Frankreich streikt. Frankreich rebelliert. Nicht einmal die schönen heiligen Weihnachtstage ließen die Gewerkschaften aus, um zu zeigen, dass ohne Personal nichts rollt und nichts läuft. So aus der medialen Ferne betrachtet, geht es nur um ein paar Renten-Privilegien, die Präsident Macron abschaffen will. Aber wenn man etwas genauer hinschaut, dann wirken Macrons Rezepte für Frankreich ein wenig wie ein verspätetes „Hartz IV“ Nachholprogramm für Frankreich.
Selbst seine Äußerungen klingen vertraut, wenn man an die Töne eines Gerhard Schröder denkt, mit denen der ab 2003 die „Agenda 2010“ durchsetzte. Der „Spiegel“ zitiert zum Beispiel Macrons Äußerung aus der Sonntagszeitung „Journal du dimanche“: „Wenn wir heute keine tiefgreifende, ernsthafte und progressive Reform vornehmen, wird morgen jemand anders eine noch viel härtere durchsetzen.“
Seit über einem Jahr bekommt Emmanuel Macron keine Ruhe, sorgen die Gelbwesten auf den Straßen dafür, dass die Kontroverse nicht einschläft. Angefangen hatte es ja bekanntlich mit Protesten gegen die Erhöhung der Benzinpreise.
Ein Aufruhr, vor dem in Deutschland ausgerechnet die Politiker der bürgerlichen Parteien warnen. Völlig grundlos. Ihre Wähler würden nicht streiken. Nie im Leben. Und die, die steigende Benzinpreise wirklich treffen, weil sie ans magere Haushaltsbudget gehen, würden auch nicht streiken – sie würden nämlich zu Recht darum bangen, dass sie damit Job und Einkommen sofort los sind.
Denn Deutschland ist auf dem Weg, den Macron eingeschlagen hat, nun einmal 16 Jahre weiter. Wahrscheinlich sogar mehr, denn noch hat auch Emmanuel Macron nicht die komplette „Agenda 2010“ übernommen.
Eine Agenda, die dafür sorgt, das Millionen Deutsche – trotz Arbeit – in eine Armutsrente schlittern, die den Namen Rente nicht verdient. Sie werden, nachdem sie ein Leben lang für Magerlöhne geschuftet haben, auch noch mit einer Bettelrente bestraft, für die sie beim Amt – nach dem Willen der CDU – erst einmal ihre Bedürftigkeit aufblättern müssen. Was übrigens heute viele Rentner schon nicht tun – so viel Stolz haben sie noch. Sie verzichten lieber auf die zusätzlichen Kröten und sammeln lieber Flaschen.
Und derzeit sieht es so aus, als würde es 2020 vielleicht die Einführung einer Grundrente geben, mit knapp über 1.000 Euro eigentlich eher eine lächerliche Rente, die in vielen Fällen aber dem entsprechen wird, womit auch viele Ostdeutsche sich in den letzten Arbeitsjahren netto begnügen mussten.
Niederländer und Schweizer bekommen im Schnitt doppelt so viel. Auch weil sich dort die Reichen und Gutverdiener, Beamten und Politiker nicht aus der Solidarität stehlen können, sondern das ganze Rentensystem mitfinanzieren. Und sie haben damit kein Problem. Denn sie haben für gewöhnlich so viel verdient im Leben, dass eine Grundrente für sie bestenfalls ein nettes Zubrot ist.
Deutschland ist kein solidarisches Land. Und dass es sich immer mehr entsolidarisiert hat, hat auch mit Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und den Veränderungen in den Köpfen zu tun, all diesen brachialen Sprüchen, mit denen sich just die Vielverdiener als arme Opfer gerieren. „Leistung muss sich wieder lohnen“, zum Beispiel.
Normale Angestellte und Niedriglohnarbeiter in Deutschland wissen, dass sich Leistung nicht lohnt. Und schon gar nicht belohnt wird – außer mit Überstunden.
Und das macht auch die kleine Grafik deutlich, die Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung (BIAJ) zusammengestellt hat aus Daten von Eurostat für die Jahre 2007 bis 2018. Er hätte auch 2005 beginnen können, dem Jahr, in dem in Deutschland „Hartz IV“ in Kraft trat.
Dann wäre noch deutlicher geworden, was da passiert ist. Denn während Frankreich es geschafft hat, die Quote der Armutsrentner und -rentnerinnen seit 2007 von 13 Prozent auf 8,3 Prozent zu senken, hat Deutschland genau das Gegenteil bewirkt. Hier ist die Armutsgefährdungsquote der Rentner/-innen in dieser Zeit von 16 auf 18,2 Prozent gestiegen.
Zwischenzeitlich war sie sogar gesunken. Aber deutsche Regierungen ticken ja als „Schwarze Null“. Ihnen sind niedrige Steuern für Vermögende wichtiger als stabile Renten, egal, welcher Rentenminister am Rednerpult behauptet: „Die Renten sind sicher“.
Die Pensionen für Staatsbedienstete und Abgeordnete sind es, keine Frage. Und die Renten für Gutverdiener auch. Das Problem fängt da an, wo sich die Absenkung der Rentenpunkte so auswirkt, dass sich 1.200 Euro Bruttoverdienst in 552 Euro Rente verwandeln (46 Prozent). Oder 1.600 Euro (die für viele Sachsen das Normaleinkommen sind) in 736 Euro Rente. Da bleibt dann nur noch der Weg zum Amt.
Und das flaue Gefühl greift in sächsischen Provinzen um sich, auf ganz bürokratische Weise um die Früchte der Arbeit betrogen worden zu sein. Und dann geht der Blick zur Seite, sitzt man Fakenews auf und meint, ausgerechnet die Flüchtlinge seien daran schuld und nicht die Partei, die man seit 30 Jahren treu und brav gewählt hat.
Und dabei ist das Geld da. Es ist ja nicht weg. Im Gegenteil: Es gibt eine Menge Leute, die vom deutschen Wirtschaftsaufschwung seit 2009 profitieren. Das sind nur halt nicht die, die unten am Ende der Skala für knappe Löhne arbeiten und sich immer wieder einreden lassen, ihre Stelle sei ja doch verzichtbar, die könne man ja auch noch nach China exportieren.
Das Geld fließt dorthin, wo sich in Deutschland die großen Vermögen ballen. Im Oktober veröffentlichte ja die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ihren neuen Verteilungsbericht, der für den „Spiegel“ in der Formel fassbar wurde: „Ungleichheit bei Einkommen nimmt wieder deutlich zu“.
Die Grundrente ist dabei nur ein kleiner Teil der Lösung. Der nächste ist schlicht eine gründliche Reform des Rentensystems – aber nicht so, wie sich das die Herren Rürup und Riester einmal gedacht haben, denen völlig unfassbar war, dass Menschen mit deutschen Magerlöhnen schlicht kein „zweites Rentenstandbein“ aufbauen können, das Geld haben sie gar nicht zur Verfügung. Die Lösung kann nur ein solidarisches Rentensystem sein, in das alle einzahlen.
Die Alternative ist ein Deutschland, das politisch völlig aus den Fugen gerät. Nicht mit Straßenprotesten wie in Frankreich. Aber mit brandgefährlichen Wahlergebnissen. Aber dazu braucht man zumindest das bisschen Phantasie, sich die Folgen heutigen Unterlassens in der nahen Zukunft vorzustellen. Die „Schwarze Null“ ist nur ein Symptom dieser Krankheit, Zukunft nicht denken zu können.
Immer mehr verschuldete Rentnerinnen und Rentner suchen Hilfe in der sächsischen Schuldnerberatung
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