Es ist wie ein kleines Fensterchen, das das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) in die Welt all jener Menschen auftut, die in der klassischen Ökonomie praktisch nicht vorkommen, Menschen, die arm sind und deren Ängste besonders geschürt werden, wenn ihr Land in finanzielle Turbulenzen gerät. Die Panik verursachen zwar andere, aber direkt betroffen sind zuallererst immer diejenigen, deren Einkommen gerade so zum Leben reicht.

Lena Tonzer ist Juniorprofessorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Leiterin der Forschungsgruppe „Regulierung internationaler Finanzmärkte und Banken“ am dortigen Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Sie hat die neue Studie verfasst, die kürzlich in der Fachzeitschrift „The B.E. Journal of Economic Analysis & Policy“ veröffentlicht wurde.

Das Ergebnis, wie sie es sieht, lautet: „Finanzkrisen haben nicht nur starke Verwerfungen im ökonomischen System zur Folge. Sie beeinflussen auch direkt die Lebenszufriedenheit der Menschen. Am stärksten betroffen sind die Schwachen der Gesellschaft, auch wenn diese unter Umständen gar nicht selbst mit Aktien spekulieren. Diese negativen Folgen könnten die Kauflust der Menschen schmälern und die Wirkung der Krise sogar noch verstärken.“

Es sind also nicht nur die in Panik geratenen Aktienbesitzer, die bei kleinsten Zeichen einer Krise beginnen, die Pferde scheu zu machen, die Politiker verrückt zu machen und den Medien einzuhämmern, dass der Staat jetzt bitteschön schnellstens in den Krisenmodus zu schalten habe.

Alle diese Dinge wirken auch auf alle anderen Teile der Gesellschaft. Was als Krisenberichterstattung die Medienkanäle füllt, erzeugt sofort auch psychische Reaktionen. Auch wenn darüber die großbürgerlichen Zeitungen selten bis nie berichten, weil das nicht die Klientel ist, für die sie sich interessieren. Das nehmen sie bestenfalls mal als Gruselmeldung mit auf, wenn „die Schlangen vor den Suppenküchen wieder länger werden“. Wie ein Naturgesetz, gegen das man ja leider, leider so gar nichts machen kann.

Dass das aber Menschen sind, die genauso bewusst wahrnehmen, wenn ihr Leben nicht mehr richtig funktioniert, kommt in diesem Kosmos der Aktienbesitzer nicht vor.

Aber eine höhere Unsicherheit auf dem Finanzmarkt wirkt sich direkt auf die Lebenszufriedenheit der Menschen aus. Was zunächst naheliegend klingt, hat Jun.-Prof. Dr. Lena Tonzer im Rahmen einer empirischen Analyse auch statistisch belegt.

„Dieses Phänomen wirkt verstärkt in Finanzkrisen“, sagt Lena Tonzer. Und eine durchaus bedenkenswerte Feststellung: „Der Effekt trifft vor allem die Schwachen in der Gesellschaft.“ Soll heißen: „Arbeitslose und weniger gut Ausgebildete leiden verstärkt unter der Unsicherheit auf den Finanzmärkten, und zwar auch dann, wenn sie selbst gar nicht mit Aktien spekulieren.“

Grundlage von Tonzers empirischer Analyse bildeten unter anderem die Daten aus den sogenannten Eurobarometer-Umfragen, einer öffentlichen Meinungsumfrage, die von der Europäischen Kommission in regelmäßigen Abständen in Auftrag gegeben wird. Ziel ist es, dabei die Stimmung in den einzelnen Ländern der Europäischen Union (EU) zu erfassen. Dabei werden unter anderem auch Fragen zur Lebenszufriedenheit gestellt.

Auf dieser Basis fand Tonzer unter anderem heraus, dass der Effekt der persönlichen Unzufriedenheit in Zeiten von finanzieller Unsicherheit jeweils in den Ländern am höchsten war, die von der Finanz- und Staatsschuldenkrise am stärksten getroffen wurden: genauer in Spanien, Portugal, Italien, Griechenland und Irland.

Eine solch dezidierte Analyse ist kein Selbstzweck.

„Es ist wichtig herauszufinden, welche Bevölkerungsgruppen besonders betroffen sind. Nur so lässt sich mit politischen Maßnahmen gegensteuern“, erklärt Tonzer. So konnte sie auch Belege dafür finden, dass der beschriebene Effekt in jenen Ländern geringer ausfiel, in denen es ein effektives staatliches Absicherungssystem gibt. Daraus würden sich gleich mehrere Schlussfolgerungen ergeben, stellt Tonzer fest. „Es gibt wirksame Möglichkeiten der politischen Einflussnahme, um negativen Effekten in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Diese sollten genutzt werden, um die Schwachen in der Gesellschaft zu schützen.“

Aber sie forscht doch am IWH in Halle, wo man eher die klassische Ökonomie vertritt. Welche Vorschläge sind in diesem Raster möglich?

Logisch, dass sie einen wesentlichen Hebel ausgerechnet bei den Finanzinstituten sieht.

„Um das Auftreten von Finanzmarktkrisen von vornherein zu vermeiden oder die Einbrüche abzuschwächen, könnten sogenannte makroprudenzielle Politiken eingeführt werden, zum Beispiel der antizyklische Kapitalpuffer. Dahinter verstecke sich nichts anderes, als dass Banken in guten Zeiten mehr Eigenkapital ansammeln, damit sie in schlechten Zeiten einen Puffer haben, um Verluste leichter wegstecken und weiterhin Kredite an die Realwirtschaft vergeben zu können. So habe der Ausschuss für Finanzstabilität des Bundesministeriums der Finanzen erst kürzlich der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht empfohlen, diesen Kapitalpuffer in Deutschland zu aktivieren.“

Wer über das stachelige Wort „makroprudenziell“ gestolpert ist: Es bedeutet Klugheit oder Einsicht. Und wie alle Normalsterblichen wissen, waren die meisten Banken und Finanzmarktakteure davon vor der Finanzkrise 2008 und danach weit entfernt. Es verwundert also nicht, dass der Begriff ausgerechnet über das Englische und den englischen Finanzer-Slang auch ins Deutsche schwappte und sogar laut Duden eingeengt wird auf die „Stabilität des Finanzmarktes“.

Noch die in diesem Fall aus dem Griechischen stammende Vorsilbe „makro“ für „groß“ davor, und man hat einen Begriff, der nach irgendetwas klingt, aber gar nichts beinhaltet. Denn von „Großvernunft“ kann auch heute keine Rede an den Finanzmärkten sein. Die Schwungmasse der wild um den Erdball jagenden Gelder hat sich gegenüber 2008 noch vervielfältigt, von einer vernünftigen Regulation der Finanzmärkte kann keine Rede sein.

Lieber beschließt die AFS dann so eine „Aktivierung der Kapitalpuffer“, wie die BaFin am 27. Mai meldete: „In seiner Sitzung am 27. Mai 2019 in Berlin hat der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) eine Empfehlung an die BaFin beschlossen. Es wird empfohlen, den inländischen antizyklischen Kapitalpuffer (CCyB) ab dem dritten Quartal 2019 zu aktivieren und auf 0,25 Prozent anzuheben.“

Der Glaube, mit solchen Kosmetiken mögliche Finanzkrisen vermeiden oder abmildern zu können, ist augenscheinlich ungebrochen, obwohl solche Krisen eben auch dadurch gekennzeichnet sind, dass gerade Unternehmen und Privatpersonen dann lieber auf jegliche Kreditaufnahme und Neuinvestition verzichten. Auch das so ein verstärkender Faktor für Krisen.

Wirklich gegensteuern kann ein Staat nur, wenn er entweder selbst – richtig antizyklisch – seine Investitionen deutlich anhebt, oder indem er den Menschen mehr Geld gibt, die eh schon weniger zur Verfügung haben, als sie zum (Über-)Leben oder gar Konsumieren brauchen.

Erstaunlich, dass das zumindest andeutungsweise als Vorschlag bei Lena Tonzer auftaucht, wenn auch wieder in der völlig verzerrten Sicht von Leuten, die sich für Leistungsträger halten, die meinen, den Bedürftigen auch noch den letzten Zigarettenstängel vorrechnen zu müssen.

„Ein weiterer wichtiger Punkt sei die Erkenntnis, dass ein soziales Absicherungssystem zwar wichtig ist, es dürfe jedoch nicht auf Kosten einer Erhöhung der Staatsschulden gewährleistet werden. Denn in unsicheren Zeiten sinkt die Lebenszufriedenheit in Ländern mit höheren Staatsschulden tendenziell mehr, was wiederum das System weiter belasten und die Ängste der Menschen zusätzlich erhöhen würde.“

Hier geht es also munter durcheinander, weil im Zentrum der Untersuchung natürlich Länder standen, die nicht nur von der Finanzkrise am härtesten gebeutelt wurden, die aber gleichzeitig (deswegen wurden sie ja so gebeutelt) unter enormen Staatsschulden ächzen. Sie haben schlicht keine Spielräume mehr, um in ihren Sozialsystemen nachsteuern zu können.

Und das lenkt den Blick eben nicht auf die Banken, die eben in Finanzkrisenzeiten alles mögliche sind, nur keine Retter. Sondern auf den Staat als zwangsläufig notwendiges Regulativ, der in Krisenzeiten genug finanziellen Spielraum haben muss, um gegensteuern zu können – mit Investitionen und mit echter Unterstützung für die Pauperisierten.

Und was heißt das in der Schlussfolgerung?

Das, was sich das IWH im jetzigen Zustand genauso wenig wagen wird zu fordern wie INSM und Steuerzahlerbund: Höhere Steuern für die sogenannten „Leistungsträger“. Um nämlich Puffer zu schaffen und im Krisenfall handlungsfähig zu sein.

Aber so weit ist auch Lena Tonzer noch nicht. Sie vermutet viel mehr: „Wenn sie mehr Angst haben, weil sie in eine unsichere Zukunft blicken, kaufen die Menschen vermutlich weniger und sind nicht so investitionsfreudig. Die Folge wäre eine weitere Abwärtsspirale.“

Das erinnert schon fatal an den Spruch, der immer fälschlich der französischen Königin Marie Antoinette in den Mund gelegt wird, der aber von Rousseau stammt und meistens übersetzt wir mit „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“. Eigentlich müsste es statt Brot Brioche heißen: „S’ils n’ont pas de pain, qu’ils mangent de la brioche.“

Nein, die „Schwachen“ kaufen nicht weniger, weil sie sich vor einer „unsicheren Zukunft“ fürchten, sondern weil ihr Geld nur reicht für das Nötigste.

Das Vermutete mag für die Besserverdienenden gelten und die Aktienbesitzer und all die Leute, die eh schon wie verrückt nach einer „sicheren Geldanlage“ suchen, aber nicht für die von Tonzer erwähnten „Schwachen in der Gesellschaft“. Die denken selbst im Normalfall nicht ans Investieren, sondern geben ihr bisschen Geld in der Regel komplett für das Allernötigste aus. Sie fangen nicht auf einmal an zu sparen, weil die Zukunft unsicher aussieht, sondern darben, wenn der Staat auf einmal die Sozialbudgets kürzt.

Man sieht schon: Am Ende sind die „Schwachen in der Gesellschaft“ aus den Lösungsvorschlägen der Forscherin wieder verschwunden, einfach so. Auf einmal steht wieder eine rein neoliberale Behauptung im Raum, dass nämlich „ein soziales Absicherungssystem zwar wichtig ist, es dürfe jedoch nicht auf Kosten einer Erhöhung der Staatsschulden gewährleistet werden“.

Nur zur Erinnerung: Für die Erhöhung der deutschen Staatsschulden um 600 Milliarden Euro auf über 2 Billionen Euro waren nicht die Sozialsysteme verantwortlich, sondern das damalige Rettungsprogramm für die Banken.

In Bezug auf ihre Analyse ist sich Lena Tonzer zumindest sicher: „Es lohnt sich, sich diese weichen Faktoren anzuschauen, denn alles hängt mit allem zusammen.“

Die zweite Satzhälfte stimmt. Die erste aber behauptet etwas, was bei Betrachtung von Staatsfinanzierung nicht standhält: Staatsfinanzierung ist kein „weicher Faktor“, sondern ein harter, der härteste, den man sich vorstellen kann. Und eins stimmt natürlich: Wenn die Krise erst einmal ausgebrochen ist, ist es zu spät, die Staatsfinanzierung auf ein sicheres Fundament zu stellen. Bankenkredite sind übrigens kein sicheres Fundament. Sie sind nur der schnellste Weg, einen Staat in die Schulden zu treiben. Und die „Schwachen“ in der Gesellschaft in Verzweiflung, Armut und Depression.

Veröffentlichung: Tonzer, Lena: Elevated Uncertainty During the Financial Crisis: Do Effects on Subjective Well-being Differ Across European Countries?, in: The B.E. Journal of Economic Analysis & Policy (2019). doi: 10.1515/bejeap-2018-0099.

Basics der Ökonomie: Alles, was Sie schon immer über Wirtschaft, Staat und Steuern wissen wollten

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