Die Statistischen Ämter der Länder haben jetzt nicht nur die neuen Beschäftigtenzahlen für das Jahr 2019 vorgelegt, sondern auch gleich noch revidierte Zahlen bis 1991 zurück. Aber natürlich war auch dem Sächsischen Landesamt für Statistik besonders wichtig, was 2019 passiert ist. Und auch da stieg die Beschäftigtenzahl in Sachsen, wenn auch nur um etwas lütte 7.000 Personen. Aber das hat (versteckte) Gründe.

Durchschnittlich 2,068 Millionen Erwerbstätige hatten im Jahr 2019 ihren Arbeitsplatz im Freistaat Sachsen – knapp 7.000 Personen bzw. 0,3 Prozent mehr als 2018, meldete das Landesamt am 29. Januar. „Damit wurde das höchste Niveau bei der Erwerbstätigkeit seit dem Jahr 1991 erreicht und mit Ausnahme der Jahre 2009 und 2015 gab es ab 2005 einen permanenten Anstieg. Die aktuelle Entwicklung in Sachsen blieb jedoch hinter dem deutschlandweiten Zuwachs (+0,9 Prozent) zurück und wurde ausschließlich von einem deutlichen Plus bei der Zahl der Arbeitnehmer ohne marginal Beschäftigte geprägt.“

An der Stelle darf man stolpern, sollte man auch. Denn das ist die Stelle, an der die legendäre „Agenda 2010“ des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder in die sächsische Arbeitsstatistik hineinspukt. Die oben abgebildete Grafik zeigt es sehr anschaulich.

Denn diese 2003 beschlossene „Arbeitsmarktreform“ war ja in Wirklichkeit ein ganzes Paket von neuen Gesetzen und Reformen, die vor allem eins zum Ziel hatten: Erwerbsarbeit in Deutschland billiger zu machen, Unternehmen von Arbeitskosten zu entlasten und die Arbeitsuchenden dazu zu bringen, fortan auch Arbeitsangebote anzunehmen, die mit prekär eher verharmlosend umschrieben sind.

Die Effekte sind besonders in zwei Kurven sichtbar: einmal der grauen Kurve, die den rapiden Anstieg der Zahl der Selbstständigen bis 2007 zeigt. Denn welche drakonischen Instrumente sich in dem Reformpaket befanden, das man dann landläufig nach dem Kommissionsvorsitzenden Peter Hartz benannte, sprach sich ja schon vor den verheerenden Parteitagen von SPD und Grünen herum, die es tatsächlich fertigbrachten, der „Agenda 2010“ mit 90 Prozent zuzustimmen. Und so nutzten viele Arbeitslose diese Zeit und auch das Angebot „Ich-AG“, um sich binnen kurzer Zeit selbstständig zu machen.

Dass das alles keine wirklich gewollten und tragfähigen Selbstständigkeiten waren, macht dann der rapide Abfall der grauen Kurve ab 2014 deutlich.

Und ganz ähnlich ist es mit der dunkelroten Kurve der marginal Beschäftigten. Auch hier steigt die Zahl der so Beschäftigten mit der „Hartz“-Gesetzgebung rapide an. Nur dass die hier Beschäftigten in diese Beschäftigungsform nicht flohen, um den drakonischen Gesetzen der frisch gegründeten Jobcenter zu entfliehen. Sie wurden hier mit neuem Druck erst richtig untergebracht. Und die sächsischen Wirtschaftsminister stellten sich breitbrüstig hin und verkauften den Freistaat als besonders attraktives Niedriglohnland.

Entwicklung der Erwerbstätigen nach Bundesländern 2019. Grafik: Statistisches Landesamt Sachsen
Entwicklung der Erwerbstätigen nach Bundesländern 2019. Grafik: Statistisches Landesamt Sachsen

Wie wenig tragfähig dieses „Vermittlungskonzept“ war, wurde schon ab 2007 sichtbar. Man kann keine Wirtschaft auf Niedriglohn und marginaler Beschäftigung aufbauen. Und man kann auch keine Familie darauf aufbauen. Das heißt: Früh schon zeigten sich die Ausweicheffekte, versuchten die so mit marginalen Jobs Abgespeisten wenigstens in eine sv-pflichtige Vollanstellung zu kommen.

Ein Trend, der sich ab 2010 deutlich verstärkte, denn da kamen die halbierten Geburtenjahrgänge der 1990er Jahre in der betrieblichen Ausbildung an und die Unternehmen merkten, dass die schöne Zeit der Billigarbeitskräfte vorbei war. Der Arbeitsmarkt veränderte sich gründlich.

Ab 2010 sieht man den deutlichen Abfall der Kurve der marginal Beschäftigten.

Und das hat auch eine Menge mit der von Sachsens Statistikern beklagten 0,3 zu tun, jenem mickrigen Prozentwert, der Sachsen beim Beschäftigungsaufbau unter den Bundesländern fast am Ende aufschlagen lässt. Aber man findet auch die anderen ostdeutschen Bundesländer da hinten am Schwanz der Tabelle.

Denn sie haben alle unter denselben Effekten gelitten. Mit aller Macht pressten hier die Jobcenter die arbeitslos Gemeldeten mal in Selbstständigkeit, mal in marginale und schlecht bezahlte Beschäftigung, mal auch in Zeitarbeit. Auch das war von der „Agenda 2010“ so gewollt: der massive Ausbau der Leiharbeit.

Wäre auch für die Zeitarbeit eine Kurve ins Diagramm gemalt, würde sie genauso aussehen: rasanter Anstieg bis 2010 und danach stetiger Abfall. Denn natürlich versuchen die klügeren Unternehmen, ihre qualifizierten Zeitarbeiter im Betrieb zu halten. Das gelingt auf einem praktisch leergefegten Arbeitsmarkt aber nur, indem man sie in Vollbeschäftigung übernimmt.

Dieser Effekt ist auch in der Tabelle für 2019 zu sehen: In allen Wirtschaftsbereichen stieg in Sachsen die Zahl der Beschäftigten, nur in zwei Bereichen nicht: einmal der krisengebeutelten Landwirtschaft und zum anderen war es die Kategorie „Grundstücks- und Wohnungswesen, Finanz- und Unternehmensdienstleister“. Und in den „Unternehmensdienstleistern“ stecken die Leiharbeitsfirmen, die ihren Personalstamm nun seit Jahren immer weiter abbauen müssen.

Die Statistiker werten jede Branche noch einmal für sich aus:

Nach Branchen betrachtet, zeigte die aktuelle Entwicklung gegenüber 2018 in Sachsen einen überdurchschnittlichen Anstieg der Erwerbstätigenzahl in Höhe von einem Prozent (rund + 5.000 Erwerbstätige) im Bereich Handel, Verkehr, Gastgewerbe, Information und Kommunikation.

Der Bereich Öffentliche und sonstige Dienstleister, Erziehung und Gesundheit wuchs um 0,9 Prozent bzw. rund 6.000 Personen.

Innerhalb des Produzierenden Gewerbes erhöhte sich die Zahl der Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe um 0,1 Prozent und im Baugewerbe um 0,4 Prozent.

Rückläufig veränderte sich die Erwerbstätigenzahl in der Land-und Forstwirtschaft, Fischerei (aktuell -2,8 Prozent).

Dem gesamtdeutschen Trend folgend verringerte sich auch in Sachsen (neben elf anderen Ländern) die Zahl der Erwerbstätigen im Bereich Grundstücks- und Wohnungswesen, Finanz- und Unternehmensdienstleister um rund 4.800 Personen bzw. -1,4 Prozent im Vergleich zu 2018. Dieser Bereich beinhaltet unter anderem die Arbeitnehmerüberlassung, betonen auch die Statistiker.

Diese Zeitarbeiter wurden freilich nicht entlassen. Sie haben statistisch betrachtet nur die Branche gewechselt und sind jetzt offiziell da gelandet, wo sie schon immer gearbeitet haben – einige im Verarbeitenden Gewerbe, andere in der Dienstleistung.

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Und das erklärt auch den niedrigen Zuwachs in Sachsen. Denn die Unternehmen, die vollwertige Arbeitsplätze anbieten, ziehen die Beschäftigten natürlich ab aus all den durch die „Agenda 2010“ befeuerten marginalen und prekären Arbeitsangeboten. Erst haben sie all die aus der Not zu Selbstständigen gewordenen ehemaligen Beschäftigten wieder aufgesogen, dann lockten sie die marginal Beschäftigten und aktuell bemühen sie sich um all die Zeitarbeitskräfte, die bisher immer nur Gaststatus im Unternehmen hatten. Das entlastete zwar jahrelang die Arbeitskosten. Aber ein Land, in dem es nur noch den halben Berufsnachwuchs gibt, hat gar keine andere Wahl, als all die künstlich geschaffenen Jobs der Niedriglohn-Ära wieder in richtige Vollzeitstellen zu verwandeln.

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