So eine Leipziger Bürgerumfrage macht vieles sichtbar, was mit einiger politischen Klugheit geändert werden könnte. Aber Politik ist nicht immer klug. Oft genug ist sie interessengesteuert. Und wenn es um richtig viel Geld geht, wird sie geradezu undurchschaubar. Das spüren auch die Leipziger/-innen, auch wenn sie ziemlich ratlos den steigenden Mieten gegenüberstehen und immer mehr das dumme Gefühl haben, dass sie sich Wohnen in Leipzig vielleicht bald nicht mehr leisten können.
In der „Bürgerumfrage 2018“ wurden die Bürger auch erstmals zu ihren Zukunftserwartungen gefragt: Welche Entwicklungen erwarten sie in den nächsten zehn Jahren in der Stadt? Sie konnten selbst bestimmen, was sie angaben, ob sie eine gute oder eine schlechte Entwicklung erwarteten.
Aber wahrscheinlich wird all das so nicht eintreten. Niemand kann in die Zukunft schauen. Und die Antworten zeigen sehr deutlich, dass es eher die Gegenwart und ihre Gefahren sind, die die Leipziger/-innen in die Zukunft projizieren. Und da verblüfft es keineswegs, dass 50 Prozent der Befragten die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von Wohnraum als wachsendes Problem sahen. Und das, obwohl 27 Prozent eine positive wirtschaftliche Entwicklung erwarteten (11 Prozent aber auch eine negative).
Aber wirtschaftliche Entwicklung bedeutet eben nicht, dass die niedrigen Einkommen in Leipzig auch entsprechend wachsen.
Da blättern wir in der „Bürgerumfrage“ nämlich einfach mal zurück, dahin, wo nach den demolierten Erwerbsbiografien gefragt wurde. Dort wurde eben nicht nur sichtbar, dass die älteren Erwerbstätigen besonders hart unter der Transformation der 1990er Jahre gelitten haben – die immer wieder neue Erfahrung von phasenweiser Arbeitslosigkeit führt nämlich direkt dahin, dass sie für ihr ganzes Erwerbsleben mit deutlich weniger Einkommen abgespeist werden.
Denn jeder Neueinstieg in einen Job bedeutet eben in der Regel, dass der- oder diejenige wieder bei Null anfangen muss, mit dem untersten Einkommenslevel. Und jedes Jahr Arbeitslosigkeit zusätzlich senkt das monatliche Nettoeinkommen auch im Nachhinein noch um 200 Euro ab.
Und während die Älteren Erwerbsbiografien lauter Flickstellen aus Arbeitslosigkeit haben, erleben viele der Jüngeren die neueren Erfindungen der „Arbeitsmarktreformer“. Wer sich das genauer anschaut, wundert sich nicht mehr, dass die Leipziger/-innen erst mit 30 anfangen, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen.
Ein Viertel von ihnen steckt ausgerechnet in der Zeit nach Studium und Ausbildung in befristeten Beschäftigungsverhältnissen fest. Nicht erstaunlich ist, dass befristete Beschäftigung im Schnitt 254 Euro niedrigere Einkommen bedeutet. Auch qualifizierte und besser bezahlte Jobs sind oft nur befristet.
Und während 18- bis 34-jährige Männer und Frauen mit 21 bzw. 19 Prozent fast gleichauf in befristeten Jobs feststecken, überwiegen solche Beschäftigungsverhältnisse erst bei den 35- bis 49-jährigen Frauen deutlicher (auch wenn sie insgesamt auf 5 bzw. 14 Prozent absinken).
Aber wie wir ja aus der Grafik zur Armutsgefährdung erfahren haben, sorgt gerade diese Unsicherheit bei „jungen“ Familien dafür, dass sich sofort die Armutsgefährdungsquote auf 30 Prozent erhöht. Und das ausgerechnet in einer Zeit, wo sie am dringendsten auf eine gesicherte Finanzierung der Familie angewiesen sind.
Logische Folge: Während 81 Prozent der Befragten in unbefristeter Beschäftigung ihren Arbeitsplatz als (relativ) sicher empfinden, sind es in befristeten Jobs nur 47 Prozent.
Wie sehr so etwas die Zukunftssicht beeinflusst, wird deutlich, wenn man sieht, wer mal wieder die Themen Sicherheit und Verkehr als besonders negativ in der Entwicklung sieht – es sind die 50- bis 64-Jährigen und die 65- bis 85-Jährigen, die mit diesen Themen auch jahrelang die Leipziger Bürgerumfragen dominierten.
Und damit die wirklich brennenden Probleme der nachwachsenden Generationen regelrecht verdrängten. Die erleben jetzt nämlich nicht nur die „schöne neue Arbeitswelt“ mit all ihren eingebauten Unsicherheiten, sie erleben auch, wie sie auf einem Wohnungsmarkt ohne Spielräume immer öfter den Kürzeren ziehen – sich die Wohnungen in der richtigen Größe nicht leisten können und beim nächsten Familienumzug gleich wieder höhere Nettomieten zahlen müssen.
Der Straßenverkehr ist gar nicht ihre Sorge, weil sie sich oft noch nicht an ein bequemes Leben mit Auto (wie die 50- bis 64-Jährigen) gewöhnt haben. Und das Zusammenleben mit Ausländern, das die Senioren immer wieder problematisieren, sehen sie auch nicht als wachsendes Problem.
Wobei die 50- bis 64-Jährigen es auch fertigbringen, den Straßenverkehr einerseits in einer stetigen Verschlechterung zu sehen und gleichzeitig in einer positiven Entwicklung. Kann es sein, dass diese älteren Erwerbstätigenjahrgänge innerlich gespalten sind und völlig divergierende Vorstellungen von einem guten Verkehrssystem haben?
Die einen den Stellplatz für ihr Auto schwinden sehen, während die anderen sehnsüchtig auf bessere S-Bahn-, Straßenbahn- und Radwegeanbindungen warten, ermutigt durch den Stadtratsbeschluss von 2018 zum „Nachhaltigkeitsszenerio“?
Das wurde nicht genauer ausgewertet. Die Statistiker hat dann eher interessiert, wo solche Befürchtungen in der Stadt am größten sind. Und was die Bezahlbarkeit von Wohnraum betrifft, sind die Befürchtungen logischerweise in der Innenstadt am größten. Die größten Besorgnisse um Straßenverkehr und Kriminalität hat man hingegen am Stadtrand.
Aber die Werte sagen eigentlich deutlich genug, wie sehr das Thema bezahlbarer Wohnraum in den vergangenen Jahren unterbewertet wurde. Von der Landesregierung sowieso. Aber auch von der Stadtverwaltung selbst, die das Thema seit zehn Jahren nur zu gern den Immobilieninvestoren überlassen hätte und hat. Mit dem Ergebnis, dass die großen Baufelder, die dafür zur Verfügung stehen, bis heute nicht bebaut sind und „sozialer Wohnungsbau“ nur in so winzigen Dosen passiert, dass man sich fragt, ob die Brisanz eigentlich begriffen wurde.
Erstaunlicherweise tauchten Umwelt- und Klimathemen bei diesen offenen Fragen nur marginal auf – und da auch nur mit 7 Prozent Befürchtungen, dass sie sich verschlechtern werden. Wahrscheinlich braucht es immer erst die mediale Aufmerksamkeit auf ein Thema, damit es auch ins Bewusstsein der Bürger kommt und sie ahnen, wie brisant es ist.
Was zum Wohnungsthema eben auch wieder heißt, dass es nicht erst in Zukunft brennt, sondern jetzt. Schon jetzt (also im Jahr 2018) äußerten 51 Prozent der Befragten, dass sie ihre Miete nicht mehr problemlos bezahlen könnten, wenn diese um 15 Prozent erhöht werden sollte. Wobei die Bürgerumfrage ja auch zeigte, dass 19 Prozent im Jahr 2018 eigentlich schon nicht genug Geld verdienten, um ihre Miete bezahlen zu können. Das kann kein nachhaltig stabiles System sein.
Das Übergewicht der Leipziger nimmt weiter zu und Armut hat fettmachende Ernährung geradezu zur Folge
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