Statistiker sind kühle Rechner, aber keine Hellseher. Sie wissen nicht, wie sich die Welt in den nächsten Jahren verändert. Aber trotzdem wünscht sich die Politik immer neue, möglichst belastbare Prognosen für die Zukunft. Obwohl diese Prognosen tückisch sind. Sie suggerieren eine Aussage über die Zukunft, die aber nur aus Daten der Vergangenheit geschlussfolgert wird unter der seltsamen Annahme: Es geht immer so weiter.
Im neuen Quartalsbericht 1/2020 der Stadt Leipzig beschäftigt sich die Statistikerin Andrea Schultz mit der im Mai vorgelegten neuen, der 7. Regionalisierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamtes, die ja bekanntlich dadurch auffiel, dass sie die Prognosen der Stadt Leipzig aus dem Jahr 2019 bestätigte.
„Die Bevölkerung Leipzigs ist nach starker Schrumpfung in den 1990er Jahren in den letzten Jahren wieder stark gewachsen“, schreibt Andrea Schultz. „Das Statistische Landesamt erwartet, dass die Stadt auch zukünftig wachsen wird. Bis zum Jahr 2035 wird mit einer Zunahme der Bevölkerung um bis zu 15,9 Prozent bzw. um 93.300 Personen auf 681.000 gerechnet. Damit verläuft die weitere demografische Entwicklung der Stadt gegenläufig zu den meisten anderen sächsischen Gemeinden und Kreisen.
Mit Ausnahme der Altersgruppe der 25- bis unter 40-Jährigen wurde für die Stadt Leipzig bis 2035 für alle Altersgruppen und in beiden Varianten ein Anstieg der Bevölkerungszahl errechnet. Sogar die im Freistaat sehr gering besetzte Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen wird in Leipzig um 18,9 Prozent in Variante 1 bzw. 14,8 Prozent in Variante 2 anwachsen. Auch die Zahl der Schulkinder und Jugendlichen (6 bis unter 18 Jahre) wird bis zum Prognosehorizont zwischen 28,4 und 36,2 Prozent zunehmen.“
Was es dann der sparsamen Staatsregierung etwas leichter macht, Leipzig ein bisschen mehr Geld für den Schulhausbau zu geben.
Aber leider nicht, seine Wirtschaftspolitik zu ändern und all die anderen Politiken auch nicht, die allesamt dazu beitragen, die ländlichen Räume abseits der beiden Großstädte Leipzig und Dresden nach und nach von Menschen zu entleeren.
Das heißt: Die falsche Wirtschaftspolitik der vergangenen 20 Jahre ist Bestandteil der Vorausberechnung, auch wenn sie nirgendwo im Zahlenmaterial auftaucht.
Wie die Vorausberechnung zustande kommt, beschreibt Andrea Schultz so: „Methodisch basiert die Bevölkerungsvorausberechnung auf einem deterministischen Ansatz, der sogenannten Kohorten-Komponentenmethode. Auf Grundlage des Bevölkerungsstandes 2018 wird die Bevölkerung unter Berücksichtigung des angenommenen Geburtenverhaltens, der Sterblichkeit sowie der Zu- und Fortzüge von Jahr zu Jahr fortgeschrieben. Die getroffenen Annahmen folgen einem Status-quo-Ansatz. Demnach trifft die Bevölkerungsvorausberechnung Aussagen über Anzahl und Struktur der zukünftigen Bevölkerung, wenn sich die Entwicklung der vergangenen Jahre fortsetzt.“
Das „wenn“ ist das Spannende, das sowohl Sachsen als auch Leipzig in vorhergehenden Berechnungen immer wieder mal kräftig in die Irre geführt hat – die sächsischen Statistiker bekamen in der Regel zu kleine Zahlen heraus, Leipzig 2017 viel zu große. Mal waren die Flüchtlingszahlen ab 2015 nicht erwartet worden, mal wurden die Zuwanderung aus Westdeutschland und die ausbleibende Abwanderung junger Sachsen unterschätzt. Und jahrelang ignorierte die sächsische Statistik auch die enorme Zugkraft der beiden Großstädte, die in einer zunehmend von Infrastrukturen entblößten Landschaft wie Leuchttürme strahlen.
Was daran liegt, dass zwischen elementaren Politikfeldern in Deutschland hohe, fast undurchdringliche Mauern aufgezogen sind. Wirtschaftsminister haben keine Ahnung, wie wirtschaftliche Fehlsteuerungen die Demografie beeinflussen (und sogar die Geburtenzahlen, wie wir in den 1990er Jahren erlebt haben). Verkehrsminister haben keine Ahnung davon, wie falsche Verkehrspolitik die Abwanderung aus ganzen Provinzen beschleunigt, Finanzminister haben keine Ahnung, wie falsche Steuerpolitik die Menschen regelrecht dazu zwingt, den „status quo“ zu verlassen.
Also kommt all das in den Bevölkerungsvorausberechnungen auch nicht vor – weder die absehbare Krise im Autobau noch das Ende der Kohle. Und auch nicht die völlig verfehlte Wohnungspolitik, die die Vorausberechnung der Landesstatistiker jetzt schon aushebelt, weil sie dazu führt, dass Leipzigs Bevölkerungswachstum ausgebremst wird und dafür die beiden Landkreise Nordsachsen und Leipzig wachsen.
Aber besonders schön darf man das Wort „deterministisch“ finden, als wären die interpolierten Zahlen in irgendeiner Weise vorherbestimmt und damit auch unabänderlich und durch eine klügere Politik nicht zu beeinflussen. Obwohl eben das Gegenteil zutrifft: Sie zeigen selbst in der Fortschreibung bis 2035 nur, wohin ein „Weiter so“ einer ziemlich einfältigen Politik führen wird, die 99 Prozent ihrer Kraft auf die Erhaltung eines „status quo“ bündelt, obwohl wir alle wissen, dass nichts so bleiben kann und wird, wie es eben noch war.
Aber das beleuchtet auch einen wesentlichen psychologischen Aspekt von Politik und Wählerverhalten, der in Sachsen schon 1990 mit dem Wahlspruch „Keine Experimente“ Triumphe feierte. Eine erkleckliche Mehrheit der Wahlberechtigten wählt – obwohl alle Erfahrungen dagegen sprechen – zu jeder Wahl eine Partei, die ihnen verspricht, dass die gegebenen Zustände so in die Zukunft fortzuschreiben sind, dass also alles so bleibt, wie die Leute glauben, dass es ist (oder schon immer war). Bis die nächste Überraschung dafür sorgt, dass die alten Vorausberechnungen Makulatur werden und alle sich wundern, wie die kühlen Rechner so danebenliegen konnten.
Auch die Landesstatistiker sagen Leipzig bis zu 660.000 Einwohner im Jahr 2030 voraus
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