„Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin“, teilt der „Spiegel“ über seinen Kolumnisten mit, der in seinen „Spiegel“-Kolumnen das demonstriert, was man als marktkonforme Wirtschaftslehre bezeichnen kann. Dabei kommt ab und zu so etwa heraus wie am 23. Juni die Kolumne „Die Städte verstopfen, die Dörfer veröden“.
Dass es ein Thema der Zeit ist: Keine Frage. Die Wanderungsbewegungen sind überall in Deutschland nachweisbar, nicht nur in Ostdeutschland. Die ländlichen Regionen entleeren sich, die jungen Menschen ziehen nach Schule und Ausbildung weg, und zwar gerade die mit den höheren Schulabschlüssen. Ihr Ziel sind die großen Städte, wo die Mieten steigen und steigen und steigen.
Aus welcher Schule er kommt, zeigt Müller mit der Aussage: „Der wichtigste Wettbewerbsvorteil der kleineren Städte und des flachen Lands sind die niedrigeren Lebenshaltungskosten, vor allem günstiger Wohnraum. Aus der Perspektive dieser Gegenden sind steigende Mieten und Immobilienpreise in den Großstädten eine Chance. Dadurch erhöht sich ihre relative Attraktivität – für die ansässige Bevölkerung und für potenzielle Zuzügler. Der Preismechanismus wirkt also der immer weiteren Bevölkerungskonzentration in den Ballungsräumen entgegen. Natürlich wäre es illusorisch anzunehmen, dass sich die regionalwirtschaftlichen Fliehkräfte dadurch stoppen lassen, aber sie ließen sich zumindest bremsen. Wer hingegen den Preismechanismus ausschaltet, verstärkt die regionalen Ungleichgewichte zusätzlich.“
Preismechanismus ist hier wieder nur ein Synonym für das unsichtbare Wirken des sogenannten Marktes.
Den es nur in der Theorie gibt.
Was jeder weiß, der in den letzten Jahren umgezogen ist. Denn die jungen Leute, die da umziehen, ziehen nicht wegen der tollen oder teuren Mieten um, nicht mal wegen der besonderen Kulturangebote in den Städten, eher noch der Tatsache wegen, dass die großen Städte noch funktionierende Infrastrukturen haben.
Aber der Hauptgrund ist ein völlig anderer, einer, der für jeden Einzelnen sogar zwingend ist: Die modernen, attraktiven neuen Arbeitsplätze entstehen fast nur noch in den großen Städten. Die sind sogar direkt mit ihnen verknüpft. Unsere ganze Art des Wirtschaftens ändert sich seit ein paar Jahren grundlegend. Was aber augenscheinlich selbst in Wirtschaftsredaktionen nie zusammenfließt: Man schreibt ganze Serien von Artikeln über Wirtschaft 4.0, Künstliche Intelligenz, schnelles Internet und digitale Medien in den Schulen, kriegt aber irgendwie nicht mit, dass das alles dafür sorgt, dass gerade klassische Wirtschaftszweige massiv Arbeitsplätze durch Computer und Roboter ersetzen – allen voran eine hochtechnologisierte Landwirtschaft, noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts der Hauptarbeitgeber in Deutschland, heute zu einem Nischenarbeitgeber geworden, der zwar immer wieder noch Erntehelfer braucht, den Hauptteil der Arbeit aber mit intelligenten Ställen, Melkanlagen und Feldmaschinen abwickelt.
Was tatsächlich wächst, ist die digitale Dienstleistung. Doch diese Unternehmen entstehen nicht auf der Grünen Wiese, sondern bevorzugen technologisch gut ausgestattete Standorte mit besten Verkehrsanbindungen und Nähe zu hochkarätigen Hochschulen. Sie gehen dahin, wo sie ihr technologisches Biotop vorfinden – und dazu gehören dann all die jungen Leute, die in diesem Biotop ausgebildet werden.
Und an der Stelle bringt Müller das unsinnigste aller Argumente: „Kein Bürger hat ein Anrecht darauf, dort, wo er hinziehen möchte, billigen Wohnraum vorzufinden. Junge, gut ausgebildete Beschäftigte sollten von ihren Arbeitgebern Gehaltszuschläge wegen hoher Wohnkosten verlangen – oder sich Jobs in billigeren Gegenden suchen. Studenten müssen nicht nach München, Düsseldorf oder Berlin gehen, sondern können nach Kiel, Bochum oder Greifswald ausweichen.“
Ziemlich direkt verteidigt Müller die Ansicht der großen Immobilienkonzerne, dass sie – weil die Ware knapp wird – jetzt rücksichtslos die Mieten in den Großstädten erhöhen können. Das ist ein ziemlich falsches Verständnis von „Markt“, denn Wohnen ist kein Luxusgut, sondern gehört zur Daseinsvorsorge. Wenn die Immobilienbesitzer über überhöhte Miete den Beschäftigten das Geld abziehen, fehlt das volkswirtschaftlich an anderer Stelle. Es bremst Konsum und Investitionen. Und das Geld landet in völlig unproduktiven Bereichen. Denn ganz offensichtlich bauen auch die großen Immobilienkonzerne davon eben nicht mehr neue Wohnungen, was ja – so die These der FDP – die Mieten wieder stabilisieren würde. Im Gegenteil: Es wird überall zu wenig gebaut. Das hohe Mietniveau animiert nur wenige Bauherren, jetzt in große Neubauvorhaben zu investieren.
Der „Markt“ funktioniert nun einmal nicht so simpel, wie es Müller suggeriert.
Und was machen die jungen Leute? Sie tun schon längst das, was Müller meint, das sie tun sollten. Sie suchen auch im Umland der großen Städte nach Wohnraum, den sie bezahlen können. In München und Frankfurt ist das schon seit Jahrzehnten so zu beobachten – mitsamt dem immer größeren Pendleraufkommen, das die Verkehrsinfrastrukturen an den Rand des Kollapses bringt.
Der Spruch „Kein Bürger hat ein Anrecht darauf, dort, wo er hinziehen möchte, billigen Wohnraum vorzufinden“ ist also nicht nur arrogant, er ist auch ohne Sinn. Er suggeriert, die betroffenen Menschen würden das nicht alles immer wieder durchrechnen: Was kann ich verdienen, wo finde ich eine bezahlbare Wohnung, wie komme ich zur Arbeit?
Es geht nicht um irgendwelche Anrechte. Es geht um das Funktionieren einer neuen Wirtschaftsstruktur. Sicher können die Champions der Digital-Wirtschaft auch so hohe Gehälter zahlen, dass ihre Angestellten sich auch maßlos überteuerten Wohnraum leisten können. Die Effekte sind im Silicon Valley schon längst zu besichtigen. Auch der „Spiegel“ berichtete über den Mietenwahnsinn im Land der Tech-Giganten. Es sind nicht die hochbezahlten Führungskräfte, die sich diese Mieten nicht mehr leisten können. Aber schon bei den Arbeitern im Mittelbau der Unternehmen geht es los, wird das Fehlen bezahlbarer Wohnungen zum Problem. Bei den Menschen in einfach bezahlten Tätigkeiten sieht das Bild schon lange anders aus. Es ähnelt dem in London. Sie sind zum täglichen Pendeln über lange Distanzen zur Arbeit gezwungen.
Dass Müller solche Zustände für normal hält, erzählt eine Menge über seine sehr enge Sicht auf „Markt“ und Wirtschaft.
Es ist eine Zumutung, wenn Mieten dafür sorgen, das Menschen mit normalen Einkommen nicht mehr in der Stadt wohnen können, in der sie eine Arbeit haben. Was sogar die Tech-Giganten begriffen haben: Sie stecken jetzt selbst – wie der „Spiegel“-Beitrag vom 19. Juni berichtet – Milliarden in den Wohnungsbau. Denn es sind die fachkräftehungrigen Unternehmen, die ein sehr hohes Interesse daran haben sollten, dass ihre Angestellten nicht nur bezahlbar wohnen können, sondern auch pünktlich und erholt zur Arbeit kommen und auch ihr Familienleben möglichst reibungslos organisieren können.
Peinlich wird es, wenn genau diese Tech-Konzerne dann lieber ihre Steuern runterrechnen, um ja nicht diesem „gierigen Staat“ das Geld in den Rachen zu werfen. Genau der Staat, dem seit Jahren das Geld fehlt, um genügend mietpreisgestützte Wohnungen zu bauen.
Und weil wirtschaftsnahe Parteien ihnen solche Steuervermeidungen per Gesetz genehmigt haben. Es ist letztlich perfide, den jungen Berufsanfängern vorzuwerfen, sie würden „die Städte verstopfen“ und sie damit verantwortlich zu machen dafür, dass die Dörfer veröden.
Und nur ganz kurz der demografische Exkurs: Die Zeit, in der 80 oder 90 Prozent der Menschen auf dem Dorf wohnten, ist vorbei. Viele ländliche Regionen lassen sich mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht mehr stabilisieren. Dafür lassen sich aber die Suburbias stabilisieren, die Regionen im direkten Einzugsbereich der großen Städte – nämlich mit gut ausgebauten ÖPNV-Netzen, dicht vertaktet, schnell, pünktlich. Wer diese Netze stärkt, stärkt zuallererst auch die ländlichen Regionen im direkten Einzugsbereich der Großstädte. Das wäre der erste und zwingende Schritt. Der aber leider immer noch am sturen „Markt“-Denken vieler Politiker scheitert.
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“Was tatsächlich wächst, ist die digitale Dienstleistung. Doch diese Unternehmen entstehen nicht auf der Grünen Wiese, sondern bevorzugen technologisch gut ausgestattete Standorte mit besten Verkehrsanbindungen und Nähe zu hochkarätigen Hochschulen.”
Etwas Neues auf die grüne Wiese zu setzen wäre tatsächlich Unsinn. Es gibt genügend Gewerbegebiete.
Wenn es um Dienstleistungen und die hierfür erforderliche Infrastruktur geht, erschließt sich jedenfalls nicht ohne weiteres, weshalb dies in der Stadt oder dem Umfeld stattfinden muß. Diese Dienstleistungen benötigen Datenverbindungen, keine Straßen (oder ÖPNV). Hochschulstandorte sind vielleicht noch interessant wegen möglicher Ausgründungen, die gewisse Zeit eine Unterstützung durch die Hochschule benötigen. Doch ansonsten? Warum wollen die Firmen, die so händeringend Arbeitskräfte suchen dorthin, wo sie diese nicht finden? Soll dieses Unvermögen zur Flexibilität noch mit Steuermitteln unterstützt werden, damit die ach so dringend gesuchten Arbeitnehmer den Firmen wie die Nomaden folgen können?