Die Leipziger Nettoeinkommen steigen. Auch das bilden die beiden jรผngeren Bรผrgerumfragen 2018 und 2019 ab. Aber wer nur die Durchschnittseinkommen nimmt, sieht nicht wirklich, was in Leipzig passiert. Denn wรคhrend die persรถnlichen Nettoeinkommen seit Ende der Finanzkrise 2010 scheinbar flรคchendeckend steigen, stagnieren sie in Wirklichkeit bei Schรผlern und Studenten genauso wie bei Soloselbststรคndigen. Und bei รlteren wรคchst die Armutsgefรคhrdung.
Natรผrlich hat das mit einem vรถllig falsch verstandenen Denken รผber Einkommen und (Mindest-)Lรถhne zu tun. Die Diskussionen um die neue, eigentlich winzige Erhรถhung des Mindestlohns und die Grundrente belegen es wieder: Sofort stehen die groรen Lobbyorganisationen der Supereichen wieder auf der Matte und jammern, diese Zuwendungen seien ungerecht, nicht fair.
Deswegen lohnt es sich schon, hinter die scheinbar so zielstrebig wachsenden Einkommen zu schauen, die ja im Median von 1.328 Euro im Monat (2017) auf 1.384 (2018) und nun auf 1.438 Euro gestiegen sind. Median heiรt: Das ist das gemittelte Einkommen aller Fragebogenausfรผller. Die Hรคlfte der Angaben lag drรผber, die andere Hรคlfte drunter.
Die Einkommenskluft zwischen Mรคnnern und Frauen blieb bestehen. Mรคnner hatten im Median 1.585 Euro im Monat zur Verfรผgung, Frauen 1.307. Das kรถnnte weiter daran liegen, dass Frauen mehr Teilzeit arbeiten, vermuten Leipzigs Statistiker. Es kann aber auch daran liegen, dass sie in schlechter bezahlten Berufen tรคtig sind, systemrelevanten.
Die Kluft zwischen Frauen und Mรคnnern sei andererseits kleiner als in anderen (west-)deutschen Stรคdten, so die Leipziger Statistiker. Was die Sache nicht besser macht. Denn in Leipzig mehr noch als in Westdeutschland mรผssen Frauen auch deshalb arbeiten, weil sonst eine Familie nicht finanzierbar ist. Das Einkommensniveau der Mรคnner liegt nรคmlich auch noch deutlich unter dem westdeutscher Mรคnner.
Leipzig ist eine Stadt, in der das Arbeiten mรถglichst in Vollzeit fรผr beide Geschlechter der Normalzustand ist. Bei Paaren mit Kindern ist das Erwerbseinkommen mit 97 Prozent die Hauptquelle des Familienunterhalts. Und seit ein paar Jahren berechnen Leipzigs Statistiker deshalb auch, ob denn die Leipziger damit รผberhaupt hinreichen. Eine Zeit lang galt Leipzig ja als deutsche Armutshauptstadt. Das hat sich geรคndert. Vor allem einige westdeutsche Stรคdte haben mittlerweile hรถhere Armutsquoten.
Die errechnet man anhand des Nettoรคquivalenzeinkommens, also nicht nach Papas Gehaltscheck, sondern nach dem anteiligen Einkommen aller Familienmitglieder, die Kinder mit eingerechnet.
Schon beim Ermitteln dieses Nettoรคquivalenzeinkommens fรคllt auf, wie schon beim Einkommen die Schere in Leipzig auseinandergeht, wie die einkommensstรคrksten 20 Prozent ihr Nettoรคquivalenzeinkommen seit 2008 von 1.578 Euro auf 2.111 Euro im Jahr 2017 und 2.173 im Jahr 2018 steigern konnten, wรคhrend die einkommensschwรคchsten 20 Prozent nur von 725 auf 953 Euro zulegen konnten.
Die einkommensstรคrkere Gruppe profitierte also auch noch รผberproportional von Gehaltszuwรคchsen. Wรคhrend es den Einkommensschwรคcheren nur zum Teil gelang, aus der Armutsfalle zu kommen. 2017 steckten noch immer 22 Prozent (Vorjahr: 21,5 Prozent) der Leipziger in der Armutsfalle fest โ am bundesdeutschen Maรstab gemessen. Das war Rang 13 unter den Groรstรคdten, fรผnf Prozentpunkte hinter Duisburg.
Man kann die Armutsquote aber auch am lokalen Maรstab messen. Da hier die Einkommen im Schnitt niedriger sind als im Westen, liegt auch die sogenannte Armutsgefรคhrdungsschwelle niedriger, umfasst nur noch 17,7 Prozent (16,8 Prozent im Vorjahr) der Leipziger. Daran gemessen aber liegt Leipzig deutschlandweit auf Rang 4. Das heiรt: Wo alle ein bisschen โรคrmerโ sind, ist die errechenbare prozentuale Armut auch geringer. Was an den Kรผmmernissen der Betroffenen nicht viel รคndert.
Die Werte haben sich รผbrigens gegenรผber 2017 verschlechtert. Auch in Leipzig klaffen die Einkommen immer weiter auseinander.
Was das bedeutet, zeigt die Auswertung dazu, wozu das Geld in den Haushalten reicht. Und da merkt man schnell, wie der Autobesitz, Urlaub und Reisen und selbst das Freizeitvergnรผgen vom Geld abhรคngt: Die Hรคlfte der Befragten gibt in diesen Kategorien an, dass das Geld dafรผr (eher) nicht reicht. Sie verzichten also drauf.
Noch viel auffรคlliger ist, wenn รผber 30 Prozent der Haushalte angeben, dass fรผr Kleidung eigentlich nicht genug Geld da ist. 19 Prozent haben Probleme, ihre Miete zu bezahlen, 15 Prozent mรผssen auch noch bei Lebensmitteln knausern.
Das alles hat nicht mehr viel mit den vielen Studenten in Leipzig zu tun, die naturgemรคร noch kein eigenes Einkommen haben.
Das wird deutlicher in der Grafik, in der die Statistiker die Armutsgefรคhrdung nach Alter eingetragen haben (ganz oben). Da fallen zwar Schรผler und Studenten anfangs noch auf. Aber wenn sie in den Beruf einsteigen, sinkt auch ihre Armutsquote sofort. Aber dann, mit Anfang 30, wenn die Leipziger/-innen endlich eine Familie grรผnden kรถnnen, steigt die Armutsgefรคhrdungsquote sofort wieder steil an auf 30 Prozent: Kinder werden also zu einer echten finanziellen Belastung, wรคhrend meist mindestens ein Elternteil im Beruf aussetzen muss.
Da kann man dann auf die ganzen Gelder zur Unterstรผtzung von Familien verweisen. Aber sie reichen sichtlich nicht, um jeder dritten Familie all die รngste zu ersparen, die entstehen, wenn das Geld am Monatsende fรผr die notwendigsten Dinge nicht reicht.
Danach kehren die Leipzigerinnen dann meist sofort wieder in den Beruf zurรผck, verdienen wieder mit und die Armutsquote sinkt deutlich.
Bei den 46-Jรคhrigen aber beginnt sie wieder zu steigen, um dann bei den 58-Jรคhrigen wieder anzusteigen, sodass wieder 30 Prozent der Leipziger kurz vor Renteneintritt arm sind. Wobei das Wort โwiederโ falsch ist. Denn sie haben all die Zeit nicht aufgehรถrt, arm zu sein. Das sind die Jahrgรคnge, die ab 1990 den ganzen Schleuderkurs der Nachwende-Transformation mitgemacht haben, deren Berufsausbildung oft komplett entwertet wurde, die Jahre auf der Wartebank des Arbeitsamtes hinter sich haben, vรถllig lรถchrige Erwerbskarrieren โ und die sich jetzt von den Rotzlรถffeln der Lobbyvereine der Superreichen sagen lassen mรผssen, sie hรคtten ja nicht genug geleistet, um eine Grundrente verdient zu haben.
Ergebnis: Leipzigs Statistiker erwarten in den nรคchsten Jahren einen steilen Anstieg der Altersarmut.
Die Grundrente kรถnnte das auffangen. Sofern die Betroffenen genug Beitrags- und Erwerbsjahre zusammenkratzen kรถnnen.
Aber diese Statistik macht eben auch deutlich, dass Leipzig nach wie vor darunter leidet, dass hier ein Groรteil der Beschรคftigten nach wie vor in schlecht bezahlten und prekรคren Arbeitsverhรคltnissen festhรคngt und kaum Anteil hat an den Einkommenssteigerungen in den oberen Einkommensgruppen. Sie profitieren eher von den eher kleinen Steigerungen im Mindestlohn, der auch 2022 noch nicht ausreichen wird, um eine auskรถmmliche Rente zu begrรผnden.
Der ernรผchternde Blick in die Peanuts-Welt der Leipziger Solo-Selbststรคndigen
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Es gibt 2 Kommentare
Die Frage bezieht sich auf den Einstieg in diesen Artikel:
https://www.l-iz.de/politik/kassensturz/2020/07/Das-Uebergewicht-der-Leipziger-nimmt-weiter-zu-und-Armut-hat-fettmachende-Ernaehrung-geradezu-zur-Folge-338914
Aber die Antwort auf dei Frage findet sich nun in diesem Artikel hier.
Kurze Frage zum Artikeleinstieg an die Redaktion: Auf welche Art und Weise werden Leipziger kรผnstlich arm gehalten? Die genaue Schilderung dieses Vorgehens resp. arm haltens und wer dafรผr verantwortlich ist wรผrde mich interessieren. Danke.