Eigentlich sollten die Leipziger Medien am Montag, 18. November, alles aus berufenem Munde erfahren. Doch der Termin in der morgendliche Frühe platzte. Die Zahlen zur neuen Bevölkerungsvorausschätzung der Stadt Leipzig gab es dann also nur online im Ratsinformationssystem. Und sie erzählen von einer neoliberalen Gesellschaft, die mit Menschen nichts anfangen kann. Auch deshalb schwächt sich das Leipziger Wachstum ab.
Dass die letzte Bevölkerungsvorausberechnung, die Leipzig im Jahr 2030 in der mittleren Variante 720.000 Einwohner verhieß, so nicht aufgehen würde, war schon 2018 klar. Die Zuwächse im Melderegister entsprachen nicht einmal mehr der untersten berechneten Variante. Nicht nur die Zuzugszahlen blieben zurück, auch die Geburtenzahl erfuhr auf einmal einen Knick. In Pressegesprächen deutete Oberbürgermeister Burkhard Jung deshalb auch mehrfach an, dass er bis 2030 eher mit nur noch 650.000 bis 660.000 Einwohnern rechne.
Was einerseits natürlich eine Entspannung für die Stadtinvestitionen bedeutet, denn das heißt, dass nicht mehr ganz so viele Schulen und Kitas aus dem Boden gestampft werden müssen und dass die Investitionen, die Leipzig auf die Beine bringt, vielleicht geradeso reichen würden, das zu bewältigen.
Wobei auch das nicht so sicher ist, denn Leipzig hängt auch bei den eigentlich geplanten Investitionen zurück.
Erst im Oktober hatte ja Finanzbürgermeister Torsten Bonew vorgerechnet, dass Leipzig von den geplanten 657 Millionen Euro wieder nur 293 Millionen wohl tatsächlich verbaut bekommen würde. Die Gründe sind vielfältig – angefangen bei fehlenden Planern in der Verwaltung über eine zähe Förderpolitik des Freistaats bis hin zu fehlenden Baukapazitäten in der Region. Das jahrelange Heruntersparen hat unübersehbare Folgen.
Aber es fehlt ja nicht nur bei städtischen Bauten.
Direkte Auswirkungen auf das Bevölkerungswachstum hat ja der Wohnungsbau. Das Leipziger Planungsamt rechnet zwar damit, dass die Zahl der neu gebauten Wohnungen 2020 endlich in den Bereich von 3.000 Wohnungen pro Jahr vorstößt.
Aber davon werden nur die wenigsten mietpreisgebundene Wohnungen. Heißt: Viel zu wenige Wohnungen für Leipziger Normal- und Wenigverdiener.
Die Stadt streitet zwar gern ab, dass Leipzig einen knappen Wohnungsmarkt hätte. Aber die Wahrheit ist: Für Normalverdiener gibt es in Leipzig kaum noch bezahlbare Wohnungen. Und das trifft zuallererst junge Familien. Die wandern nämlich schon seit ein paar Jahren ins Umland ab. Seit 2014 schon hat Leipzig mit dem Umland wieder einen negativen Wanderungssaldo.
Was erst einmal kein Problem ist. Auch die angrenzenden Landkreise freuen sich über jeden neuen Bewohner. Und mit der S-Bahn kommt zumindest ein Teil dieser Weggezogenen auch umweltfreundlich zur Arbeit nach Leipzig.
Aber natürlich mindert das wieder den Zuwachs der Leipziger Bevölkerung.
Dazu kommt: Die meisten Regionen im Osten, aus denen Leipzig bislang Bevölkerungszuwachs erzielte, sind quasi ausgeblutet. Dort werden schon seit Jahren immer weniger Kinder geboren, die einmal das Zuwanderungspotenzial für die Großstadt sein könnten. Die Landkreise haben massiv an jungen Leuten verloren. Auch deshalb ist dort die politische Stimmung regelrecht gekippt. Es sind nun einmal Kinder und junge Leute, die einer Region Hoffnung geben. Und nach Leipzig wandern nun einmal die ab, die höhere Berufsqualifikationen oder Hochschulabschlüsse erlangen wollen.
Aber noch ein Fakt dürfte die Statistiker jetzt beim Rechnen erschreckt haben: Die Totale Fertilitätsrate (TFR) ist seit 2016 wieder deutlich gefallen. Hinter der TFR steckt die Anzahl der geborenen Kinder je Frau. Und diese Zahl erzählt davon, wie kinder- und familienfreundlich eine Gesellschaft ist.
Aber Deutschland ist weder kinder- noch familienfreundlich. Es tut nur so. In Wirklichkeit wird gerade jungen Berufsanfängern oft eine Arbeitswelt zugemutet, die mit einer belastbaren Familienplanung und Verständnis für junge Eltern nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
Das Ergebnis: Vom Nach-Wende-Spitzenwert 1,47 stürzte die TFR erst auf 1,45 und dann auf 1,39 Kinder je Frau ab.
So erhält man weder die Bevölkerung eines Landes noch die Zuwächse in einer Stadt wie Leipzig. Als erste Folge ging ja 2018 auch schon die reale Geburtenzahl zurück. Die Statistiker können also künftig nur mit deutlich weniger Kindern rechnen, müssen davon ausgehen, dass ausgerechnet junge Familien nicht in Leipzig bleiben, weil sie hier keine familiengerechte Wohnung finden, und auch das, was 2016 die Prognose in die Höhe getrieben hat, haben die vereinigten Maurer der EU weitestgehend ausgeschaltet: Die Ankunft von Flüchtlingen und Zureisenden von außerhalb der EU.
In der mittleren Variante rechnen Leipzigs Statistiker jetzt bis 2030 mit gerade einmal noch 640.000 bis 650.000 Einwohnern. Über 700.000 könnte es nach ihrer Prognose frühestens 2040 gehen. Und dann auch nur in der optimistischsten Variante. Wenn die tatsächliche Entwicklung jetzt auch noch unter den aktuellen Annahmen bleibt, kommt Leipzig in den nächsten 20 Jahren nicht über 640.000 Einwohner hinaus.
Wohlgemerkt: Unter der Bedingung, dass alles so bleibt und sich an der neoliberalen Spar-und-Aussitze-Politik der Bundesregierung und der EU-Kommission nichts ändert.
Dann bleibt Leipzig zwar – neben Städten wie Berlin und Dresden – im Osten weiter ein Zuzugsmagnet, während die ländlicheren Regionen zunehmend veröden. Aber mit einer vernünftigen Politik hat das alles nichts zu tun. Mit einer, die in irgendeiner Weise eine Zukunft für Deutschland darstellen soll, schon gar nicht. Denn schon jetzt ist ja unübersehbar, wie dieses Aufreißen der Extreme dazu führt, dass ganze Regionen auch politisch kippen.
Und das alles in der knappen Zusammenfassung der Stadtratsvorlage: „Zum Prognosehorizont 2040 wird in der Hauptvariante nun eine Einwohnerzahl von rund 665.000 erwartet. Aus dem oberen und unteren Szenario der Bevölkerungsvorausschätzung ergibt sich ein Korridor der möglichen Bevölkerungsentwicklung, dessen Grenzen im Jahr 2040 bei rund 644.000 und 713.000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegen. Die Stadt Leipzig befindet sich gemäß den Ergebnissen der Bevölkerungsvorausschätzung 2019 weiterhin auf einem Pfad des Bevölkerungswachstums, aber nicht mehr in der rasanten Geschwindigkeit, von der noch 2016 ausgegangen wurde. Der in der Hauptvariante der vorhergehenden Vorausschätzung erwartete Bevölkerungsanstieg auf mehr als 700.000 Personen ist damit weiterhin denkbar, allerdings wird sich dieser Wachstumsprozess über einen längeren Zeithorizont bis zum Jahr 2040 oder darüber hinaus erstrecken.“
OBM Burkhard Jung begrüßt einen Hallenser als 600.000 Einwohner Leipzigs
OBM Burkhard Jung begrüßt einen Hallenser als 600.000 Einwohner Leipzigs
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