Am 28. Oktober verkündete ja das Leipziger Oberbürgermeisterbüro Erstaunliches, gar „Historisches“: „Die Marke ist geknackt: Leipzig hat wieder 600.000 Einwohner“. Im Bürgeramt begrüßte OBM Burkhard Jung persönlich Hallenser Thomas Voigt als nunmehr 600.000sten Leipziger. Die Zahl hing einfach so im Raum. Weiteres statistisches Material wurde nicht geliefert. Dafür wurde ein bisschen orakelt.

„Ab 2007 wieder mehr Einwohner: Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung setzte in Leipzig eine nie dagewesene Bevölkerungsflucht und ein Geburtenrückgang ein. Trauriger Tiefpunkt dieser Entwicklung der Nach-Wende-Jahre war 1998 mit 437.000 Einwohnern. Neue Freiheit wie auch wirtschaftliche Not zogen viele Menschen aus der Stadt hinaus – in die alten Bundesländer oder ins Eigenheim im Umland.

Die Trendumkehr wurde ab 2007 deutlich erkennbar, der Leipzig-Boom strahlte auf das Umland, auf ganz Deutschland und schließlich auf Europa aus. Innerhalb von nur zehn Jahren vergrößerte sich die Stadt um fast 100.000 Menschen – mit den bekannten Wachstumsschmerzen bei Kitas, Schulen, im Verkehr und bei den Mieten.“

Was natürlich Mumpitz ist. Da hat nur jemand versucht, das Bevölkerungswachstum der Stadt mit den beiden Amtsperioden von Oberbürgermeister Burkhard Jung in Einklang zu bringen, der 2006 zum ersten Mal zum OBM gewählt worden war.

Da genügt der Blick in jedes Leipziger Jahrbuch seit 2000, denn seitdem ist das Bevölkerungswachstum in Leipzig wieder nachweisbar und damals endete auch die Abwanderung der 1990er Jahre, die Leipzig allein 100.000 Einwohner gekostet hatte. Dafür machten sich Wanderungseffekte bemerkbar, die Leipzig vor Herausforderungen stellten, die die Stadt mit ihren kargen Sparbudgets eigentlich nicht schultern konnte.

2007 machte sich nämlich etwas ganz anderes bemerkbar: die seit 2001 auch wieder deutlich gestiegenen Geburtenzahlen, die nun auf einmal dazu führten, dass sich in Leipzig ein Mangel an Kita-Plätzen bemerkbar machte. Und sage keiner, dass 2007 umgesteuert wurde. So schnell steuert ein Tanker Leipzig nicht um. Es dauerte rund fünf Jahre, bis Leipzig wirklich ernsthaft in ein Kita-Bauprogramm einstieg, das dem wachsenden Bedarf gerecht zu werden begann.

Dieselbe Verzögerung merkte man dann mit der üblichen Verschiebung bei den Schulen.

Und das alles passierte zu einer Zeit, als auch Burkhard Jung nur vage anzudeuten wagte, dass Leipzig doch mal wieder 600.000 Einwohner haben könnte.

Da war auch an die fünfstelligen Zuwachszahlen ab 2012 noch nicht zu denken. Das Jahr 2018 beendete Leipzig dann – laut Melderegister – mit 596.517 Einwohnern. Von zwischenzeitlich fast 15.000 im Jahr 2015 war der Bevölkerungszuwachs 2018 wieder auf unter 6.000 gefallen. Und für die nächsten Jahre prognostizieren Leipzigs Statistiker nur noch 4.000 zusätzliche Einwohner pro Jahr.

Was zumindest in den Bereich des Möglichen rückt, dass im Oktober tatsächlich der 600.000. Leipziger im Melderegister eingetragen wurde.

Wobei die 4.000 auch nur eine vage Angabe sind. In der Bevölkerungsprognose 2019 schwankt allein der Erwartungskorridor beim Saldo aus Zu-und Wegzügen zwischen 4.347 und 6.782 im Jahr 2020. Der Geburtenüberschuss kommt noch obendrauf.

2018 hatte Leipzig einen Bevölkerungsgewinn von 5.877. Die meisten Zuzügler gab es – wie schon in den Vorjahren – im Herbst.

Der Oktober als Monat, in dem dabei die 600.000er-Schwelle überschritten wurde, wäre demnach plausibel, wenn man auch für 2019 einen Bevölkerungszuwachs um die 5.000 bis 5.500 annimmt. Was nicht abwegig ist. Denn bis zum Stand 30. September attestiert das Landesamt für Statistik Leipzig einen Zuwachs von 2.544 Einwohnern. Ende September hatte Leipzig also schon 599.061 Einwohnerinnen und Einwohner.

Und da auch im Vorjahr allein im vierten Quartal (mit Beginn der Wintersemester an den Hochschulen) Leipzigs Bevölkerungszahl um rund 3.000 anstieg, sind nicht nur die 600.000 im Oktober plausibel. Dann könnten zum Jahresende sogar 602.000 erreicht worden sein.

Zumindest im Leipziger Melderegister.

Amtlich sieht das etwas anders aus, denn seit dem Zensus 2011 klafft eine große Lücke zwischen den Leipziger Melderegisterzahlen und den amtlichen Zahlen des Landesamtes für Statistik, die sich zuletzt stets auf rund 8.600 Personen belief. Weshalb Leipzig ja in der offiziellen Landesstatistik Ende 2018 nur 587.857 Einwohner/-innen hatte.

Sollte die Schätzung von 5.000 bis 5.500 Einwohnern Zuwachs stimmen, dürfte die amtliche Zahl für Dezember 2019 dann wohl 593.000 lauten. Und es würde noch zwei Jahre dauern, bis Leipzig auch in der amtlichen Statistik des Freistaats die 600.000 erreicht.

Aber wie heißt es so schön in der Bevölkerungsprognose 2019? Nichts ist so volatil wie die Zuwanderung. Davon, dass die Zuwanderung aus Sachsen 2018 so überraschend einbrach, waren Leipzigs Statistiker tatsächlich überrascht worden. Obwohl das bei der verkniffenen Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik, der miserablen Geburtenrate in Ostdeutschland und den mittlerweile von jungen Menschen entleerten Regionen eigentlich zu erwarten war.

2018 kam dann noch ein ganz selbst verschuldeter Faktor hinzu: Der viel zu spät und zu zögerlich begonnene (soziale) Wohnungsbau. Man wagt das Wort sozial ja kaum zu benutzen, weil ein Wohnungsangebot, das auch zum hiesigen Einkommensniveau passt, eigentlich nur normal wäre und ganz und gar keine soziale Wohltat.

Aber das ist ein eigenes Thema, das wir auch schon mehrfach behandelt haben.

Jetzt sind wir mal gespannt, wann auch aus irgendeinem der Ämter gemeldet wird, dass Leipzig zum Jahresende 2019 (vielleicht) die 602.000 Einwohner erreicht hat.

Leipzigs Verwaltung rechnet bis 2040 mit 665.000 Einwohnern

Leipzigs Verwaltung rechnet bis 2040 mit 665.000 Einwohnern

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