Wenn die Wahlen am 26. Mai etwas gezeigt haben, dann das: Gleichgültigkeit wird in einer Demokratie bestraft. Dann kommen Parteien wie die AfD auf und drohen den Laden aufzumischen. Mit der Unterstützung von Wählern, die von der vorher herrschenden Gleichgültigkeit die Nase voll haben und wollen, dass Dinge anders passieren. Und das bringt auch die anderen Parteien dazu, endlich munterer zu werden. Seit 1990 gab es keine so politische Stadtratswahl in Leipzig wie diese.
Und das kann man ganz allein an der Wahlbeteiligung festmachen. So unrecht haben die bekannten Wahlexperten nicht, wenn sie die Wahlbeteiligung zu einem Gradmesser für Demokratie und politische Teilhabe machen. Je mehr Menschen am Wahltag zur Wahlurne schreiten oder vorher schon per Briefwahl abstimmen, umso lebendiger ist Demokratie, umso mehr müssen sich die antretenden Parteien und Kandidat/-innen anstrengen, ihre Ziele und Anliegen zu erklären, irgendwie hineinzubringen in diese zersplitterte Öffentlichkeit.
Als Maßstab in Ostdeutschland werden meist die Wahlen des Jahres 1990 genannt, als die DDR-Bürger nach Jahrzehnten der Schein-Wahlen endlich richtige Wahlzettel in die Hand bekamen, aus denen sie ihre Wunschkandidaten für die jeweils zu wählenden Parlamente (Volkskammer, Stadtverordnetenversammlung, Landtag, Bundestag) auswählen konnten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten zeigten die Wahlergebnisse tatsächlich die Stimmungslage der Wähler.
Und dann …
Dann schliefen sie alle ein.
Dann zog nicht nur in Leipzig so eine Stimmung ein, als wäre Politik doch wieder nur etwas, was „die da oben machen“ und an dem man als kleiner Bürger so gar nichts ändern könnte. Zur Stadtverordnetenwahl am 6. Mai 1990 gingen tatsächlich noch 70,3 Prozent der Wahlberechtigten auch wirklich zur Wahl.
Das waren zwar schon wieder 20 Prozent weniger als zur Volkskammerwahl im März. Aber die Volkskammerwahl entschied natürlich darüber, wie schnell und mit wem es die Deutsche Einheit geben würde. Das war natürlich eindeutig das Mega-Thema der deutschen Geschichte seit 1949.
Aber Stadtpolitik?
So richtig schienen die Leipziger in den Folgejahren nicht mehr daran zu glauben, dass Stadtpolitik irgendwie wichtig oder interessant sein könnte, dass auf städtischer Ebene überhaupt irgendwelche Entscheidungen gefällt werden könnten, die ihr Leben direkt beeinflussten. Deswegen gewöhnten sich auch die Statistiker in den nächsten Jahren daran, dass die Wahlbeteiligung zu den Stadtratswahlen nicht nur in einen kläglichen Bereich fiel, sondern dort auch noch blieb.
Als wäre es so völlig normal, dass ausgerechnet die Stadtratswahlen viel weniger Interesse auf sich zogen als zum Beispiel Bundestagswahlen. 1994 gingen immerhin noch 57,9 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl ihres neuen Stadtrates.
1999 fiel die Wahlbeteiligung schon auf 42,2 Prozent. Das grenzte schon an ein gelindes Desinteresse. Oder steckte etwas anderes dahinter? 2004 wurde der absolute Tiefpunkt erreicht. Nur noch 38,6 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Wahl. Woran sich auch 2009 mit 41,4 Prozent nicht viel änderte. Und auch 2014 nicht, da waren es auch nur 41,8 Prozent.
Deswegen fällt das Jahr 2019 aus dem Rahmen. Vielleicht liegt es am Auftreten der AfD, die viele Wähler, die vorher in den Das-ändert-ja-doch-nichts-Modus abgetaucht waren, dazu brachte, ihre Kandidaten zu wählen. Vielleicht liegt es auch daran, dass endlich ein paar Themen im Wahlkampf auftauchten, die tatsächlich Ziele für die Stadtpolitik formulierten – man denke nur an das 365-Euro-Ticket. Vielleicht hatten es einige Stadtratsfraktionen durch gute Arbeit in den Vorjahren auch geschafft, den Bürgern der Stadt zu vermitteln, dass es durchaus Fraktionen gibt, die sich richtig ins Zeug legen, um die Stadt lebenswerter zu machen.
Das Ergebnis jedenfalls war beachtlich: 59,7 Prozent der Wahlberechtigten hatten diesmal tatsächlich ihre Stimme abgegeben. Das erinnert an die Wahlbeteiligung von 1994, bevor die damals noch gefeierte „Boomstadt“ in den automatischen Ablaufmodus schaltete.
Das Ergebnis aber erzählt nicht nur vom Aufdrehen der AfD. Denn gerade in den innerstädtischen Quartieren, wo die weltoffeneren Parteien ihre Anhängerschaft haben, sah man das wahrscheinlich auch als ganz persönliche Herausforderung gegenzuhalten. Denn dort wurden die höchsten Wahlbeteiligungen ermittelt: 77,1 Prozent in Schleußig, 75 Prozent in der Südvorstadt, 71,5 Prozent in Connewitz, 72,5 Prozent im Waldstraßenviertel, 70,2 Prozent in Zentrum-Süd.
Nur zwei kleine Wahlkreise am Stadtrand kamen in diese Regionen: Plaußig-Portitz mit 70,8 Prozent und Baalsdorf mit 72,2 Prozent. Die meisten anderen Ortsteile kamen eher auf 50 bis 60 Prozent.
Sehr hoch war die Wahlbeteiligung auch in Lützschena-Stahmeln und Burghausen-Rückmarsdorf, beides Gebiete, die überdurchschnittlich von Fluglärm belastet sind. Hier betrieb die Wählervereinigung Leipzig (WVL) beonders aktiv Wahlkampf, um ihre Kandidaten, die sich das Thema Fluglärm auf die Fahnen geschrieben haben, wieder in den Stadtrat zu bekommen. Was gelungen ist.
Und was zum Grundthema dazu gehört: Wenn Bürger merken, dass man wirklich kämpfen kann – auch für die Themen, die in einer Stadt an der Tagesordnung sind – dann gehen sie auch zur Wahl. Nichts ist schädlicher für die Demokratie als die verbreitete Stimmung, dass ja sowieso alles läuft. Eben das Gefühl, das Politiker in Sachsen seit 1990 so gern verbreiteten. Und sie trafen damit scheinbar eine lang eingeübte Mentalität. Aber das funktioniert vielleicht nicht mehr. Die Wähler sind nicht so politikmüde, wie gern behauptet wird.
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Daß die Wähler “politik”müde seien, wurde m. E. schon länger nicht mehr behauptet. Sie waren “Politiker”müde. Eine Gefahr, die nicht im Geringsten gebannt ist. Vielmehr gab es eine hochgejazzte “Schicksals-Wahl” gegen die AfD. Das ist jedoch kein Wahlprogramm.
Wenn die etablierten Politiker im alten Politik-Muster und -modus stecken bleiben, und dafür spricht derzeit alles (Flughafen, Kiesabbau, WTNK, Forstwirtschaftsplan) dann darf man sich vor der übernächsten Wahl tatsächlich grausen.
Übrigens waren/sind viele Nicht-Wähler keineswegs gleichgültig. Vielmehr gilt für die: Ohne Angebot keine Wahl.