Der am Freitag, 2. Oktober, von Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning vorgelegte Trendbericht „30 Jahre Wiedervereinigung“ zeigt auch, wie hart die ersten zehn Jahre für die Leipziger/-innen waren. Nicht nur, dass die Stadt 1990 völlig ramponiert war und der zerrüttete Wohnungsbestand erst aufwendig saniert werden musste. Die meisten Leipziger/-innen erlebten heftige Umbrüche in ihrem Arbeitsleben.
Das zeigt schon die Statistik mit den „Erwerbstätigen nach Wirtschaftszweigen“. Aber leider unvollständig, denn sie setzt erst mit dem Jahr 1991 ein. Da sieht es dann so aus, als wären in der Industrie die Beschäftigtenzahlen nur von 99.000 auf 41.000 zurückgegangen. Was schon heftig genug ist.
Denn das bedeutete nun einmal den Arbeitsplatzverlust für 58.000 Facharbeiter/-innen. Gerade das heftigste aller Jahre ist aber ausgespart. Denn den größten Tiefschlag bekamen die ostdeutschen Industriebetriebe schon am 1. Juli 1990 mit der Wirtschafts- und Währungsunion.
Über Nacht verloren tausende ostdeutsche Betriebe ihr Absatzgebiet und ihre Handelspartner, ihre Produktion verteuerte sich durch die Umstellung auf D-Mark um ein Vielfaches und die späte DDR erlebte Entlassungswellen, die man zuvor überhaupt nicht gekannt hatte.
Alte DDR-Statistiken gehen bei den Beschäftigtenzahlen in der Leipziger Industrie von 122.000 Industriearbeiter/-innen aus. Und nicht vergessen darf man, dass tausende Leipziger auch in die umliegenden Industriegebiete pendelten. Und auch wenn die Arbeitsbedingungen oft genug katastrophal waren, waren die Beschäftigten in der Regel gut ausgebildet. Sie packten in den nächsten Jahren, als sie allesamt erfuhren, dass den abgewrackten alten Betrieben erst einmal keine Neuansiedlungen folgten, ihre Koffer. Um über 100.000 sank die Leipziger Einwohnerzahl.
Und es waren vor allem junge, gut ausgebildete Männer und Frauen, die da weggingen. Es betraf nicht nur die ostdeutschen Provinzen, dass ausgerechnet die Generation, die gerade dran war, eine Familie zu gründen und eine Berufskarriere zu starten, regelrecht verschwand.
Was sich sofort auf dem grundlegendsten aller Felder zeigte: bei den Geburtenzahlen. Auch hier ist die Statistik gekappt und zeigt nur die halbe Wahrheit. Denn die 5.212 Geburten im Jahr 1990 waren längst schon ein Krisenzeichen. In DDR-Zeiten bewegten sich Leipziger Geburtenzahlen eher im Bereich der 10.000.
Dass sie dann in den 1990er Jahren fast auf 2.000 absackten, ist das deutlichste Zeichen dafür, wie sehr wirtschaftliche Abbrüche sich sofort auf die Familienplanungen der jungen Menschen auswirken. Denn wo keine gesicherte Einkommensperspektive besteht, verzichten auch junge Frauen lieber aufs Kinderkriegen.
Dazu kam: Berufswege änderten sich jetzt ebenfalls radikal. War es in DDR-Zeiten normal, nach dem 18. Lebensjahr relativ schnell ins Berufsleben einzusteigen und gleichzeitig eine Familie zu gründen, verschob sich das Erstgebärendenalter in den nächsten Jahren um volle zehn Jahre. Und da liegt es noch heute. Und nicht nur bei Akademikerinnen, für die allein schon die lange Zeit von Studium und Suche nach einer angemessenen Beschäftigung so lange dauert, sondern auch bei Angestellten.
Die Folge war natürlich der bis heute unübersehbare Geburten„knick“ in den 1990er Jahren. Aber es änderte sich auch die Sicht der jungen Menschen auf die Zahl der gewünschten Kinder. Schaffte es die späte DDR immer noch, einen Schnitt von knapp zwei Kindern pro Frau zu erreichen, sank die „zusammengefasste Geburtenziffer“ (Fertilitätsrate) in Leipzig auf den historischen Tiefpunkt von 0,75. Was eben bedeutete, dass die meisten Frauen nur noch ein Kind bekamen, mehr als jede vierte aber überhaupt auf Kinder verzichtete.
Seither ist die Fertilitätsrate zwar wieder über 1,3 gestiegen, erreichte in den Jahren 2015/2016 sogar mal wieder die 1,5. Seitdem aber sinkt sie wieder. Was zu denken geben sollte. Meine These: Jetzt ist es der leergeräumte Leipziger Wohnungsmarkt, der die Familienplanungen (zer-)stört. Denn ausgerechnet die bezahlbaren größeren Wohnungen für junge Familien fehlen.
Der Markt richtet nun einmal nicht alles. Meistens richtet er sogar irreparable Schäden an. Auch an der Demografie.
In der Grafik mit den Schülerinnen und Schülern sieht man dann, wie die Zahl der noch in der DDR geborenen Schülerinnen und Schüler in Leipzigs Schulen dahinschmolz wie Schnee an der Sonne. Erst ab 2009 berappelten sich die Schülerzahlen wieder, eine Zeit, in der Leipzig mit dem Freistaat immer noch darum stritt, welche Schulen (nicht) geschlossen werden sollten.
Ein Ergebnis dieses Nachkleckerns auf Landesebene war leider auch, dass Leipzig viel zu spät die nötigen Gelder bekam, um alte Schulen wieder instandzusetzen und neue zu bauen. Und das, obwohl selbst heute noch nicht wieder so viele Kinder eingeschult sind wie noch 1998. Schließen und Abreißen geht nun einmal schneller als Renovieren und Wiedereröffnen.
Andererseits änderte sich auch das Klima in der Stadt. Das zeigt sogar die Statistik mit den höheren Schulabschlüssen. Machten in DDR-Zeiten gerade einmal 15 Prozent der Jugendlichen das Abitur, stieg der Wert bis heute auf 30 Prozent. Bis 1990 war Leipzig tatsächlich noch eine Arbeiterstadt.
Zehntausende Männer und Frauen fuhren in den Morgenstunden auf Schicht in die qualmenden und rußenden Fabriken. Die Straßenbahnen waren vollgestopft, ächzten in allen Scharnieren und fuhren trotzdem. Sie mussten ja auch den kompletten Berufsverkehr aufnehmen, der heutzutage im Pkw durch die Stadt rollt. Deswegen waren auch nicht bloß – wie heute – 150 Millionen Fahrgäste mit den LVB unterwegs, sondern 270 bis 300 Millionen.
Aber um Verkehr soll es ja hier nicht gehen. Die Grafik mit den Arbeitslosen zeigt sehr deutlich, wie die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit bis 2006 nur einen Weg kannte: immer nach oben. Auf fast 47.000 und eine Quote von 21 Prozent: Jeder fünfte Leipziger Erwerbsfähige war arbeitslos, als Gerhard Schröder auch noch „Hartz IV“ auf das Volk losließ, was auch in Leipzig in den Folgejahren einen riesigen Niedriglohnsektor entstehen ließ. Das wertet der Trendbericht (leider) nicht aus. Aber das ist einer der Gründe dafür, dass trotz ab 2007 deutlich fallender Arbeitslosenzahl die Löhne und Gehälter im Schnitt bis 2012 stagnierten
Neue Jobs entstanden eben nicht nur in den beiden großen Autofabriken im Nordraum, sondern noch viel stärker in Bereichen wie Zeitarbeit, Logistik/Lagerei, in Callcentern und anderen prekären Dienstleistungsbranchen. Das ist sehr schön in der orangenen Kurve in der Grafik „Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen“ zu sehen: Sprunghaft stieg ab 2006 die Kurve bei „Handel, Gastgewerbe und Verkehr“ an.
Zu Verkehr gehört in diesem Fall die komplette offizielle Klassifikation „H“, die neben Verkehr eben auch Lagerei und Frachtumschlag umfasst – also auch solche Unternehmen wie DHL und Amazon. Was zumindest ansatzweise erklärt, warum sich OBM Burkhard Jung mit Händen und Füßen dagegen wehrt, wirklich ernsthaft in Opposition zum Frachtflughafen Leipzig/Halle zu gehen. Es hängen tatsächlich einige tausend Arbeitsplätze daran.
Aber Industrie bedeutet eben nicht nur Beschäftigung, sondern auch Steuereinnahmen. Auch das ist fast vergessen, wie enorm der Leipziger Investitions-Nachholbedarf in den 1990er Jahren war und dass die Stadt das quasi aus nicht existenten Steuereinnahmen bezahlen musste. Der Schuldenberg, der in den ersten zehn Jahren nach der Einheit aufgebaut wurde, kam ja nicht aus dem nichts, hatte auch nichts mit Misswirtschaft zu tun, sondern mit dringend notwendigen Kreditaufnahmen, damit überhaupt in die Sanierung von Straßen, Schulen, Brücken, Verkehrstechnik und all den anderen Infrastrukturen investiert werden konnte, ohne die eine Stadt nicht funktioniert.
Auch in der Schulden- und Steuerstatistik (Grafik oben) fällt auf, dass die Steuereinnahmen der Stadt praktisch erst mit der Betriebsaufnahme bei Porsche und BMW anfingen, spürbar zu steigen – von knapp 300 Millionen Euro 2005 auf fast 700 Millionen im Jahr 2019. Da stecken nicht nur die Gewerbesteuern drin, sondern anteilig natürlich auch die Einkommenssteuern: Wenn die Löhne und Gehälter in einer Stadt endlich steigen, steigen nun einmal auch die Einnahmen aus der Einkommenssteuer.
Die Kurve zu den Schulden der Stadt zeigt dann auch sehr schön, wie deutlich die seit 2006 wirksamen Sparanstrengungen der Stadtverwaltung wirkten – natürlich gewollt und streng beobachtet durch die Landesdirektion. Aber die Haushaltskonsolidierungsprogramme trugen Jahr für Jahr dazu bei, dass zweistellige Millionenkredite abgelöst werden konnten.
Und darauf dürfen die Leipziger allesamt stolz sein. Denn sie waren es, die hier mit Verzicht bezahlt haben. Denn in erster Linie bedeutete das natürlich, dass die Stadt weniger Geld in Schulen, Schwimmhallen, Sportplätze, Parks, Theater, Museen, Brücken, Radwege usw. investierte, als sinnvoll und nötig gewesen wäre. Außerdem wurde ja bekanntlich auch heftig an Personal gespart, sodass die Verwaltung auch bei Planungen massiv in Rückstand kam.
Seit 2008 haben wir Leipziger insgesamt über 400 Millionen Euro an Schulden abbezahlt. Auch in den letzten drei Jahren immer noch, obwohl die Stadt schon lange unter dem Wert der Pro-Kopf-Verschuldung lag, die der Freistaat dereinst als Maximalgrenze angesetzt hatte. Die 1.300 Euro Pro-Kopf-Verschuldung wurde 2014 unterschritten, die 1.000 im Jahr 2017. Zuletzt konnte Leipzig nicht einmal mehr das Geld ausgeben, das es für Investitionen zur Verfügung hatte, weil schlicht die Baufirmen fehlen.
Aber die Statistik zeigt eben auch, dass Leipzig deutlich erholter dasteht als bei der letzten Jubiläumsfeier 2010, ein Jahr, in dem der Dämpfer durch die Finanzkrise noch spürbar war und noch nicht absehbar war, dass die Stadt tatsächlich endlich Tritt gefasst hatte und in den Folgejahren wenigstens in gewisser Weise einige Früchte der langen Schinderei ernten würde.
Bis dann Corona kam.
Aber wie heftig Corona in diesen Entwicklungsprozess tatsächlich eingreift, werden wir wohl wirklich erst in zehn Jahren wissen, wenn 40 Jahre Deutsche Einheit gefeiert werden.
Die Bimmel verliert an Zuspruch, Autos verstopfen die Straßen und das Wetter ist schon ab 1990 viel zu warm
Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir
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