebensqualitรคt auch im europaweiten Vergleich als hoch eingeschรคtzt wird. Dazu gibt es eine eigene Auswertung im Quartalsbericht, zu der wir in einem spรคteren Beitrag noch kommen.

Armuts- und Reichstumsquoten der 15 grรถรŸten deutschen Stรคdte. Grafik: Stadt Leipzig, Amt fรผr Statistik und Wahlen
Armuts- und Reichtumsquoten der 15 grรถรŸten deutschen Stรคdte. Grafik: Stadt Leipzig, Amt fรผr Statistik und Wahlen

โ€žLegt man nun regionale (lokale) MaรŸstรคbe an, gilt beispielsweise in Leipzig als armutsgefรคhrdet, wer weniger als 955 Euro an Nettoรคquivalenzeinkommen generiert. Als einkommensreich werden Leipziger/-innen definiert, deren Nettoรคquivalenzeinkommen รผber 3.184 Euro liegt. Die Differenz zwischen Arm und Reich fรคllt mit 2.229 Euro vergleichsweise gering aus, da das Einkommensniveau insgesamt geringer ist als im Bundesschnittโ€œ, schreibt Andrea Schultz.

Das sind alles Zahlen, die eigentlich zum alten Berliner Werbespruch passen wรผrden: โ€žarm aber sexyโ€œ. Wรคre da nicht der wilde Preisauftrieb beim Wohnen, der so gar nicht zum mageren sozialen Wohnungsbau passen will. Aber der Vergleich zeigt, dass Leipzig gerade auf demselben Weg ist, den westdeutsche Stรคdte schon gegangen sind, wo Immobilienbesitzer schon seit Jahren entdeckt haben, dass man gerade in diesen Stรคdten, wo alle Leute hรคnderingend nach Wohnungen suchen, die Mietpreise deutlich anheben und damit richtig Profit machen kann.

Was zuallererst jene aus der Stadt vertreibt, die es sich รผberhaupt leisten kรถnnen, umzuziehen โ€“ die sogenannte Mittelschicht. Mit dem Ergebnis, dass Arme und Reiche รผberproportional in der GroรŸstadt zurรผckbleiben โ€“ die ersten meist unter beengten und รผberteuerten Verhรคltnissen, aber dringend auf die Nรคhe zum schlecht bezahlten Job angewiesen. Die anderen stolz darauf, sich die beste Lage in der begehrten GroรŸstadt aussuchen zu kรถnnen.

Und so klaffen in Mรผnchen und Stuttgart die Differenzen zwischen den Armen und Reichen noch deutlicher auseinander als in Leipzig, hier mit 3.112 Euro, dort mit 2.951 Euro. Beides Zeichen fรผr sich verschรคrfende Gegensรคtze, wรคhrend die Mittelschicht, die es sich leisten kann, in den Speckgรผrtel zieht.

Nach dieser Berechnung hat Leipzig eine Armuts(gefรคhrdungs)quote von 17,2 Prozent und eine Reichenquote von 8,3 Prozent. Reichtum wird hier statistisch definiert: Diese Menschen verdienen das Doppelte des vor Ort ermittelten Medianeinkommens.

Andererseits sind die Reichen in Mรผnchen natรผrlich deutlich reicher als die Reichen in Leipzig.
Das braucht also den Vergleich der 15 Stรคdte auf Grundlage des โ€žNationalkonzeptsโ€œ, wie es die Statistiker nennen: Der bundesdeutsche Einkommensmedian wird hier zugrunde gelegt, was natรผrlich dazu fรผhrt, dass fรผr Leipzig keine Armutsquote von 17,2 Prozent ermittelt wird, sondern eine von 22,7 Prozent.

Das klingt erst einmal wie eine Verschlechterung, ist aber keine, denn noch vor zehn Jahren lag Leipzig hier in der Spitzengruppe mit einer Quote nahe 30 Prozent. Auch im BundesmaรŸstab ist die Armuts(gefรคhrdungs)quote in Leipzig gesunken โ€“ parallel mit der Arbeitslosigkeit und dem Abbau vieler prekรคrer Beschรคftigungen. Die Durchschnittseinkommen stiegen und die Gruppe der auf soziale Beihilfe Angewiesenen schmolz, wรคhrend die Zahl der Beschรคftigten in Tausenderschritten anstieg.

Etwas, was einige westdeutsche Stรคdte in dieser Weise nicht geschafft haben, weshalb heute GroรŸstรคdte wie Bremen (24,5 Prozent), Dortmund (24,7 Prozent), Duisburg (28,5 Prozent) und Nรผrnberg (23,1 Prozent) bei der Armutsquote vor Leipzig liegen.

Der Wohnstatus der verschiedenen Einkommensgruppen. Grafik: Stadt Leipzig, Amt fรผr Statistik und Wahlen
Der Wohnstatus der verschiedenen Einkommensgruppen. Grafik: Stadt Leipzig, Amt fรผr Statistik und Wahlen

Und das nach dem Nationalkonzept. Diese Stรคdte haben deutlich mehr armutsgefรคhrdete Menschen als Leipzig. Andrea Schultz weist auch darauf hin, dass die GroรŸstรคdte prinzipiell hรถhere Armutsquoten als die lรคndlichen Regionen haben. Der bundesdeutsche Wert liegt zum Beispiel bei 15,9 Prozent.

Aber da spรผrt man wieder den Mittelstands-Effekt, denn die Gutverdienenden kรถnnen sich nicht nur leisten, auรŸerhalb der teuren GroรŸstรคdte zu wohnen, sie kรถnnen sich auch mehr Mobilitรคt leisten. Denn Mobilitรคt ist eben nicht nur eine Klimafrage, sondern auch eine Einkommensfrage.

รœberdurchschnittlich sind auch die Reichtumsquoten in der Stadt, stellt die Statistikerin fest. Wรคhrend 7,9 Prozent der Deutschen als einkommensreich gelten (nicht zu verwechseln mit Reichtum an Besitz), erreichen Stรคdte wie Frankfurt, Dรผsseldorf, Mรผnchen und Stuttgart zweistellige Quoten an Hochverdienern. Das sind Menschen, die sich das Wohnen in den attraktiven Stรคdten nicht nur leisten kรถnnen, sondern die auch die hier (von der Gemeinschaft geschaffenen) Vorteile zu schรคtzen wissen. Nur so als kleine Anmerkung, wie in Deutschland selbst รผber die Wohnkosten gemeinsamer Reichtum umverteilt wird.

Leipzig hat nach der Statistik eine Reichtumsquote von 5,5 Prozent, Zeichen dafรผr, dass es hier eindeutig nicht so viele hochbezahlte Jobs gibt wie in Mรผnchen (19,7 Prozent) oder Frankfurt (14,2 Prozent). Noch weniger Hochverdiener hat nur noch Duisburg mit 3,3 Prozent.

Was dann zwischen Armen und Reichen รผbrig bleibt, nennen die bundesdeutschen Statistiker dann Mittelschicht, obwohl gerade hier erst die richtigen Unterschiede beginnen. Denn in Leipzig gehรถrt man schon mit Mindestlohn zur mittleren Mittelschicht.

Andrea Schultz hat zwar auch noch die regionale Reichtumsquote von 8,3 berechnet, was dann sogar mehr wรคre als in Dresden mit 7,0 Prozent. Aber der Blick auf den nationalen Vergleich zeigt, dass gerade an dieser Stelle der lokale Fokus trรผgt: Denn dort hat Dresden mit 6,2 Prozent eine deutlich hรถhere Quote. Was ja einerseits bedeutet, dass das deutlich niedrigere Einkommensniveau vorgaukelt, Leipzig habe (damit im Vergleich) mehr Reiche. Zum anderen heiรŸt es eben, dass Dresden โ€“ auch durch die Anwesenheit der Staatsregierung โ€“ deutlich mehr hochbezahlte Arbeitsplรคtze hat.

Dass es bei der ganzen Sache immer um Arbeit und Einkommen geht, betont die Autorin dann in der Zusammenfassung: โ€žObwohl Personen in allen Erwerbssituationen von Armut betroffen sein kรถnnen, schรผtzt Erwerbstรคtigkeit in vielen Fรคllen vor einer Armutsgefรคhrdung, denn der Anteil Erwerbstรคtiger liegt im Bereich der Mittelschicht mit 66 Prozent doppelt und im Bereich der einkommensreichen Bevรถlkerung mit 94 Prozent dreimal so hoch.

Reichtum oder auch nur ein ganz normales Einkommen hรคngen also direkt davon ab, ob ein Mensch eine gut bezahlte Arbeit findet oder nicht. Und die hohen Einkommen รคndern auch die Weltsicht und damit die Sicht auf das, was als normal gesehen wir. Andrea Schultz: โ€žAnhand des Wohnstatus kann abgelesen werden, dass Vermรถgen รผber Wohneigentum am hรคufigsten bei der einkommensreichen Bevรถlkerung vorhanden ist. 42 Prozent von ihnen leben im eigenen Haus oder der Eigentumswohnung. In der Mittelschicht ist selbstgenutztes Wohneigentum nur bei 16 Prozent vorhanden, in der armutsgefรคhrdeten Bevรถlkerung dagegen kaum existent (6 Prozent).โ€œ

Die Eigenheimdebatte ist also eine Debatte der Gutverdiener, jener Menschen, die so viel verdienen, dass sie sich Wohneigentum รผberhaupt leisten kรถnnen. Die Geringverdiener kommen aus dem Mietstatus in der Regel nie heraus und leiden deshalb gleich doppelt unter Mietsteigerungen.

Und genauso erweist sich das Thema โ€žAltersvorsorgeโ€œ als ein reines Reichenthema, denn auch dafรผr braucht man frei verfรผgbares Geld, das man ansparen kann. Fรผr Gering- und Leipziger Normalverdiener meistens nicht denkbar. โ€žNur 14 Prozent der Armutsgefรคhrdeten (ohne Studierende und Schรผler/-innen) legen regelmรครŸig Geld fรผr das Alter zurรผck, weitere 9 Prozent ab und zu. Die รผberwiegende Mehrheit (76 Prozent) der armutsgefรคhrdeten Personen kann somit keine Vorsorge fรผr das Alter betreibenโ€œ, schreibt Andrea Schultz.

โ€žGanz anders sieht die Situation in der einkommensreichen Leipziger Bevรถlkerung aus. 77 Prozent legen regelmรครŸig Geld zurรผck, 3 Prozent gelegentlich. In der Mittelschicht kann ungefรคhr jede/-r Zweite (regelmรครŸig bzw. ab und zu) etwas zurรผcklegen.โ€œ

Was ja auch bedeutet, dass jene, die sowieso schon eine hรถhere Rente zu erwarten haben, auch noch extra Geld fรผrs Alter zurรผcklegen kรถnnen. Da stimmt so einiges in den Gleichgewichten in Deutschland nicht.

Und da kommt dann das Corona-Jahr noch obendrauf, das vor allem jene Einkommensgruppen hart getroffen hat, die vorher schon knapp bei Kasse waren. Andrea Schultz: โ€žAuffรคllig hoch ist der Anteil Solo-Selbststรคndiger in der Gruppe der Armutsgefรคhrdeten. 18 Prozent der armutsgefรคhrdeten Berufstรคtigen gehen einer freischaffenden Tรคtigkeit nach. In der Mittelschicht bzw. den einkommensreichen Personen liegt ihr Anteil nur bei 6 bzw. 5 Prozent. Ebenfalls รผberdurchschnittlich hoch ist der Anteil ungelernt bzw. angelernt Tรคtiger (16 Prozent) und Auszubildender (13 Prozent) in der Gruppe der armutsgefรคhrdeten Berufstรคtigen.โ€œ

Die Autorin zum Schluss: โ€žZudem kann anhand des Gruppenvergleichs mit Leipziger Daten der Kommunalen Bรผrgerumfrage zumindest ansatzweise auch die Vermรถgenssituation betrachtet werden, die im Konzept der Armuts- und Reichtumsmessung keine Berรผcksichtigung findet. Anhand der Indikatoren selbst genutztes Wohneigentum und Vorsorge fรผr das Alter wird deutlich, dass die betrachteten Vermรถgenswerte bei der armutsgefรคhrdeten Bevรถlkerung kaum existent sind.โ€œ

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