Am Mittwoch, 27. November, beglückte die HDI Lebensversicherung AG die Öffentlichkeit wieder einmal mit neuen Umfrageergebnissen in der „Berufe-Studie 2019“. Die eigentlich keine echte Berufe-Studie ist, sondern eher eine, die das Thema Berufsunfähigkeitsversicherung mal wieder unter die Leute bringen soll. Halt eins der Produkte aus dem Hause HDI. Aber man fragte auch ein paar sonderbare Neben-Ergebnisse ab.
Gleich in der Zusammenfassung macht die HDI ihr eigenes Denk-Schisma deutlich: „Wenn Sachsen ihren Beruf verlieren, fürchten sie mehr als die anderen Bundesländer um ihren zentralen Lebensinhalt. Trotz dieser Angst sind die Sachsen im Regionalvergleich am wenigsten bereit, für ihren Beruf den Wohnort zu wechseln.“
Da kommt schon der Vorwurf des Versicherers durch, dass sich die Sachsen nicht so freudig für seine Versicherungsprodukte interessieren.
Aber gleichzeitig stellt die Umfrage etwas fest, was so überhaupt nicht in den Kosmos eines Versicherers passt: Vielen Ostdeutschen ist an der Arbeit nicht wichtig, dass man da viel Geld verdient, sondern dass man damit einen wesentlichen Lebensinhalt hat.
„Der Wunsch nach einer ,Work-Life-Balance‘ ist populär. ,Man sollte arbeiten, um zu leben – nicht leben um zu arbeiten!‘ Sieben von zehn Berufstätigen (71 Prozent) pflichten dieser Forderung bei. Im Arbeitsalltag aber ist gut zwei Drittel von ihnen ihre soziale Anerkennung als Berufstätiger ,wichtig‘ oder sogar ,sehr wichtig‘ (62 Prozent). Besonders ausgeprägt ist das in Ostdeutschland und tendenziell unter jungen Berufstätigen noch intensiver als unter älteren. Wie stark sich die Deutschen insgesamt über Beruf und Einkommen definieren, zeigen weitere Befunde. So gibt mit 42 Prozent der Großteil aller Industrie-Beschäftigten an, ,primär nur wegen des Geldverdienens den Beruf ausüben‘. Bei Handwerkern und Dienstleistern sind es mit 33 Prozent die wenigsten. Regional zählt das Gehalt am meisten in Bayern und NRW. Mehr als jeder Dritte (37 Prozent) arbeitet hier ,nur fürs Geld‘.“
Arme Bayern, kann man da nur sagen. Was soll das eigentlich, ein Leben lang in Berufen zu arbeiten, die einen persönlich nicht befriedigen?
Na ja: Die Folgen kennen wir ja. Die stecken in dieser eiskalten Forderung, die das ganze „Hartz IV“-System bestimmt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“
Wenn nun aber gerade westdeutsche Arbeitnehmer diesen Spruch aus den alten deutschen Arbeitshäusern verinnerlicht haben, dann muss man sich nicht darüber wundern, dass die Verachtung für Menschen, die in unzumutbaren Jobs nicht arbeiten wollen, derart verbreitet ist.
Und die HDI denkt irgendwie auch so, was spätestens deutlich wird, wenn sie den Sachsen jetzt – 29 Jahre nach dem großen Umbruch – immer noch vorwirft, sie würden ihre Heimat der Arbeit wegen nicht verlassen wollen. Das nennen diese Leute nämlich unflexibel – obwohl aus dem Osten über 4 Millionen Menschen abgewandert sind.
„In Sachsen ist die Bereitschaft, für den derzeitigen Beruf den Wohnort zu wechseln, so gering wie sonst nirgendwo in Deutschland. Nur 18 Prozent (Bundesdurchschnitt 29 Prozent) der Berufstätigen sind dazu bereit. Umgekehrt sagen 75 Prozent in Sachsen, dass sie für ein berufsbedingten Wechsel des Wohnorts nicht bereit sind, in Hessen und Hamburg nur 57 Prozent“, stellt die HDI fest. Und setzt gleich noch einen drauf: „In keinen anderen Bundesländern außer Sachsen und Sachsen-Anhalt ist die interessantere berufliche Aufgabe so selten eine Voraussetzung, um einen beruflich bedingten Wohnortwechsel vorzunehmen. 19 Prozent der Berufstätigen (Bundesdurchschnitt 28 Prozent) dort sehen das als Bedingung.“
Die nächsten Aussagen werden dann schon fast verächtlich, zeigen sie doch, wie sehr das neue deutsche Denken über die jederzeit mobilisierbaren Arbeitskräfte auch bei Versicherungen den Ton angibt: „Die schwächsten Befürworter der beruflichen Fort- und Weiterbildung sitzen in Sachsen. Nur 71 Prozent bezeichnen das als ,sehr wichtig‘ oder ,eher wichtig‘ – im Bundesschnitt sind es dagegen 77 Prozent. In keinem anderen Bundesland sind so viele Berufstätige der Meinung, dass sie ihren zentralen Lebensinhalt verlieren, wenn sie ihren derzeitigen Beruf komplett nicht mehr ausüben können. 19 Prozent sind es in Sachsen, im Bundesschnitt 15 Prozent.“
Und dabei überschreibt die HDI die Ergebnisse der Studie selbst mit „Berufstätige beklagen Digitalisierung und härteren Arbeitsmarkt“.
Je älter die Befragten sind, umso weniger sind sie bereit, all die Zumutungen, die heute Arbeitnehmern als selbstverständlich verkauft werden, auch zu akzeptieren: „68 Prozent aller Berufstätigen ab 45 Jahre lehnen es grundsätzlich ab, ihren Lebensmittelpunkt aus beruflichen Gründen zu verlagern. Unter den jüngeren sind es 60 Prozent. Die höchste Wechselbereitschaft zeigen Erwerbstätige im Alter zwischen 20 und 29 Jahren. Immerhin 46 Prozent würden für den Arbeitsplatz auch den Wohnort wechseln. Im Umkehrschluss gilt aber auch hier: 54 Prozent sind ausdrücklich nicht zu einem Wohnortwechsel für ihren Beruf bereit. Im Kontrast zu diesen Ergebnissen steht, dass 77 Prozent der Berufstätigen bis 44 Jahren Fort- und Weiterbildung für wichtig oder sogar sehr wichtig erachten, um sich ständig an Veränderungen im Beruf anzupassen.“
Ja, aber eben nicht für alle Veränderungen. Denn wenn man erst einmal Familie und Hausstand gegründet hat, hört man irgendwann auf, ein stets bereiter Reisekader zu sein, um der Arbeit hinterherzuziehen. Wofür lebt man denn? Dafür, dass Politik und Konzerne sich ihren Fachkräftebedarf per Katalog bestellen können?
Und dass noch mehr Sachsen wegziehen sollen, weil die Politik mittlerweile diese seltsamen Vorstellungen vom Sinn der Arbeit hat? Logisch, dass Sachsen besonders oft sagen: Nein, das reicht jetzt. Wir bleiben hier.
Auch das Mobilisierungs-Denken der Bundespolitik hat seit 1990 in großem Maße dazu beigetragen, dass der Osten derart ausgeblutet ist. Und zum Glück zeigen die Statistiken, dass auch die jungen Berufsanfänger in Sachsen eher nicht abwandern, auch wenn sie ihre Sachen packen und in eine der hiesigen Großstädte ziehen. In Wirklichkeit ist es eine erfreuliche Aussage, dass 75,1 Prozent der Sachsen auch in Sachsen bleiben, um hier ihren Beruf weiter auszuüben.
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