Es lohnt sich immer, die ganzen Coronazahlen noch einmal durch den Wolf zu drehen. Auch dann, wenn die Epidemiologen wieder neue Richtgrößen diskutieren – aktuell ja die Reproduktionszahl R, die zeigt, wie viele andere Menschen ein am Coronavirus Erkrankter ansteckt. Neu ist jetzt auch die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner als neuer Grenzwert, an dem Behörden auf Kreisebene wieder Einschränkungen verhängen sollen. Es geht dabei aber vor allem darum, die niedrigen Infektionszahlen im Griff zu behalten.
Die meisten Medien hielten ihre Leser/-innen und Zuschauer/-innen über Wochen ja mit den bekannten kumulierten Zahlen in Atem, malten exponentielle Grafiken, die beim Betrachten den Eindruck erwecken, dass es immer schlimmer wird und immer mehr Menschen erkranken.
Was ja auch zu dem seltsamen Bild beitrug, das selbst Teilnehmer/-innen der Anti-Corona(maßnahmen)-Demos benannten: Die steigenden Zahlen erzählten von einer Seuche, die immer weiter ausuferte, aber in ihrem direkten Lebensumfeld kennen viele Deutsche bis heute keine Erkrankten. Oder haben sie nicht wahrgenommen.
Denn die Zahlen zeigen ja alles auf einmal: die Toten, die Schwererkrankten auf der Intensivstation, die Leute mit leichten Symptomen in Quarantäne und selbst die längst geheilten.
Das ist der Nachteil solcher summarischen Zahlen: Sie zeigen nicht das Jetzt. Und sie zeigen auch nicht den wirklichen Verlauf der Pandemie, bei der ja in Europa tatsächlich schon über 1 Million Menschen positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Wie solche Zahlen sich binnen weniger Wochen und Monate auftürmen, zeigt die oben abgebildete Grafik von Paul. M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ), auch wenn er sich diesmal auf die (gemeldeten) Todesfälle beschränkt. Sie zeigen natürlich auch in der Summe, wie heftig das Coronavirus in einem Land gewütet hat.
Und damit natürlich auch, wie gut ein Land die Ausbreitung des Virus in den Griff bekommen hat. Und Deutschland war ganz bestimmt nicht das Land, das dabei die restriktivsten Maßnahmen ergriffen hat. Da waren die Regierungen in Spanien, Italien, Griechenland oder Frankreich strenger.
Viel entscheidender war wohl der rechtzeitige Zeitpunkt der Shutdown-Maßnahmen und der Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen.
Wo das nicht gelang, hat das Virus dann regional meist heftig gewütet und sehr viele vor allem ältere und gesundheitlich vorbelastete Menschen sind gestorben. Das ergibt dann im Lauf der vergangenen zwei Monate, in denen alle europäischen Länder mit dem Coronavirus zu tun bekamen, sehr hohe Todesraten (bezogen auf jeweils 100.000 Einwohner) in Belgien, Spanien und Italien. Auch Frankreich, Schweden und die Niederlande sind, wie man sieht, besonders stark betroffen, während Deutschland zwar seit April steigende Todeszahlen meldet.
Aber mit 94 pro eine Million Einwohner war die Todesrate im Vergleich mit den hier verglichenen Nachbarländern deutlich niedriger – auch deutlich niedriger als in Schweden, wo man auf einen mit Deutschland vergleichbaren Shutdown verzichtet hat. Das normale Leben ging mit einigen wenigen Einschränkungen weiter. Aber den Übergriff vor allem auf Altersheime konnte so auch Schweden nicht wirklich verhindern.
Andererseits hofft man in Schweden jetzt, dass man durch dieses Vorgehen gegen eine zweite Welle gut gewappnet ist.
Aber das ist nur ein Aspekt bei diesen Zahlen. Denn die Summierung zeigt natürlich nicht, ob das Virus sich langsamer oder schneller ausbreitet.
Das zeigen nur die aktuellen Zahlen – entweder die der Neuinfizierten, der gerade in Quarantäne oder Behandlungen Befindlichen oder eben der Toten.
Paul M. Schröder arbeitet die aktuellen Totenzahlen in eine eigene Grafik ein. Und auf einmal wird sichtbar, dass alle ausgewerteten Länder den Höhepunkt der Pandemie (erst einmal) hinter sich haben. Man sieht in der Grafik auch, wie die Epidemie in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten zur Ausbreitung kam.
Italien und Spanien waren nun einmal die beiden europäischen Länder, die als erste heftig vom Coronavirus getroffen wurden und wirklich harte Ausgangsbeschränkungen verhängen mussten, um die Ausbreitung zu stoppen. Beide Länder erreichten Anfang April den Gipfel an täglichen Todesfällen. Seitdem ist die Kurve dort deutlich abgeflacht.
Zu dem Zeitpunkt stiegen die Todeszahlen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden erst so richtig an. Die Niederlande konnten den Anstieg eine Woche später eindämmen, den Franzosen gelang es am 10. April, den Belgiern erst am 18. April. Alles Ergebnis von rigiden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen.
Nur in Schweden war ja alles etwas anders. Was dann auch dazu führte, dass dort die Todesraten noch bis Ende April anstiegen – auch wenn die Schweden natürlich nicht so dramatische Verhältnisse wie die Belgier, Italiener oder Spanier erlebten.
Die Kurve der Covid-19-Todesfälle in Deutschland stieg zwar seit Ende März auch an, erreichte aber nie auch nur annähernd das Niveau der anderen Vergleichsländer. Man kann die unterschiedlichsten „nationalen“ Ursachen für die unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie diskutieren. Aber letztlich sprechen die Zahlen dafür, dass es in Deutschland relativ gut gelungen ist, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. Es spricht einiges dafür, dass größtenteils die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt ergriffen wurden.
Wie sich die nun im Mai erklärten Lockerungen auswirken werden, verraten die Zahlen natürlich noch nicht. Der Vergleich aller EU-Länder zeigt dann freilich auch, dass Dänemark und Österreich ähnlich erfolgreich waren bei der Eindämmung der Pandemie, dass es aber auch gerade im Osten Europas viele Länder gibt, die noch niedrigere Todesraten pro Million Einwohner verzeichneten. Darunter auch Rumänien, ein Sonderfall, der eigentlich keiner ist, wenn man die vielen erkrankten Billiglöhner in deutschen Fleischfabriken mitdenkt.
Das Coronavirus hat sich nun einmal da besonders stark ausgebreitet, wo Menschen besonders mobil sind und auf engem Raum zusammenleben. Und es traf vor allem diejenigen ungeschützt, die sich aufgrund ihrer Armut gegen die Ansteckungsgefahr nicht wappnen konnten.
Auf der angegebenen BIAJ-Seite gibt Paul M. Schröder auch noch eine Grafik, die den Anteil der Covid-19-Todesfälle an allen positiv Getesteten zeigt. Auch da fallen die besonders betroffenen Länder auf mit hohen Prozentzahlen, was dafür spricht, dass in den entscheidenden Wochen schlicht das Material für genügend Tests fehlte. Und da findet man dann auch den Vergleich mit den USA und Großbritannien, die ja beide nicht (mehr) zur EU gehören, aber mittlerweile so heftig mit der Pandemie kämpfen, wie es Italien oder Spanien vor einem Monat taten.
Donnerstag, der 14. Mai 2020: Geldnot, Hygiene und Demonstrationen
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