Wenn schon eine wirtschaftsnahe Stiftung wie die Bertelsmann Stiftung das Thema Kinderarmut aufgreift, dann muss da hinter den Kulissen der groรen Steuermรคnner etwas Entscheidendes passiert sein, ein Groschen gefallen oder ein Bitcoin. Jedenfalls muss es mรคchtig gescheppert haben und eine Erkenntnis auch die Fรผhrungsetage erreicht haben, dass man mit der dauerhaften Verbannung von Kindern in Armut nicht nur den Wettbewerb zerstรถrt, sondern mittelfristig auch den Wohlstand.
Die Bertelsmann Stiftung formulierte es in ihrer Pressemeldung auch ganz รคhnlich: โNach wie vor รผberschattet Armut den Alltag von mehr als einem Fรผnftel aller Kinder in Deutschland. Das sind 21,3 Prozent bzw. 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18, die oft viele Jahre ihrer Kindheit von Armut bedroht sind. Das ist das Ergebnis eines kombinierten Messansatzes, der sowohl die Armutsgefรคhrdungsquote als auch Kinder im Grundsicherungsbezug berรผcksichtigt.
Die Kinder- und Jugendarmut bleibt trotz der vor der Coronakrise jahrelang guten wirtschaftlichen Entwicklung ein ungelรถstes strukturelles Problem in Deutschland. Damit verbunden sind erhebliche Folgen fรผr das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder.โ
Die Stiftung fokussiert hier wieder auf die Kinder. Noch sitzt der Knoten im Kopf fest, dieses falsche Denken, jeder sei seines Glรผckes Schmied in Deutschland, obwohl auch die Zahlen, die die Bertelsmann Stiftung verwendet, davon erzรคhlen, dass Armut in Deutschland mittlerweile genauso systematisch vererbt wird wie Reichtum. Kinder erhรถhen sogar das Armutsrisiko von Alleinerziehenden, Niedriglรถhnern, aber auch Normalverdienern.
Und einer wurde deshalb schon am Dienstagabend, 21. Juli, stinksauer. So sauer, dass ihm schon gar keine Pointen mehr dazu einfielen. Aber Applaus hat Sebastian Pufpaff fรผr seine Brandrede trotzdem erhalten.
Kinderarmut in Deutschland: Knapp arm ist auch arm I Pufpaffs Happy Hour
โDie Eltern der benachteiligten Kinder und Jugendlichen trifft die Coronakrise besonders hartโ, stellte die Bertelsmann Stiftung noch fest. โSie arbeiten hรคufiger in Teilzeit oder als Minijobber und gehรถren deswegen zu der Gruppe, die als erste ihre Jobs verlieren oder nur vergleichsweise wenig beziehungsweise gar kein Kurzarbeitergeld erhalten.โ
Aber strukturelles Problem heiรt eben auch, dass die Kinder aus einkommensschwachen Familien, wie das so schรถn heiรt, auch in der Schule an den aufgebauten Hรผrden scheitern und frรผhzeitig ausgesiebt werden, meistens schon bei der sogenannten โBildungsempfehlungโ, die im Grunde nichts anderes ist als eine Sortierung in die, die bessere Chancen bekommen, und die, denen die Politik dann ein Leben lang die Rรผckseite zeigt.
โMehr als jedes fรผnfte Kind in Deutschland lebt in Armut โ das sind 2,8 Millionen junge Menschen. Kinderarmut ist auch in Sachsen ein strukturelles Problem: 12,2 Prozent der Kinder waren 2019 von Hartz IV-Leistungen abhรคngig. Ihre Zahl dรผrfte sich durch die Corona-Pandemie erhรถht haben, vor allem wenn Eltern durch die notwendigen Kita- und Schulschlieรungen gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, und dadurch Einkommensverluste erleiden. Eltern in prekรคren und schlecht bezahlten Jobs haben seltener die Mรถglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, Rรผcklagen gibt es selten. Kinder aus armen Elternhรคusern mรผssen infolge der Schulschlieรungen besonders groรe Bildungsverluste verzeichnen, weil die heimische Ausstattung zum Lernen oft nicht ausreichtโ, zรคhlt Susanne Schaper, Sprecherin der Linksfraktion fรผr Sozialpolitik im Sรคchsischen Landtag, alles auf, was zum Lagebild der Bertelsmann Stiftung noch dazugehรถrt.
โIch kann kein nennenswertes Engagement der Staatsregierung feststellen, um Kinderarmut zu verringern. Unsere Forderung, das Kurzarbeitergeld in der Coronakrise aufzustocken, hat die Koalition abgelehnt. Sie streitet auch nicht in Berlin fรผr eine Kindergrundsicherung, wie wir sie schon lange fordern. Fรผr lรคngeres gemeinsames Lernen, das soziale Ungleichheit in den Schulen verringern kann, hat sie sogar hohe Hรผrden aufgerichtet. Kinder haben ein Recht auf ein sorgenfreies Aufwachsen und Chancengerechtigkeit!โ
Und auch Dr. Adam Bednarsky, Linke-Stadtrat in Leipzig, ist alarmiert: โAls wรคren diese Zahlen nicht bereits alarmierend genug, droht sich die Lage in Zeiten von Corona noch zu verschรคrfen. Denn oftmals arbeiten die Eltern benachteiligter Kinder und Jugendlicher in Teilzeit oder als Minijobber. Damit gehรถren sie zu jenen, die als erste ihre Arbeit verlieren oder nur wenig Kurzarbeitergeld erhalten. In Leipzig sind 21,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen. Dabei gibt es groรe stadtteilspezifische Unterschiede: So leben im Zentrum โnurโ 1,6 Prozent in Armut, wรคhrend es in Leipzig-Volkmarsdorf mehr als die Hรคlfte (59,2 Prozent) sind.โ
Am 20. Mai beschloss der Stadtrat deshalb auf Initiative der Fraktion Die Linke die Leipziger Kindercharta.
โSchon zu Beginn der Krise machte unsere Fraktion auf die Wahrscheinlichkeit aufmerksam, dass die Pandemie das Problem der Kinderarmut verschรคrfen kรถnnte. Die Studie der Bertelsmann-Stiftung verdeutlicht einmal mehr, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Darin wird auch die bisher zu geringe Anstrengung kritisiert, gegen Kinder- und Jugendarmut vorzugehenโ, so Bednarsky.
โEine Gesellschaft ist nur so stark, wie sie mit den vermeintlich Schwรคchsten umgeht. Es ist doch selbstverstรคndlich unser aller Wunsch, dass jedem Kind und jedem Jugendlichen in Leipzig ein fairer Start ins Leben ermรถglicht wird. Die Stadt muss auf den Beschluss vom Mai nun schnellstmรถglich Taten folgen lassen!โ
Was eine Kommune wie Leipzig machen kann, ist aber bestenfalls Fรผrsorge und Unterstรผtzung zu organisieren. Sie kann aber das Grundproblem nicht lรถsen, dass sich einerseits viele junge Menschen, die ihre Karriere nicht gefรคhrden wollen, gegen Kinder entscheiden, wรคhrend viele junge Familien, die gar noch mehr als ein Kind haben wollen, schnell zum Sozialfall werden. Die Bertelsmann Stiftung schlรคgt ein Teilhabegeld vor.
Aber auch das klingt wieder nur nach einem Pflaster, ohne dass das Grundproblem angegangen wird: die Herstellung echter Chancengleichheit fรผr alle Kinder, ein Ende der Auslese und Benachteiligung und eine finanzielle Absicherung aller Familien mit Kindern.
Und man darf die Zahlen der Bertelsmann Stiftung auch nicht falsch interpretieren, etwa dass die 1,84 Millionen-Kinder in SGB-II-Bezug in Arbeitslosenhaushalten leben. Denn hier sind auch alle Aufstocker mit enthalten, alle Haushalte, die so wenig verdienen, dass es auch fรผr eine gute Versorgung der Kinder nicht reicht und sie noch SGB II beantragen mรผssen. Dazu kommen dann eben noch 0,99 Millionen Kinder in Haushalten, die kein SGB II bekommen und trotzdem arm sind.
Linksfraktion macht ernst und beantragt eine Kindercharta fรผr Leipzig
Linksfraktion macht ernst und beantragt eine Kindercharta fรผr Leipzig
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