Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung kommentiert seine Statistiken nicht groß. Die Zahlen sprechen für sich. Sie erzählen von einem Land, in dem Politiker noch immer glauben, der Mensch an sich sei faul und wer arbeitslos werde, sei selber schuld daran. Und müsse vor allem erst mal zum Sparen verdonnert werden. Damit er das lernt. Auch wenn man von den Hartz-IV-Sätzen in Deutschland nichts sparen kann. Wer damit über die Runden kommt, ist wirklich ein Hungerkünstler.
„Die absolute und relative rechnerische Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) (ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) und Armutsgefährdungsschwelle ist auch 2019 weiter gewachsen“, stellt Paul. M. Schröder fest, nachdem er die neu ermittelte „Armutsgefährdungsschwelle“ für 2019 mit dem parallel geltenden Hartz-IV-Satz verglichen hat.
Ganz unübersehbar haben die Brosamen, die jährlich auf den SGB-II-Regelsatz draufgepackt werden, nichts mehr mit der tatsächlichen Lohn- und Preisentwicklung in Deutschland zu tun. Wie stark Corona im Jahr 2020 zuschlägt, wissen wir noch nicht. Aber die Zahlen von 2005 bis 2019 sind eindeutig.
„In den BIAJ-Materialien vom 15. August 2020 ist dargestellt, wie sich die absolute und relative Lücke zwischen Regelbedarf in der ,Regelbedarfsstufe 1‘ und Armutsgefährdungsschwelle von 2006 bis 2019 entwickelt hat“, schreibt Paul M. Schröder.
„Ein Fazit: Allein bei einem unveränderten relativen Abstand des Regelbedarfs von der Armutsgefährdungsschwelle auf dem Niveau des Jahres 2006 hätte der Regelbedarf in der ,Regelbedarfsstufe 1‘ bis 2019 rechnerisch auf 497 Euro statt lediglich auf 424 Euro steigen müssen. Die wachsende absolute und relative Lücke zwischen Regelbedarf und Armutsgefährdungsschwelle fördert die Armut (bzw. amtlich, die Armutsgefährdung).“
Kein Mensch käme auf die Idee, den Menschen, die in Deutschland hohe Löhne und Einkommen haben, vorzurechnen, wie hoch eigentlich ihr Bedarf zum Leben zu sein hat.
Es hat auch nichts mit Bedürftigkeit zu tun, wenn die Hartz-IV-Sätze berechnet werden. Denn sie sind ein Kunstprodukt. Sie dürfen den tatsächlichen Bedarf eines Haushalts auch nicht decken. So haben es sich auch die Vordenker der Bertelsmann-Stiftung gedacht, die mit keinem Begriff vor 2005 so sehr hausieren gingen wie dem Wort „Lohnabstandsgebot“.
Denn die Höhe der sozialen Absicherung, die Menschen bekommen, die arbeitslos gemacht worden sind, bestimmt die Höhe der Löhne im Niedriglohnsektor. Die liegen meistens – gar nicht überraschend – just in der Nähe der „Armutsgefährdungsschwelle“, also genau dort, wo Menschen, wenn sie wirklich jeden Cent drei Mal umdrehen, geradeso von ihrer Hände Arbeit leben können. Von Teilhabe, Kultur, Rente, Urlaubsflügen oder Luxusanschaffungen kann dort noch lange keine Rede sein.
Bei 1.074 Euro Nettoäquivalenzeinkommen ist man weiterhin darauf angewiesen, dass die Wohnung im sozial verträglichen Mietpreisniveau liegt, keine langen Autoanfahrten zum Arbeitsort notwendig sind und man im Supermarkt die billigsten Angebote kaufen kann. Dann reicht das Geld. Geradeso.
Aber: Man bewahrt sich ein bisschen Würde, denn man lebt ja von seiner eigenen Hände Arbeit.
Und das oft in Branchen, in denen die Löhne problemlos steigen könnten, denn meist handelt es sich um Dienstleistungen, die sich die Auftraggeber doch irgendwo kaufen müssen. Doch es sind oft keine namen- und einflusslosen Auftraggeber. Denn jeder Euro, den sie fürs Bewachen, Putzen, Kochen, Reparieren sparen, bleibt übrig – meist für die Aktionäre, manchmal auch für üppige Managementgehälter.
Entsprechend miserabel ist die Arbeitsatmosphäre. Die Leute, die lieber für 1.000 Euro arbeiten gehen als sich im Jobcenter immer wieder zu erniedrigen, wissen, dass sie ausgebeutet werden. Und dass sie in Deutschland keine Lobby haben. Denn indem sie sich so billig beschäftigen lassen (oft immer noch in Zeitarbeits-Verträgen) sorgen sie dafür, dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen drastisch gesunken sind. Sie kennen den Druck dieses Mechanismus.
Und sie wissen auch, warum sich die Leute, die davon profitieren, mit all ihrer Macht dagegen wehren, dass es in Deutschland ein bedingungsloses oder auch nur bedingtes Grundeinkommen in ausreichender Höhe gibt. Das würde nämlich den Druck auf die Niedriglöhne erhöhen. Viel stärker, als es der Mindestlohn tut, den die SPD so gern als Lösung anbietet.
Der hilft zwar vielen Leuten, endlich in Bereiche zu kommen, in denen ihre Rentenbeiträge auch wirklich ein bisschen nennenswert zur Rente beitragen.
Aber es ändert nichts an den seit 20 Jahren gewachsenen Niedriglohnbereichen. Die in der Regel aus Jobs bestehen, die selbst dann noch ausgeführt werden müssen, wenn die große Wirtschaft strauchelt.
Indem freilich das Arbeitslosengeld II nicht mitwächst mit Lohn- und Preisentwicklung, steigt der Druck auf alle Erwerbssuchenden, auch noch das miserabelste Arbeitsangebot anzunehmen. Übrigens: Vertrauen in die Demokratie baut man so nicht auf. Im Gegenteil. Man bestärkt das Gefühl, dass sich weder Leistung lohnt noch Ausbildung. Und dass man seine Wünsche ans Leben am besten gleich am Jobcenter-Eingang abgibt.
Wächst die Armut in Deutschland oder laufen die Einkommen der besser Bezahlten nur einfach immer weiter davon?
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